Nach Mitternacht (eBook)
208 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2698-6 (ISBN)
Irmgard Keun, 1905 in Berlin geboren, feierte mit ihren beiden ersten Romanen, Gilgi - eine von uns und Das kunstseidene Mädchen, sensationelle Erfolge. 1936 ging sie ins Exil und kehrte vier Jahre später mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie unerkannt lebte. Im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit konnte sie zunächst nicht an die Erfolge ihrer ersten Bücher anknüpfen, bis ihre Romane Ende der Siebzigerjahre von einem breiten Publikum wiederentdeckt wurden. Irmgard Keun starb 1982 und zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.
Irmgard Keun, 1905 in Berlin geboren, feierte mit ihren beiden ersten Romanen, »Gilgi – eine von uns« und »Das kunstseidene Mädchen« sensationelle Erfolge. 1935 ging sie ins Exil und kehrte fünf Jahre später mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, wo sie unerkannt lebte. Im biederen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit konnte sie zunächst nicht an die Erfolge ihrer ersten Bücher anknüpfen, bis ihre Romane Ende der Siebzigerjahre von einem breiten Publikum wiederentdeckt wurden. Irmgard Keun starb 1982 und zählt heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts.
I
Einen Briefumschlag macht man auf und zieht etwas heraus, das beißt oder sticht, obwohl es kein Tier ist. Heute kam so ein Brief von Franz. »Liebe Sanna«, schreibt er mir, »ich möchte Dich noch einmal sehen, darum komme ich vielleicht. Ich konnte Dir lange nicht schreiben, aber ich habe oft an Dich gedacht, das hast Du sicher gewußt und gefühlt. Hoffentlich geht es Dir gut. Viele herzliche Grüße, meine liebe Sanna. Dein Franz.«
Was ist mit Franz geschehen? Ob er krank ist? Vielleicht hätte ich mich gleich auf die Bahn setzen sollen und zu ihm nach Köln fahren. Ich bin nicht gefahren. Den Brief habe ich ganz klein zusammengefaltet und mir in den Ausschnitt gesteckt, da zerkratzt er mir jetzt die Brust.
Ich bin müde. Alles war heute so aufregend und anstrengend, wie das ganze Leben jetzt überhaupt. Ich mag nicht mehr denken, ich kann nicht mehr denken – in meinem Gehirn sind nur noch helle Flecke, dunkle Flecke, die kreiseln durcheinander.
Gern würde ich in Ruhe mein Glas Bier trinken, aber wenn ich das Wort Weltanschauung höre, weiß ich ja, daß Krach kommt. Die Gerti sollte es lassen, einen SA-Mann zu reizen, indem sie sagt: die Reichswehrleute haben schönere Uniformen und sehen auch sonst schöner aus – und wenn es schon einer von militärischer Rasse sein müsse, dann habe sie lieber einen von der Reichswehr. Natürlich flattern solche Worte wie rasende Hornissen um einen Kurt Pielmann und stechen ihn bis ins Innerste – und wenn er nicht sofort daran stirbt, wird er eben gemein. Man weiß doch Bescheid.
Ganz krank sieht der Kurt Pielmann auf einmal aus und war vorher so fröhlich, er kann einem leid tun. Schließlich hat er vor drei Tagen noch einen Stern gekriegt und ist heute extra von Würzburg nach Frankfurt gefahren, um die Gerti wiederzusehen und den Führer. Der Führer war nämlich heute in Frankfurt, um vom Opernhaus aus ernst ins Volk zu blicken und einen Zapfenstreich von den wiedereingeführten Soldaten zu hören. Eine Runde Bier will ich noch bestellen auf meine Kosten und um abzulenken, hoffentlich habe ich genug Geld.
»Herr Ober!« Ein wüster Betrieb ist hier heute abend. »Herr Ober! Ach rufen Sie ihn doch bitte mal, Herr Kulmbach, Sie können lauter. Und trinken Sie, bitte, aus – noch vier Export, Herr Ober und …« Schon ist er wieder fort.
