Tiefer Sand (eBook)
413 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-1663-5 (ISBN)
Nach dem Verschwinden ihrer Mutter wendet sich Nieke Dornieden an Hauptkommissar John Benthien. Obwohl ihm die junge Frau merkwürdig vorkommt, nimmt er sich der Sache an. Wenig später wird Niekes Mutter tot aufgefunden, und Benthien beginnt auf Föhr zu ermitteln. Auf der Insel hatten nicht wenige Grund, der alten Dame nach dem Leben zu trachten, unter anderem Nieke selbst. Auch die Vergangenheit der Toten gibt Rätsel auf: Ihr Mann und ihre Tochter aus erster Ehe werden seit Jahren vermisst; niemand weiß, was mit ihnen geschehen ist. Benthien begreift, dass beide Fälle zusammenhängen - und stößt auf ein Familiengeheimnis und eine Wahrheit, die ihn selbst in eine dramatische Situation bringen ...
Prolog
Das Mädchen lag in seinem Bett und wünschte, es würde endlich aufhören.
Sie hatte das Geräusch zum ersten Mal gehört, kurz nachdem Mama sie zu Bett gebracht hatte. Ein leises, metallisches Klopfen, kaum hörbar zunächst. Sie hatte sich anstrengen müssen, es überhaupt wahrzunehmen. Doch inzwischen dröhnte das Klopfen wie der Schlag einer Kirchturmglocke in ihren Ohren.
Es war dunkel im Zimmer. Durch das Fenster fiel lediglich das fahle Licht des Vollmonds herein. Zwischen den Vorhängen, die nicht ganz zugezogen waren, konnte das Mädchen die Eiche im Garten erkennen, deren knorrige Äste sich im Wind wiegten, als rudere der alte Baum verzweifelt mit den Armen, um nicht umgerissen zu werden.
Das Bett des Mädchens befand sich direkt unter der Dachschräge, und sie konnte hören, wie die Böen unter die Pfannen fuhren und sie zum Klappern brachten.
Sie hasste das alte Haus. Alles hier wirkte abweisend und unheimlich auf sie, und sie mochte den Gedanken nicht, dass sie bald mit Mama und Papa hierherziehen würde. Sicher, sie bekäme ein größeres Zimmer, und Papa hatte gesagt, dass sie vielleicht sogar einen Hund haben könnten. Außerdem würde sie Oma dann viel öfter sehen, ihr gehörte schließlich das Haus.
Trotzdem! Das Mädchen verstand nicht, wie Oma hier allein leben konnte, in diesem Haus mit seinen vielen Zimmern, in denen man sich ständig verlief. Außerdem gab es diesen riesigen Keller, wo man nie wusste, was auf einen lauert.
Ob Oma sich hier auch manchmal gruselte? Andererseits, dachte das Mädchen, konnte Oma manchmal selbst ziemlich gruselig sein. Besonders ihre Geschichten, die sie ihr immer vor dem Einschlafen erzählte.
Mama war gestern mit ihr hierhergekommen, um nach Oma zu sehen. Aus irgendeinem Grund machte sie sich große Sorgen, sie hatten extra den Urlaub bei den anderen Großeltern abgebrochen, die das Mädchen viel lieber mochte.
Oma war nicht hier gewesen. Mama machte sich jetzt noch mehr Gedanken. Sie hatte gemeint, dass Oma vielleicht bei einer Freundin sei und sie hier auf sie warten würden.
Das Mädchen fuhr zusammen, als erneut das Klopfen erklang.
Sie zog das Kissen über den Kopf, als könnte sie sich darunter verstecken, in eine andere, sichere Welt flüchten. Dabei war ihr vollkommen klar, dass das keinen Sinn hatte. Denn das Mädchen wusste ganz genau, woher das Klopfen kam und was es zu bedeuten hatte.
Das Geräusch kam über die Heizungsrohre. Ihr Bett stand direkt neben dem Heizkörper. Die Rohre verschwanden im Teppichboden und verliefen dann durch das Haus bis runter in den Keller, wo der große Brenner stand.
Und dort unten waren sie.
Oma hatte ihr von ihnen erzählt.
Es waren Wesen, die in der Erde lebten. Nachts kamen sie herausgekrochen und besuchten die schlafenden Kinder in ihren Betten. Den Artigen taten sie nichts, aber die Unartigen nahmen sie mit sich unter die Erde, wo sie für immer bleiben mussten.
