Es ist recht sehr Nacht geworden (eBook)
336 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30428-2 (ISBN)
Thomas Hettche wurde in einem Dorf am Rande des Vogelsbergs geboren und lebt in Berlin. Seine Essays und Romane, darunter »Der Fall Arbogast« (2001), »Die Liebe der Väter« (2010), »Totenberg« (2012) und »Pfaueninsel« (2014) wurden in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Premio Grinzane Cavour, dem Wilhelm-Raabe-Preis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Josef-Breitbach-Preis. Sein letzter Roman »Herzfaden« (2020) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Thomas Hettche wurde in einem Dorf am Rande des Vogelsbergs geboren und lebt in Berlin. Seine Essays und Romane, darunter »Der Fall Arbogast« (2001), »Die Liebe der Väter« (2010), »Totenberg« (2012) und »Pfaueninsel« (2014) wurden in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Premio Grinzane Cavour, dem Wilhelm-Raabe-Preis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Josef-Breitbach-Preis. Sein letzter Roman »Herzfaden« (2020) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Ulrich Peltzer
Kleist war ungeschickt
Kleist war ungeschickt. Ein Fremder in jeder Gesellschaft, stotternd, errötend. Als sei er inferior und hätte sich nur eingeschmuggelt, in einen Berliner Salon, in ein Theater, irgendwo. Was kann, was soll aus einem werden, der mit 14 – ein halbes Kind ist er noch – zu den Soldaten kommt, um wenig später schon in seinen ersten großen Krieg zu ziehen? Einem Klima des Todes preisgegeben, des Gefechts, von Befehl und Gehorsam, in dem das Überleben sich dem Zufall verdankt. Als eine absichtslose Verkettung von Umständen, deren Endpunkte gleichwohl festzustehen scheinen, unsterblicher Ruhm oder ein Grab ohne Namen. Die Vorhersehung lässt keine Fragen zu, trotzdem spricht sie, ordnet an, hat seltsame Ideen, wie ein gelangweilter Despot, der morgen vergessen hat, was ihm gerade eben eingefallen ist.
Sich bereitwillig in die Launen des »Tyrannen Schicksaal« zu ergeben, ist des jungen Kleists Sache aber nicht. Höchst unwürdig ist das in seinen Augen für einen »freien, denkenden Menschen«. Der nämlich, so teilt er es forsch der Schwester Ulrike mit, »bestimmt nach seiner Vernunft, welches Glück für ihn das höchste sei, er entwirft sich einen Lebensplan, und strebt seinem Ziele mit allen seinen Kräften entgegen«.
Pläne haben, Pläne machen kann man immer. Wenn man dazu bloß in der Lage ist. Der Plan als Abbild der Natur als einem ewigen und gesetzmäßigen Kontinuum, eins entwickelt sich organisch aus dem anderen, und allem wohnt eine – möglicherweise sogar göttliche – Logik inne. Dem schließt sich die Idealfigur der Natur als Baum an, des Sozialen als Modell einer Stratifizierung. Adel, Klerus, Volk. Bourgeoisie und Proletariat. Jede Abweichung, jeder Ausbruch aus der dem Einzelnen zugedachten Rolle lässt sich erklären, psychologisch oder politisch. Besser hätte ich gesagt: soll sich erklären lassen, andernfalls müsste man Wahnsinn in Anschlag bringen, eine schwer fassliche, sich dem Verstand vielleicht gar nicht erschließende Raserei der Affekte. In einem Brief an eine »theure Freundinn« schreibt Kleist am 29. Juli 1804, er ist 26 Jahre alt: »Ich bin nicht im Stande vernünftigen Menschen einigen Aufschluß über diese seltsame Reise zu geben. Ich selber habe seit meiner Krankheit die Einsicht in ihre Motiven verloren, und begreife nicht mehr, wie gewisse Dinge auf andere erfolgen konnten.«
Was wollte er? »Wie von der Furie getrieben«, so Kleists eigene Worte, hatte er Frankreich »mit blinder Unruhe in zwei Richtungen durchreiset«, um schließlich in Boulogne sur Mer zu landen, »wo ich«, wieder Kleist, »wenn Bonaparte sich damals wirklich nach England mit dem Heere eingeschifft hätte, aus Lebensüberdruß einen rasenden Streich begangen haben würde.«
Ein unwiderstehlicher Drang nach Bewegung, eine Fliehkraft, die ins Exzentrische gerichtet ist, in Zonen, die wohltemperierte Charaktere meiden in ihren Phantasmen von Ausgleich und Gespräch. Dunkelzonen, die nur erhellt werden von grellen Wortblitzen – das Reich unserer Gespenster, spukhafte Szenen voller Angstlust hinter den Fassaden und Codes einer unbefragten Normalität.
Immer wieder gerät Kleist, geraten wir mit Kleist auf Schlachtfelder, seine Figuren, genau wie seine Leser, stets im Bann eines Verhängnisses, dem zu entrinnen praktisch nicht gelingen kann. Manchmal ein erschöpftes Aufatmen, bevor es zum nächsten unheilvollen Ansturm kommt. Die furchtbarsten Tode ereilen Schuldige wie Unschuldige, da wird ein Verräter von einer Bärin in einem Käfig, in den man ihn gelockt hatte, zerrissen, der Schädel eines Säuglings an einem Kirchenpfeiler zerschmettert. Was einem dann noch übrig bleibt, ist, wie es im Erdbeben in Chili heißt, die Leichname jetzt fortschaffen zu helfen.
