Die Legenden der Juden (eBook)
1490 Seiten
Jüdischer Verlag
978-3-633-77054-0 (ISBN)
Die zwischen 1909 und 1938 in Amerika erschienenen Legends of the Jews sind die umfassendste Sammlung traditioneller jüdischer Erzählliteratur in moderner europäischer Sprache. Der große Talmudgelehrte und langjährige Leiter des Jewish Theological Seminary in New York, Louis Ginzberg, hat diese aus einer Vielzahl von jüdischen, aber auch außerjüdischen Quellen der nachbiblischen Zeit zusammengetragen.
Den Legends liegt ein deutschsprachiges Manuskript zugrunde. Die vorliegende Edition des deutschen Originalmanuskripts der Legenden hebt diesen Schatz ans Licht: die Originalfassung von Ginzbergs so bedeutender moderner Gesamtedition der traditionellen jüdischen Erzählliteratur.
Die vorliegende Edition erfolgt auf zweifache Weise: in Printform und in digitaler Form. Die Druckfassung präsentiert den Text des deutschen Manuskripts in Form einer Leseausgabe, die Ginzbergs Sprache und Eigenheit wahrt. Sie beinhaltet zudem einen umfangreichen Kommentarapparat. Die digitale Edition wird auf der Plattform der Bibliothek der ETH Zürich betrieben und soll einen Ausgangspunkt für Forschende bieten. Die Printausgabe und die digitale Edition ergänzen sich damit wechselseitig.<p>Louis Ginzberg,<strong> </strong>1873 im damaligen Russischen Kaiserreich geboren, wurde sowohl in jüdischen Lehranstalten in Litauen als auch in säkularen Wissenschaften in Berlin, Straßburg und Heidelberg ausgebildet. Von der Universität Heidelberg wurde er 1898 mit der Arbeit <em>Die Haggadah bei den Kirchenvätern</em> promoviert. 1899 emigrierte er nach New York, wo seine Karriere am Jewish Theological begann. Ginzberg starb 1953 in New York.</p>
Andreas Kilcher
Louis Ginzberg und Die Legenden der Juden
Die Legenden der Juden, herausgegeben von Louis Ginzberg, einem der größten jüdischen Gelehrten des 20. Jahrhunderts, können als die bedeutendste Sammlung jüdischer Erzählliteratur überhaupt gelten. In dieser umfassenden Anthologie, die in der amerikanischen Ausgabe unter dem Titel The Legends of the Jews zwischen 1909 und 1938 in sieben Bänden erschien, kulminiert die moderne Erschließung einer hauptsächlich auf die biblische Literatur zurückgehenden, über Jahrhunderte weitergegebenen und immer wieder erneuerten und erweiterten jüdischen Erzähltradition. Diese wird auch mit dem hebräischen Begriff der »Aggada« bezeichnet, der als »Erzählung« oder »Sage« übersetzt werden kann; Ginzberg wählte dafür den Titel »Legenden« / »Legends«.
Zu einem Klassiker wurden die Legends of the Jews dabei seit ihrem Erscheinen vor allem in der englischsprachigen Welt. Gedruckt wurden sie durch die »Jewish Publication Society« (JPS) in Philadelphia, den wichtigsten jüdischen Verlag Amerikas, während Ginzberg seit 1902 auf Einladung von Solomon Schechter als Professor für Talmud am Jewish Theological Seminary (JTS) in New York lehrte, wo er als einer der Protagonisten dieser weltweit wichtigsten jüdischen Hochschule seiner Zeit wirkte. Doch Ginzberg – der 1872 als Sohn des Kaufmanns Isaak Ginzberg und Nachfahre des Gaon von Wilna im russischen Kovno geboren wurde, ab 1894 in Straßburg studiert und 1898 in Heidelberg über Die Haggada bei den Kirchenvätern promoviert hatte, um dann noch in demselben Jahr in die USA zu emigrieren –, Ginzberg schrieb die »Legenden« in deutscher Sprache. Dieses deutsche Originalmanuskript lag bis anhin kaum beachtet in Ginzbergs Nachlass am Jewish Theological Seminary, während bis jüngst immer neue englische Ausgaben (zuletzt auch online) sowie Übersetzungen der Legends (u. a. ins Hebräische, Französische, Italienische, Niederländische) erschienen, die den anhaltenden kanonischen Status dieses monumentalen Werks unterstreichen. Es ist demgegenüber allerdings überfällig, dass mit dem vorliegenden Band nun auch das deutsche Originalmanuskript zur Veröffentlichung gelangt.
Zum Verständnis von Ginzbergs Arbeit sowie der vorliegenden Edition des deutschen Originalmanuskripts der Legenden der Juden sind einleitend zwei Fragenbereiche zu beantworten. Zu klären ist erstens der Begriff der jüdischen Erzählliteratur bzw. konkret derjenige der Aggada im Allgemeinen: Was wird in der jüdischen Tradition unter »Aggada« verstanden, wann und wie sind diese Erzähltexte entstanden und welche Schriften werden diesem Korpus zugerechnet, was zeichnet sie aus, welchen Stellenwert haben sie im größeren Kontext traditioneller jüdischer Literatur, und nicht zuletzt auch: Wie wurde dieses vormoderne Korpus jüdischer Erzählliteratur auch und gerade in der jüdischen Moderne neu erschlossen und gedeutet? Zu klären ist zweitens Ginzbergs Aggada-Projekt im Besonderen: Wie ist dieses jahrzehntelange Vorhaben in Ginzbergs intellektueller Biographie verortet, wie ist es entstanden und wer hat an dem Projekt, etwa bei der Übersetzung ins Englische, mitgearbeitet, sowie vor allem auch: Was zeichnet das deutsche Originalmanuskript der Legenden der Juden inhaltlich aus? Was sind seine leitenden Voraussetzungen und seine Neuerungen gegenüber älteren sowie analogen Editionen?