Es waren kleine, verschrumpelte Kreaturen mit knorrigen Fingern, aus denen Krallen hervorwuchsen, und mit Fangzähnen, so scharf wie Rasiermesser.
Das Mädchen wusste, dass die Wesen hier waren, um sie zu holen, denn sie war sehr böse gewesen.
Sie war mit Mama und Papa bei ihren anderen Großeltern gewesen, denen, die auf dem Festland lebten, wo man mit der Fähre hinfuhr. Sie wohnten in einem kleinen Haus mit Strohdach und ganz vielen Tieren. Sie hatten Hunde, Katzen und Meerschweinchen, und das Mädchen hatte die ganze Zeit mit ihnen spielen dürfen.
Die andere Oma erzählte auch schönere Geschichten, was auch der Grund war, weshalb das Mädchen sie insgeheim ein bisschen lieber hatte. Das Besondere war allerdings die Schatztruhe. So nannte Oma das Fach ganz links in ihrem Wohnzimmerschrank. Darin befand sich eine Auswahl der besten Süßigkeiten, die man sich vorstellen konnte. Und wie durch Wunderhand schien sich das Fach immer wieder von selbst zu füllen, egal, wie viel man auch naschte.
Nur Omas Pralinen, die durfte das Mädchen nicht essen. Denn die, so hatte Oma gemahnt, seien nichts für Kinder.
Das hatte das Mädchen erst recht neugierig gemacht.
Deshalb war sie gestern zu dem Schrank geschlichen, als Mama und Papa mit Oma und Opa in der Küche gesessen und Kaffee getrunken hatten. Die Pralinen befanden sich in dem Fach ganz rechts oben.
Das Mädchen hatte eines der dunkelblauen Kistchen genommen, die Plastikfolie entfernt und den Deckel geöffnet. Sie hatte zunächst vorsichtig an einer der Pralinen gelutscht. Es schmeckte nach ganz normaler Schokolade. Also hatte das Mädchen hineingebissen – und augenblicklich hatte eine bittere, scharfe Flüssigkeit seinen Mund geflutet.
Sie hatte das eklige Zeug instinktiv ausgespuckt, und es war auf dem Teppichboden gelandet.
Oma hatte recht gehabt, die Pralinen waren nichts für Kinder.
Natürlich hatte Oma geschimpft. Dem Mädchen waren vor allem zwei Worte in Erinnerung geblieben: böses Kind.
Das Mädchen wusste, was mit bösen Kindern geschah.
Wieder klopfte es in den Rohren, diesmal etwas schwächer. Das Mädchen drückte das Kissen fester auf seine Ohren. Ihr Magen zog sich zusammen, wie immer, wenn sie Angst hatte.
Es hatte zu regnen begonnen, und der Wind ließ die dicken Tropfen gegen das Fenster prasseln.
Sie musste daran denken, was ihr Vater gesagt hatte, als sie zum ersten Mal mit der Fähre zum Festland gefahren waren. Auch da hatte das Mädchen sich gefürchtet.
Wir alle haben mal Angst, Schätzchen, das ist nichts Schlimmes. Die Angst ist wie ein böser Zauberer, der unsere Gedanken verhext. Lass dich nicht von ihr beherrschen. Meistens ist es nicht so schlimm, wie wir es uns vorstellen.
Papa hatte recht gehabt. Die Fahrt mit der Fähre war schön gewesen, und seitdem konnte das Mädchen es kaum abwarten, wieder mit einem Schiff aufs Meer rauszufahren.
Lass dich nicht von der Angst beherrschen.
Das Mädchen überlegte, was sie noch über die Wesen aus den Erzählungen ihrer Großmutter wusste. Sie waren auf jeden Fall klein, klein wie Zwerge. Das Mädchen war in letzter Zeit schnell gewachsen. Über einen Meter war sie jetzt und damit vermutlich größer als die Wesen. Außerdem waren sie lichtscheu. Deshalb kamen sie nur in der Nacht. Oma hatte einmal gesagt, dass nur ganz grelles Licht sie vertreiben konnte.
Was würde Mama denken, wenn die Wesen kamen und sie mit sich nahmen? Dem Mädchen war nicht entgangen, wie sehr sich ihre Mutter um Oma sorgte. Wie würde es ihr erst gehen, wenn sie verschwand? Niemand würde wissen, was mit ihr geschehen war.