»Vielleicht haben Sie noch eine Zigarette für mich, Herr Kulmbach?«Ich möchte nicht gern, daß der Herr Kulmbach es hört, wenn die Gerti so gefährlich mit dem Kurt Pielmann spricht, und darum erzähle ich ihm einfach drauflos, wie’s gerade kommt – nur um ihn abzulenken. Mit dem einen Ohr höre ich meine lauten Worte, und mit dem anderen Ohr höre ich den Krach kommen zwischen Gerti und Pielmann.
Wenn ich mal einen Augenblick still bin, ist ein Gerausche von Stimmen um mich, das macht müde zum Schlafen.
Im Henninger-Bräu sitzen wir, es riecht nach Bier und Zigarrenqualm und lautem Gelache. Durchs Fenster sieht man die Lichter vom Opernplatz, ein bißchen trüb und müde sehen sie aus, wie freche gelbe Blumen, die endlich einmal Lust kriegen, »Gute Nacht« zu sagen.
Seit drei Uhr mittags sind wir schon unterwegs, die Gerti und ich. Mit der Gerti bin ich befreundet, seit ich hier in Frankfurt bin. Ein Jahr bin ich schon hier.
Wunderschön sieht die Gerti aus, wenn sie so dasitzt mit ihrem blauen Busen. Natürlich ist der Busen nicht blau, nur das Kleid darüber. Immer sieht die Gerti aus, als habe sie nichts an. Das wirkt aber nicht unanständig bei ihr, weil sie so frech ist mit ihrem Körper und mit ihren Worten und gar nicht geheimnisvoll. Ihre Locken leuchten dick und blond, ihre Augen leuchten knallblau, ihr Gesicht leuchtet wie eine rosa Wolke.
Ich leuchte gar nicht. Darum hat die Gerti mich wohl auch so gern. Obwohl sie sagt, ich könne sehr niedlich aussehen und verstehe nur nicht, was aus mir zu machen. Gerti und Liska schimpfen deswegen mit mir und wollen auch bestimmt ganz ehrlich, daß ich aus mir was mache. Ich will es auch, aber es gelingt mir nie so richtig.
Wenn ich abends vorm Zubettgehen in den Spiegel gucke, dann finde ich mich manchmal sehr hübsch und liebe meine Haut, weil sie so glatt und weiß ist. Und ich finde meine Augen groß, grau und geheimnisvoll und glaube, daß auf der ganzen Erde keine Filmschauspielerin so lange schwarze Wimpern hat. Dann möchte ich manchmal das Fenster aufmachen und alle Männer von der Straße rufen, damit sie kommen und sich wundern, wie schön ich bin. Natürlich könnte ich das nie richtig tun. Aber es ist doch ein Jammer, daß jemand ganz allein für sich oft am schönsten ist. Man findet das aber auch vielleicht nur. Wenn ich neben der Gerti sitze, finde ich mich jedenfalls nur klein, blaß und mickrig. Noch nicht mal mein Haar leuchtet. Es hat eine blonde Farbe, die schläft.
Ich hätte das Bier nicht bestellen sollen – jetzt bestellt der Herr Kulmbach daraufhin eine Runde Kirsch, Er ist nämlich Kellner im »Eichhörnchen«, und wenn Kellner in andere Lokale gehen, sind sie fast immer großzügig.
»Zum Wohl, Herr Kulmbach.« »Auf unseren Führer!« Ein wunderbarer Tag sei heute, sagt Kulmbach – ein einzigartiges Erlebnis für die Frankfurter Bevölkerung sei heute gewesen.
Vom Nebentisch gucken ein paar SS-Leute herüber und machen »Prost«. Ich weiß nicht recht, ob sie die Gerti meinen mit dem Prost oder den Führer. Vielleicht sind sie betrunken und meinen die ganze Welt, aber natürlich keine Juden, Sozialdemokraten, Russen, Kommunisten und Franzosen und solche Leute.