Form und Geschichte der jüdischen Erzählliteratur (Aggada)
Um zu verstehen, was in der jüdischen Tradition als »Literatur« im Allgemeinen und als »Aggada« im Besonderen gelten konnte, sind zwei Begriffspaare hinzuzuziehen: zum Ersten dasjenige von »schriftlicher Tora« und »mündlicher Tora«, zum Zweiten dasjenige von »Halacha« und »Aggada«.
Eine der grundlegenden Vorstellungen des rabbinischen Judentums ist diejenige der zwei Torot. Die literarische Überlieferung ist gemäß der jüdischen Tradition zwar zunächst von den biblischen Schriften her zu verstehen, namentlich der Tora, den fünf Büchern Mose, sowie von den weiteren Schriften des Tanach, der kanonisierten hebräischen Bibel, wie die »Propheten« (Nevi'im) und die »Schriften« (Ketuvim), zu denen unter anderem die Psalmen, Gleichnisse, das Hohelied, Kohelet, die Klagelieder, Daniel und die Chronik (Divre Hajamim) zählen. Gemäß einer traditionellen Deutung der Offenbarung der Bibel, die ihrerseits als Legende überliefert ist, wurde Moses die Tora am Berg Sinai aber nicht nur in schriftlicher Form übergeben, sondern zugleich auch in mündlicher Form, bzw. gemäß den hebräischen Begriffen nicht nur als »schriftliche Tora« (תורה שבכתב), sondern auch als »mündliche Tora« (תורה שבעל פה).[1] Diese Erzählung von der Übergabe der Tora findet sich auch in Ginzbergs Legenden, genauer in den Passagen zur mosaischen Offenbarung der Tora am Sinai. Dort heißt es, dass Moses auf dem Berg Sinai während vierzig Tagen die Tora studierte, bzw. genauer: »Das Studium Moses' während der vierzig Tage war so eingeteilt, dass Gott bei Tage mit ihm die schriftliche Lehre studierte und nachts die mündliche.« (S. 895) Als »mündliche Tora« gilt genauer die Auslegung und Überlieferung der Offenbarung Moses, die ursprünglich in mündlicher Form tradiert bzw. nicht aufgeschrieben werden sollte, wobei das Schreibverbot später kontrovers diskutiert wurde.[2] Mit der Entfaltung und Ausbreitung des rabbinischen Judentums durch die Gelehrtenschulen der Tannaiten (die Gesetzeslehrer der Mischna im 1. und 2. Jh.) und der Amoräer (die Deuter der mündlichen Tora im 3. bis 5. Jh.), in und über den Raum zwischen Babylon und Palästina hinaus, wurde die Vorstellung der Mündlichkeit teils als Postulat aufgestellt bzw. aufrechterhalten. Dennoch wurden die Überlieferungsbestände der sogenannten »mündlichen Tora« zunehmend auch verschriftlicht. Der Großteil der entsprechenden Texte ist in eben diesen Schulen und Akademien des rabbinischen Judentums entstanden und in umfangreichen Textkonvoluten wie Mischna, Tosefta, Talmud und Midrasch auch verschriftlicht überliefert. Die Rede von der Mündlichkeit der Tora kann dabei zunehmend auch als Vorstellung bzw. Postulat verstanden werden, insofern sie von der Schriftlichkeit der geoffenbarten Tora unterschieden werden soll. Während der Begriff der schriftlichen Tora gewissermaßen die Potentialität der Offenbarung meint, wird als mündliche Tora die immer neue Aktualisierung jener Potentialität des geoffenbarten Textes in immer neuen Auslegungen und Kommentaren in unterschiedlichen historischen Kontexten bezeichnet.
Diese beiden Erscheinungsformen der Tora und ihre Korrelation wurden auch metaphorisch umschrieben: als zwei »Feuer«. Demnach wurde die Tora mit »weißem Feuer« auf »schwarzem Feuer« geschrieben.[3] Das weiße Feuer der schriftlichen Tora meint die Tora als unerschöpfliche Möglichkeit, das schwarze Feuer dagegen die Artikulation, Lesbarmachung und Ausdeutung jenes amorphen Weiß in den schwarzen Formungen der Buchstaben. Dieses Bild nutzte beispielsweise der französische Kabbalist Isaak der Blinde (ca. 1160-1235) zur Behauptung der mündlichen Tora: »Und so kann die schriftliche Tora keine körperliche Form annehmen, es sei denn durch die Kraft der mündlichen Tora, d. h. sie kann ohne diese nicht wahrhaft verstanden werden.«[4] Tradition ist demnach keineswegs durch die schriftliche Tora vom Sinai alleine gestiftet, sondern auch und vor allem durch ihre fortwährende Auslegung und Kommentierung. Anders gesagt: Die absolute Sprache der Offenbarung, die mit unendlichem Sinn erfüllte Langue der schriftlichen Tora, wird erst in der Parole der gesprochenen Sprache der mündlichen Tora als Überlieferung verständlich.
Zur »mündlichen Tora« gehört letztlich das gesamte nachbiblische Schrifttum des Judentums seit der Spätantike, das sich mehr oder weniger direkt auf die Schriften der Bibel bezieht und diese – im Sinne der Tannaiten und der Amoräer – übersetzt, wiederholt, erneuert und ausdeutet. Namentlich handelt es sich dabei um folgende...
Erscheint lt. Verlag | 7.3.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Märchen / Sagen |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Judentum • Legenden • neues Buch • Sagen |
ISBN-10 | 3-633-77054-2 / 3633770542 |
ISBN-13 | 978-3-633-77054-0 / 9783633770540 |
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