Dorian Hunter 93 (eBook)
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7517-3062-4 (ISBN)
»Euer Leben besitzt Anfang und Ende. Der Zyklus eurer sterblichen Existenz besteht aus Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Der Tod ist euer Erlöser. Nach einem kurzen, erbärmlichen Leben, das vom Leiden der niederen Kreatur erfüllt ist, zerfallen eure Körper zu Staub. Der Wind treibt eure Überreste in alle Richtungen davon. Die Bilder eurer Jugend vergilben, und die Zeugnisse eurer einstigen Kraft verblassen. Die Kleinodien eures Lebens setzen Patina an. Erinnerungen lösen sich auf, und die Zeit geht über euch hinweg.
Meine Existenz aber kennt weder die Erlösung noch die mildtätige Kraft des Vergessens. Ich bin ewig, und die Ewigkeit ist meine Kerkermeisterin. Deshalb hasse ich euch!« - Ys-Dahuts Gesänge der Ewigkeit
Während Dorian das Geheimnis um seine Lebensuhr gelüftet hat, war Martha Pickford in der Jugendstilvilla dem Einfluss des Spiegels aus Ys ausgeliefert - mit dramatischen Folgen, denn plötzlich häufen sich überall auf der Welt unheimliche, rätselhafte Erscheinungen ...
2. Kapitel
Dorian Hunter war verschwunden.
Es geschah selten, dass sich der Dämonenkiller nicht bei seinen Freunden meldete. Sonst wussten sie, in welcher Gegend er sich gerade aufhielt oder welche Ziele er verfolgte. Diesmal war es anders. Dorian blieb verschollen. Kein Anruf, kein Brief, gar nichts.
Castillo Basajaun lag friedlich im Licht der Herbstsonne. Das Laub der Bäume raschelte im Wind. Es hatte sich goldgelb verfärbt. In der Ferne ballten sich Regenwolken zusammen.
Das Schloss bestand nur noch aus dem Hauptgebäude, dessen Grundriss u-förmig war. Die Vorderfront war knapp achtzig Meter lang. Der vierkantige Burgfried war in der Mitte des Innenhofes, überragte das Hauptgebäude. Ganz oben konnte man die Funkantenne erkennen, die sich im Wind wiegte.
Obwohl Castillo Basajaun mit allen Errungenschaften der modernen Technik ausgestattet war, erweckte das Schloss einen düsteren, unheilvollen Eindruck. Die finstere Vergangenheit hatte dem Bauwerk ihren Stempel aufgedrückt. Es ließ sich nicht mehr sagen, ob die Schandtaten der Inquisition daran schuld waren oder das grausame Wirken des Manuel Etzarch de Alicante. Wenn man den schweren Türklopfer betätigte – er bestand aus einem bronzenen Drachen –, dann wurde ein dumpfer Widerhall ausgelöst, der sich durch das unterirdische Gewölbe fortpflanzte.
Man hätte Castillo Basajaun für eine Festung dämonischer Satanisten halten können. Doch das Gegenteil war der Fall. Hier lebten und arbeiteten Dorian Hunters Freunde. Castillo Basajaun war ebenso wie die Jugendstilvilla in London ein Hort der weißen Magie.
Im linken Trakt waren die Büros der Gemeinschaft untergebracht. Hier befand sich die Telefonzentrale. Im rechten Trakt lagen die Forschungsräume. Dort wurde auch der Zyklopenjunge Tirso unterrichtet. Diese beiden Zentren von Castillo Basajaun befanden sich jeweils im ersten Stock. Von hier aus hatte man einen Blick auf die Schotterstraße, die durch das Valira del Norte führte. Genauer gesagt, zwischen Ordina und El Serrat. Hideyoshi Hojo stand am Fenster. Er starrte in den goldenen Herbst Andorras hinaus und runzelte die Stirn. Weder ein Wagen noch ein Fußgänger kam über die alte Straße nach Castillo Basajaun.
»Yoshi«, wie seine Freunde ihn nannten, war Japaner. Man hatte sich an ihn gewöhnt. Nicht, dass er sich ungewöhnlich oder exzentrisch verhalten hätte – aber als Vertreter der fernöstlichen Mystik gab er der Dämonenjagd oft ungewöhnliche Akzente. Seine Methoden waren unkonventionell und muteten oft skurril an. Von den klassischen Dämonenbannern des Abendlandes hielt er nicht viel. Weihwasser und Kruzifixe waren für ihn nichts anderes als begrenzt wirksame Symbole.
