Halbseidenes dunkles Wien: 12 Krimis aus der Zwischenkriegszeit (eBook)
250 Seiten
Federfrei Verlag
978-3-99074-152-8 (ISBN)
The Roaring Twenties – die Wilden Zwanzigerjahre – wurden in Wien etwas mehr pomali (gemütlich) als in Berlin zelebriert. Aber Kokain und Morphium gab es dennoch überall und waren noch nicht stigmatisiert. Verbrechen geschahen oft aus der Not heraus, aber viele Kriminelle nutzten die unheilvollen Zeichen der Zeit für ihre Zwecke. Der Ruf nach einem starken Mann wurde unüberhörbar. Aus Deutschland wehte ein immer stärker wehender, unsäglicher Wind herüber. Der Braunauer stand bereits ante portas und wartete nur mehr auf den richtigen Zeitpunkt.
Ein Wiener und Ostfriesland? Wie passt das zusammen? Die Erklärung ist einfach: Die lieben Verwandten. Zwar leben sie in Dänemark, doch durch die vielen Reisen blieb es nicht aus den quasi 'vorgelagerten' Norden genauer unter die Lupe zu nehmen. Selbstverständlich gehört dazu Ostfriesland. Es gibt so viel Magisches, Faszinierendes und Historisches zu entdecken. Vieles für einen Ösi, noch dazu ein Wiener, gänzlich unbekannt. Von Labskaus bis zur christlichen Seefahrt. Wasser hat mich immer schon angezogen. Aber mit Ost- und Nordsee kann die Donau niemals konkurrieren. ...und ich mag fangfrischen Fisch in allen Variationen. Den gibt es allerdings nur im Norden.
Ins Bodenlose
Silvester 1917/18 fällt auf einen Montag und es ist bitterkalt. Einer der schneereichsten Winter in den letzten Jahren beschert der dahinsiechenden Kaiser- und Residenzstadt Wien einen Schneesturm, der das öffentliche Leben nahezu lahmlegt. Viele Straßenbahnlinien fallen aus und um die wenigen noch in Betrieb stehenden Garnituren wird verbissen gekämpft, um noch einen Platz zu ergattern. Wenn gar nichts mehr geht, fährt man auf den Waggonpuffern mit, was äußerst gefährlich ist. Bei einem Absturz landet der illegale Fahrgast mit Glück im Krankenhaus oder schlimmstenfalls am Friedhof.
Kurzfristig setzt Tauwetter ein und die Stadt versinkt im Gatsch.2 Riesige Wasserlachen und Dachlawinen erschweren zusätzlich den Aufenthalt draußen. Zu allem Übel setzt wieder Frost ein und verwandelt Wien in einen Eislaufplatz.
Nicht nur das lausige Wetter drückt die allgemeine Stimmung. Schlag Mitternacht wird es das vierte Neujahr im Krieg sein und die Zukunft sieht düster aus.
In der Hofburg sitzt Kaiser Karl und hadert mit einem Weltkrieg, für den er nichts kann. Anlass waren die tödlichen Schüsse auf Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie am 28. Juni 1914 durch Gavrilo Princip in Sarajewo. Ausgelöst wurde der fürchterliche Krieg durch Karls Vorgänger, dem greisen Franz Joseph I., der am 21. November 1916 verstorben war.
Es sind traurige Weihnachten gewesen. Die wehrfähigen Männer an den Fronten, gefallen oder in Gefangenschaft. Zu Hause die Frauen, die nicht wussten, wie sie der Restfamilie und den Kindern ein halbwegs nahrhaftes Essen auf die Tische stellen konnten. Kaiser Karl bescherte einigen seiner Untertanen Reis auf die Teller, die aus italienischen Beutebeständen stammten, doch das machte das Kraut auch nicht fett.
Und Geschenke? Das war einmal. Vielleicht hat es für eine Holzeisenbahn, einen Teddy, einen Kreisel oder einen Kasperl für den Buben gereicht und für das Schwesterchen ein kleines Püppchen?