Das Mädchen schob das Kissen ein Stück zur Seite und lugte zum Nachttisch hinüber. Dort stand eine Taschenlampe. Mama hatte sie dort hingestellt, für den Fall, dass das Mädchen in der Nacht aufstand und das Licht nicht funktionierte, was in dem alten Haus schon mal vorkam.
Ob die Taschenlampe grell genug war?
Lass dich nicht von deiner Angst beherrschen.
Sie würde es vielleicht einfach drauf ankommen lassen müssen. Wenn die Wesen ohnehin hier waren, um sie zu holen, konnte sie sich auch wehren, was hatte sie schon zu verlieren?
Außerdem fand sie die Vorstellung, dass Mama und Papa nie erfahren würden, was mit ihr geschehen war, zu schrecklich.
Sie würde die Wesen vertreiben. Entschlossen schob das Mädchen das Kissen zur Seite und schlug die Bettdecke zurück.
Der Holzfußboden war kalt unter ihren nackten Füßen und knackte mit jedem Schritt. Leise öffnete das Mädchen die Zimmertür und trat auf den Flur hinaus. Hier oben unter dem Dach gab es noch zwei weitere Zimmer, die allerdings unbenutzt waren. Oma sammelte dort nur alten Krempel.
Im Flur brannte kein Licht, und das Mädchen hatte auch nicht vor, es einzuschalten. Niemand sollte sie bemerken. Kurz schaltete sie die Taschenlampe ein und richtete den Strahl auf den Boden. Er war hell – hell genug, wie das Mädchen hoffte. Sie schaltete die Lampe wieder aus und schlich zur Wendeltreppe, deren Stufen mit Teppich ausgelegt waren. Eine Hand am rauen Holzgeländer, wo man sich schnell einen Splitter ziehen konnte, ging sie in den ersten Stock hinunter. Dort blieb sie kurz stehen.
An dem Fenster am Ende des Flurs lief der Regen in kleinen Bächen hinunter, ein Blitz zuckte und ließ die alte Eiche im Garten kurz erstrahlen, gefolgt von einem Donner.
Der Blick des Mädchens wanderte zu den beiden Türen am Fuß der Treppe. Hinter der linken lag Omas Schlafzimmer, die rechte gehörte zu einem Kinderzimmer. Niemand durfte es betreten.
Oma hatte, lange bevor Mama geboren worden war, ein anderes Kind gehabt. Auch ein Mädchen. Es war verschwunden, und niemand hatte jemals erfahren, was mit ihm geschehen war.
Ob das Kind ebenfalls böse gewesen und von den Wesen geholt worden war? Vielleicht würde das Mädchen das bald herausfinden.
Sie ging nun auch die nächste Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Der Fliesenboden war eisig, und es zog kalt an ihren Füßen.
Die Kellertür lag hinter der Küche, und davor musste sie am Wohnzimmer vorbei. Das Mädchen schob sich an der Wand entlang und spähte um die Ecke. Mama saß im Wohnzimmer auf dem Sofa und schaute Fernsehen, das Telefon in der Hand. Es lief eine der Sendungen, in denen sich die Erwachsenen nur unterhielten. Ein Mann mit Anzug und verstrubbelten Haaren war im Bild. Mama schien ihm gespannt zuzuhören.
Mama hatte das Klopfen offenbar nicht bemerkt. Was nur logisch war. Schließlich konnten Erwachsene die Wesen...
Erscheint lt. Verlag | 25.3.2022 |
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Reihe/Serie | Hauptkommissar John Benthien | Hauptkommissar John Benthien |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Dünnen • Eric Berg • Ermittler • Eva Almstädt • Fall • Flensburg • Flensburger Förde • Föhr • Friesland • Glücksburg • Holnis • John Benthien • Kerker • Klaus-Peter Wolf • Kommissar • Kriminalroman • Krimis • Kripo • Küstenkrimi • Leiche • Meer • Mordsee • Nordsee • Nordseekrimi • Ostfriesland • Ostseekrimi • Schleswig Holstein • Schloss • Strand • Strandkrimi • Urlaub • Urlaubslektüre • Vermisst • Vermisstenfall • Wellen |
ISBN-10 | 3-7517-1663-7 / 3751716637 |
ISBN-13 | 978-3-7517-1663-5 / 9783751716635 |
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