Plötzlich ging die Tür auf. Obwohl Yoshi den Näherkommenden nicht zu Gesicht bekam, rief er: »Schlechte Nachrichten aus London, nicht wahr, Abi?«
Der breitschultrige Däne blieb überrascht stehen. »Kannst du Gedanken lesen, Yoshi?«
Langsam drehte sich der Japaner um. Abraham »Abi« Flindt überragte ihn genau um fünfundzwanzig Zentimeter. Gegen den Dänen war Yoshi ein Winzling. »Ich konnte das Rattern des Faxgeräts bis hierher hören ...«
Abraham Flindt lächelte. Er war blond und besaß hellblaue Augen. Er bewunderte die feinsinnige, sensible Art des Japaners. »Die anderen sind ganz aus dem Häuschen ...«
»Weil Dorian verschwunden ist?«
»Nein«, erwiderte Abraham Flindt gedehnt. »In London scheint der Teufel los zu sein. Es geht um diese merkwürdige Vision. Alle Zeitungen sind voll davon. Trevor Sullivan konnte sich das Phänomen genauso wenig erklären wie wir.«
»Hat er irgendwelche Andeutungen gemacht?«
Im Gesicht des Japaners spiegelte sich unverhohlene Neugier. Seine Augen zogen sich zusammen und verliehen ihm ein katzenhaftes Aussehen. »Dem Text war zu entnehmen, dass die Erscheinung in London häufiger als anderswo zu beobachten war.« Hideyoshi Hojo ging an dem Dänen vorbei.
»Wir sollten sofort in London anrufen. Die Angaben, die durchs Fax gekommen sind, bringen uns nicht weiter. Womöglich braucht man unsere Unterstützung in London.«
Abi Flindt schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Ich mache mir natürlich auch Sorgen über Dorians Verschwinden. Aber ich will nichts überstürzen. Vielleicht sehen wir zu schwarz. Ich bin der Meinung, wir sollten die weitere Entwicklung abwarten.«
»Dorian muss in London sein«, warf der Japaner ein. »Wenn uns jemand darüber informieren kann, dann sind es bestimmt Trevor Sullivan oder Martha Pickford in der Jugendstilvilla.«
Die beiden ungleichen Männer verließen den Raum und gingen zur Telefonzentrale. Im Gang hingen alte, teilweise schon rissige Ölgemälde der Alicantes.
Ira Marginter wählte bereits zum dritten Mal die Nummer der Jugendstilvilla. Sie hob bedauernd die Schultern, als sie Yoshi und Abi hereinkommen sah. Mit einer koketten Bewegung warf sie ihr volles blondes Haar in den Nacken.
»Heute ist der Teufel in der Leitung ...«
»Den sollten wir aus dem Spiel lassen, Ira«, warf Abi sarkastisch ein. »Versuch's lieber noch einmal, sonst vergeht der liebe Yoshi noch vor Sorgen.«
»Jetzt klappt's«, rief Ira erfreut und deutete auf die Zusatzhörer. Abi und Yoshi griffen danach. Es dauerte fast eine halbe Minute, bis abgehoben wurde. Am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand. Ira, Yoshi und Abi hörten nur den schweren Atem einer Frau.
»Martha!«
Das Atmen verstärkte sich. Die Anwesenden sahen sich erstaunt an. Jeder spürte instinktiv, dass in London irgendetwas nicht stimmte.
»Martha!«, rief Ira Marginter erneut in die Sprechmuschel. »So melden Sie sich doch! Hier spricht Ira Marginter im Castillo Basajaun!«
Plötzlich vernahmen die Anwesenden schrilles Gelächter.
»Martha ... Ist irgendetwas passiert? So reden Sie doch!«
Das Lachen verstummte. Die Frau räusperte sich. Jeder wusste, dass Miss Martha Pickford am anderen Ende der Leitung stand.