Die anfängliche Euphorie bei Kriegsausbruch 1914 ist längst verschwunden. Resignation, Verzweiflung, Elend und Armut machen sich seitdem breit. Zu viele werden sinnlos getötet, sterben während Gasangriffen qualvolle Tode, werden verstümmelt, vegetieren in Gefangenenlagern.
Elsie Altmann-Loos, die zweite Ehefrau des umstrittenen und angefeindeten Architekten Adolf Loos, schreibt über diese Zeit: »…Man hört keine Musik, man sieht keine fröhlichen Farben, alles ist grau und düster. Es ist zwar verboten, für die Gefallenen Trauer[kleidung; Anm. d. A.] zu tragen, aber die Stadt wimmelt von Frauen in dicken Militärmänteln. Das sind die Kriegerwitwen. Der Staat schenkt ihnen den Uniformmantel des gefallenen Gatten, und sie haben das Recht, ihn zu tragen…«.3
Dennoch glimmt ein Fünkchen Hoffnung. Waffenstillstand mit Russland und erste Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk mit dem gefürchteten Iwan. Allerdings passt das nicht den Westmächten. Sie sind gegen einen Friedensschluss in Osteuropa.
Krieg hin, Krieg her. Solange es die Kaffeehäuser gibt, kann die Welt nicht untergehen. Zumindest nicht in Wien. In der Silvesternacht dürfen diese Lokalitäten mit amtlicher Bewilligung sogar bis ein Uhr nachts geöffnet bleiben. Leider gibt es Vieles nicht mehr im Angebot, was ein Wiener Café ausmacht, oder nur auf Bezugsschein, damit muss man leben. Aber »man ist nicht daheim und doch nicht an der frischen Luft«, wie das Wiener Original und Kaffeehausliterat Peter Altenberg zu sagen pflegt.
Trotzdem, so richtig Feierlaune will in dieser Silvesternacht nicht aufkommen. Natürlich spielt das unwirtliche Wetter eine große Rolle. In vereinzelten Etablissements wie im Grabencafé geht es hoch her, der Dämpfer auf die allgemeine Stimmung ist dennoch nahezu greifbar. Das Polizeiaufgebot ist völlig überflüssig. Ein Kordon von Wachleuten, der die Kärntner Straße gegen den Graben sperrt, steht sich unnötig die Beine in die Bäuche und friert.
Dafür hat die Polizei am Neujahrsmorgen 1918 umso mehr zu tun. Es spricht sich herum, dass heute in der Großmarkthalle auf der Landstraße4 serbisches Schweinefleisch um günstige sieben Kronen pro Kilogramm verkauft werden wird.
Noch vor dem Einläuten des Neujahrs versammelt sich eine größere Menschenmenge vor der Halle, die von Stunde zu Stunde anwächst, bis sie schließlich über den Heumarkt bis in die Johannesgasse in den ersten Bezirk reicht. Geschätzte 20.000, so die Polizei. Um fünf Uhr früh öffnen sich die Tore der Markthalle, obwohl das Fleisch erst um sieben Uhr verkauft werden darf. Panik bricht aus, Tumulte, lebensgefährliche Drängereien, Raufereien. Aufgrund der ungeduldigen Riesenmenge gibt es statt zwei nur ein Kilogramm pro Kopf. Dennoch gehen viele leer aus. Erst am frühen Vormittag ist dieses entwürdigende und traurige Spektakel vorbei.
Hunger ist ein ständiger Begleiter. Natürlich trifft es vor allem das Proletariat, die Ärmsten der Armen. So kursieren Postkarten voller Galgenhumor.
Trauer-Anzeige
Schmerzerfüllt machen wir allen Verwandten und Bekannten die tiefbetrübende Nachricht, daß unser lieber, guter, letzter
Brotlaib
im Alter von 8 Tagen nach langem, schwerem Sparen heute Mittag 12 Uhr infolge eines eingetretenen Heißhungers aufgegessen worden ist. Um Brotmarken für die Hinterbliebenen bittet im großen Leibweh.