Ich erzähle dem Kulmbach, daß ich seit einem Jahr in Frankfurt bin. Ich wurde geboren in Lappesheim an der Mosel. »Das ist meine Heimat, selbstverständlich vergißt man sie nie, Herr Kulmbach.« Neunzehn Jahre bin ich jetzt alt, die Gerti ist etwas älter. Ich kenne sie durch die Liska, weil die ja kunstgewerblich tätig ist, und Gertis Eltern haben ein Kunstgewerbegeschäft in bester Frankfurter Gegend, da hilft die Gerti verkaufen. Mein Vater hat eine Wirtschaft in Lappesheim und drei Weinberge, aber keine allerbeste Lage. Wenn die Weinberge blühen im Sommer, und der Wind weht so leicht, und die Sonne scheint heiß, dann riecht die Welt nach Honig. Die Mosel ist eine lustige, glitzernde Schlange, weiße kleine Boote lassen sich von den Sonnenstrahlen den Fluß runterschleifen. »Und die Berge am anderen Ufer, Herr Kulmbach – da müssen Sie sich erst mit der Fähre übersetzen lassen und ganz nah rankommen, um zu merken, daß es Berge sind. Von unserem Gasthof aus scheinen sie große grüne Lockenköpfe, ganz warm und freundlich, man möchte sie streicheln. Aber wenn Sie nahe rankommen, dann sind es keine weichen grünen Locken, dann sind es harte Bäume mit Laub dran. Und wenn Sie den Berg raufklettern, dann kommen Sie in den Hunsrück. Da ist es kälter als unten an der Mosel, die Leute sind ärmer und die Kinder blaß und verhungert. Die Blumen dort sind viel weniger bunt und viel kleiner, die Äpfel und Birnen auch. Wein gibt es gar nicht.«
An die Berge muß ich denken, die von weitem aussehen wie fröhliche grüne Lockenköpfe, und an meine Hand muß ich dabei denken. Immerzu hatte ich sie eingerieben mit Liskas tollen Hautcremes. Ich dachte, nun würde die Haut von meiner Hand wie ein seidenes Wunder, aber der Algin hat ein Vergrößerungsglas. Da habe ich mir meine Hand mal unterm Vergrößerungsglas betrachtet und war furchtbar erschrocken. Eine Sommersprosse auf meiner Hand sah aus wie ein Kuhfladen. Welcher Mensch sieht denn an sich so was gern? Alle Vergrößerungsgläser sollte man kaputtmachen.
Ich heiße Susanne. Susanne Moder. Man nennt mich Sanna. Ich bin froh, so verkürzt genannt zu werden, weil es doch ein Zeichen ist, daß Freundlichkeit um mich war. Menschen, die immer nur mit ihrem vollen unveränderten Taufnamen gerufen werden, sind oft so ungeliebt.
Am liebevollsten konnte der Franz es sagen: »Sanna«. Weil er ja überhaupt so langsam und samtig denkt. Ob er wirklich kommt? Ob er mich noch liebhat? Gleich will ich auf die Toilette gehn und seinen Brief noch mal lesen.
Was seine Mutter wohl macht, die Tant Adelheid, dieses Biest? Antun müßte man ihr was, warum habe ich es nicht getan? Als Kind hätte ich bestimmt was gegen sie unternommen, nichts zu lachen hätte sie da gehabt. Die Sau. Wenn man erwachsen wird, läßt man sich viel mehr gefallen und wird schlapp. Als Kinder haben wir uns immer gerächt für Gemeinheiten, und das soll man auch.
Vollständig ungebildet ist die Tant Adelheid, aber sie tut ungeheuer fein. Auf mich hatte sie mehrere Arten von Haß. Ihr erster Haß auf mich war, weil mein Vater mich auf die Mittelschule nach Koblenz geschickt hat. Der war nämlich dafür, daß Kinder was lernten. Ich mache mir nicht viel aus dem Lernen, mein Kopf ist nicht so geeignet dazu. Algins Kopf war geeignet dazu, und man sieht an ihm, daß jemand es durch Lernen weitergebracht hat als alle.
Algin Moder ist mein Stiefbruder und ein berühmter Schriftsteller und siebzehn Jahre älter als ich. Eigentlich heißt er Alois, aber er hat sich seinen Namen selbständig umgearbeitet,...
Erscheint lt. Verlag | 27.1.2022 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | denunziant • Deutschland • Drittes Reich • Emigration • Exilroman • Frankfurt • Klassiker • Nationalsozialismus • Regime • Roman • SA |
ISBN-10 | 3-8437-2698-1 / 3843726981 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2698-6 / 9783843726986 |
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