»Martha – wir sind aus dem Fax nicht ganz klug geworden. Können Sie uns mehr über diese geheimnisvolle Vision verraten?«
»Vision?«, war Miss Pickfords erstes Wort. Ihre Stimme klang sanft und freundlich. »Ja, die Zeitungen sind voll davon. Aber so was sollte man nicht allzu ernst nehmen. Es gibt wichtigere Dinge im Moment ...«
»Was zum Beispiel?«, hakte Ira Marginter nach.
»Ich bin eine Schönheit.«
Abi und Yoshi sahen sich grinsend an. Sie kannten Miss Pickford. Oft genug hatten sie die alte Dame ein verrücktes Huhn genannt. Doch dass sie überschnappen konnte, damit hatten sie nicht gerechnet.
»Ich bin eine blonde Schönheit«, flötete Miss Pickford am Telefon. »Ich habe mich in Dorians Wunderspiegel gesehen ...«
»Wunderspiegel?«, echote Ira Marginter.
»Na, ihr wisst doch, was ich meine ... Diesen merkwürdigen Spiegel, den Dorian im Golf von Morbihan aus dem Meer fischte. Ich trage ihn seitdem bei mir. Er ist wundervoll. Ich kann es gar nicht in Worten ausdrücken. Ich bin ja so selig. Der gute Trevor wird mich heiraten. Es ist schon alles besprochen worden.«
»Trevor Sullivan wird Sie heiraten?«, warf Ira überrascht ein. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Miss Pickford.«
»Natürlich ist das mein Ernst«, antwortete sie beleidigt. »Ich bin die schönste Frau der Welt. Ach, was ich euch noch sagen wollte – Phillip soll sich vor einer Schwangerschaft hüten. Ich sehe da gefährliche Entwicklungen auf unseren Hermaphroditen zukommen. Übrigens, was meint ihr zu unserer Brautfahrt nach Castillo Basajaun?«
Ira antwortete nicht. Sie starrte Abi und Yoshi ratlos an.
»Fragen wir die alte Dame, ob sie etwas über Dorian weiß!«
Ira wandte sich erneut an ihre Gesprächspartnerin, die unterdessen ein altes irisches Volkslied angestimmt hatte. Als sie abbrach, stieß sie Worte in einer fremden Sprache aus. Ira konnte mit den Wortfetzen nicht das Geringste anfangen.
»Habt ihr das verstanden?«
Abi und Yoshi zogen die Mundwinkel herab.
»Keinen blassen Schimmer, Ira. Miss Pickford hat entweder zu viel getrunken, oder sie ist tatsächlich liebestoll!«
Dennoch beschlich sie ein unheimlicher Verdacht. Die Worte, die Miss Pickford eben hervorgebracht hatte, klangen melodisch und reimten sich. Sie mussten etwas bedeuten. Doch was das war, konnte hier keiner erraten.
»Wissen Sie, wo sich Dorian im Augenblick aufhält, Miss Pickford?«
Die alte Frau zögerte einen Augenblick. Dann antwortete sie mit einem fröhlichen Unterton in der Stimme: »Dorian Hunter ist die Treppe heruntergestürzt.«
»Was?«, riefen Ira, Abi und Yoshi wie aus einem Munde. »Das sagen Sie uns erst jetzt? Ist er verletzt? So reden Sie doch, Miss Pickford! Können wir mit ihm sprechen, oder musste er ins Krankenhaus eingeliefert werden?«
Auf einmal erschien Miss Pickfords Benehmen gar nicht mehr so absurd. Wenn man in Betracht zog, dass...
Erscheint lt. Verlag | 22.3.2022 |
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Reihe/Serie | Dorian Hunter - Horror-Serie |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • alfred-bekker • Bastei • Bestseller • Dämon • Dämonenjäger • dan-shocker • Deutsch • eBook • E-Book • eBooks • Extrem • Fortsetzungsroman • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Gruselkabinett • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • horrorserie • Horror-Thriller • john Sinclair • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • larry-brent • Lovecraft • Macabros • Männer • morland • neue-fälle • Paranomal • professor-zamorra • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • sonder-edition • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony-Ballard • Top • Zaubermond |
ISBN-10 | 3-7517-3062-1 / 3751730621 |
ISBN-13 | 978-3-7517-3062-4 / 9783751730624 |
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