Emil Kohlendampf August Hunger
Ernst Schmalhans Ida Hunger, geb. Wenigfleisch
Franz Ohnefett Anna Nimmersatt 5
Mit Sicherheit erfährt der spätere Dichter und Schriftsteller Heimito von Doderer nichts von dem turbulenten Neujahrsmorgen in seiner Heimatstadt. Der 21jährige Mann aus wohlhabendem Hause hockt seit zwei Jahren als einer von 100.000 Kriegsgefangenen in seiner Baracke im tiefsten Sibirien im Lager Krasnja Rjetschka in der russischen Mandschurei nahe dem Japanischen Meer. Er wird gut behandelt, kann sich frei bewegen, könnte sogar fliehen. Doch wohin?
Beunruhigende Nachrichten dringen auch bis zu ihm durch. Im fernen St. Petersburg bricht die Revolution aus, die Bolschewisten exekutieren den Zaren und seine Familie.6
Allerdings weiß von Doderer nichts von dem grässlichen Mord, der sich in der Silvesternacht im Gaswerk Simmering7 ereignete. Im Ofenhaus wird die Leiche eines 15jährigen Hilfsarbeiters gefunden. Der Bursche hatte an diesem Tag keinen Dienst, dennoch schlief er dort und nicht wie üblich bei seiner Schwester, weil es im Ofenhaus wärmer war. Sein Schädel ist mit einer Eisenstange zertrümmert worden. Jedoch kein Raubmord, da er sein Geld noch bei sich hatte.
Dafür wurde ihm ein Stück Fleisch aus dem Oberschenkel geschnitten. Offensichtlich ein Fall von Kannibalismus. Im Gaswerk arbeiten 400 Zivilkräfte, aber auch 745 Kriegsgefangene. Mehrheitlich Russen und einige Italiener. Daher wird die Militärpolizei in die Ermittlungen einbezogen. Kurz darauf kommen zwei Russen in Haft. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.8
Knurrende Mägen gehören bei Alt und Jung zum Alltag. Bereits bei Kriegsausbruch 1914 muss man sich an Entbehrungen und Verzicht gewöhnen. Brot und Gebäck aus Weißmehl verschwinden aus den Verkaufsregalen und aus den Körberln auf den Tischen in den Cafés, Wirtshäusern und Restaurants.
Jetzt wird der gewöhnungsbedürftige Kriegsbrotlaib aufgeschnitten. Für lange Zeit gehören resche Kaisersemmeln, Salzstangerln und anderes köstliches Gebäck und Brot der Vergangenheit an. Schon im Oktober 1914 wurde Brot bis zu 30 Prozent mit Mais-, Gersten-, Erdäpfelwalzmehl oder Erdäpfelbrei gestreckt. Jetzt, 1918, sind es zwischen 70 und 80 Prozent. Die Zutaten sind mehr als fragwürdig. Oft genug haben sich Vorratsschädlinge wie Mehlmotte und -zünzler eingenistet; Spreu und Mäusekot sind ebenfalls dabei.9
Lebensmittel sind nur mehr mit Bezugskarten erhältlich. Mütter mit Babys erhalten ab Oktober 1917 mit der Nährmittelzubußenbezugskarte mehr Haferreis. Im gleichen Monat darf mit der Erdäpfelkarte nur mehr ein Kilogramm pro Woche und Person ausgegeben werden. Heimische und ausländische Schlachtviehbestände sind dermaßen reduziert, dass Fleisch seltene Mangelware ist.
Montag, Mittwoch und Freitag sind fleischlose Tage. Es darf weder verkauft noch in Speisen enthalten sein. Für jene, die es sich noch leisten können, kommt das teurere Extremfleisch auf die Teller. Mit billigerem Wohlfahrtsfleisch, meist von Pferden, muss sich das Proletariat begnügen. Der Samstag wird als fettloser Tag eingeführt.
Der Bauernstand kann nicht mehr produzieren, da mehr als die Hälfte der Männer für das Vaterland kämpfen muss. Zugtiere und Saatgut fehlen. Demzufolge sinkt die Milchproduktion auf ein Minimum. In diesem harten Winter sind sämtliche Vorräte längst aufgebraucht. Ungarn will keine Milch liefern, aus...
Erscheint lt. Verlag | 30.5.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
ISBN-10 | 3-99074-152-7 / 3990741527 |
ISBN-13 | 978-3-99074-152-8 / 9783990741528 |
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