Wahrscheinlich gibt es keinen deutschen Autor, bei dem Gewalt und Gewaltverhältnisse so präsent sind, dazu Täuschung, Verkleidung, Somnabulismen, Betrug. Dass es gut ausgehen möge oder wenigstens nicht die allerschlimmste Wendung nähme, wünscht man sich inständig, wenn Kleist ein Einsehen hat, inszeniert er finale Arrangements, denen etwas Wundersames eignet – wer’s glaubt, wird selig.
Doch Kleist hat kein Einsehen, diese von mir in allzu kolloquialer Manier gewählte Formulierung, die so etwas wie Verständnis ausdrückt, kalkulierte Milde gegenüber einem erlösungsbedürftigen Publikum, geht an der narrativen Verfahrensweise seiner Erzählungen, der Dramaturgie seiner Stücke im Grunde völlig vorbei. Kleist ist an Zusammenstößen interessiert, er lässt Gestalten und Affekte aufeinanderprallen, ohne sich gängigen literarischen Vermittlungspraktiken zu unterwerfen. Keine berechenbare Ökonomie der Gefühle, sondern Frontalkollisionen von nervösen Zuständen, es ist wenig verwunderlich, dass sein Personal – gänzlich überwältigt von innerem Aufruhr und situativer Hilflosigkeit – in Ohnmacht fällt, zu stammeln beginnt, sich falschen Verbündeten zuwendet. Graziös ist das nicht, auch mangelt es jeder auktorialen Freundlichkeit, dafür gestattet Kleist den Menschen in den Fängen seines Erzählapparats Intensitätserfahrungen, die ihnen (wie auch uns) unvergleichlich sind, Epiphanien der Seele in Augenblicken äußerster Not, einer sie wie ein Geschoss durchdringenden Liebesbegegnung.
Legende, Polizeibericht, bizarre Meldung aus der Rubrik Vermischtes, Fußnoten historischer Ereignisse, Poe’sche Horrorstory – avant la lettre – scheinen sich bei Kleist oft zu verschränken, er beginnt hier und endet dort in einem Maschinengefüge aus von Einschüben und Anmerkungen mal gebremsten, dann wieder irrsinnig beschleunigten Hypotaxen, einem Räderwerk gleich, dem man nicht mehr entkommt, ist man erst einmal drinnen. Ich jedenfalls muss bei der Kleist-Lektüre gelegentlich an die emblematische Filmsequenz aus Chaplins Moderne Zeiten denken, als der Tramp von einer gewaltigen Konstruktion aus Antriebsriemen und rotierenden Zahnrädern verschlungen wird, im letzten Moment dann von einem Kollegen gerettet, der den Rückwärtsgang einschaltet. Der Rückwärtsgang existiert für Kleist nicht, wie sein Erzählen von einem blutigen Ernst ist, allein die Leichtigkeit, wenn wir’s so nennen wollen, des Amphitryon – und nicht die derbe Komik des Zerbrochenen Krugs – versieht sein Werk mit einer Prise Humor, ansonsten gibt es bei ihm wenig zu lachen. Kleists Welt war nicht danach, eine Welt des Krieges, der die Subjekte und Territorien, auf denen sie nicht heimisch sein können, affiziert und durchpulst, er selbst hin- und hergerissen zwischen Adoration des Weltgeistes, dessen Verkörperung damals den Namen Napoleon führte, und Widerstand um jeden Preis. Und sei es, dass man das Eigene zerstört, um es nicht in die Hände des Feindes fallen zu lassen, ein Programm der Barbarei, das Hermann in der Hermannsschlacht als Bedingung seiner Führerschaft gegen die vorrückenden Römer in einer Reihe rhetorischer Fragen an die anderen germanischen Fürsten folgendermaßen skizziert: »Wollt ihr […]/Zusammenraffen Weib und Kind,/Und auf der Weser rechtes Ufer bringen,/[…] Verheeren eure Fluren, eure Herden/Erschlagen, eure Plätze niederbrennen,/So bin ich euer Mann.«
Kleist hier, mit einer gewissen Exklusivität, als Typus seiner Epoche deuten zu wollen, ist so fruchtlos wie jeder Versuch, ihm und seiner Dichtung mit den Begrifflichkeiten der psychoanalytischen Orthodoxie zu Leibe zu rücken. Ödipales Begehren zu diagnostizieren, eine neurotische Fixierung oder narzisstische Defizite, Kleist also auf dem Feld imaginierter Konflikte zwischen, sagen wir, abwesendem Vater und kaltherziger Mutter zu reterritorialisieren, heißt, seinen Furor im Leben und im Schreiben – wie andererseits auch seine Sprachhemmungen und Schamanwandlungen im gesellschaftlichen Verkehr – zu reduzieren auf eine Position unaufgeklärter Innerlichkeit, die seinen realen und seinen textuellen Bewegungen, seiner Hetzjagd in Sätzen und zu Pferde durch halb Europa nicht nur nicht beikommt, sondern sie ums Ganze verfehlt. Wo bei Kleist Familien auftauchen, ähneln sie oft mehr Racketes als romantisches Idyll zu sein, und das nicht aus Verzweiflung oder Enttäuschung über zu wenig empfangene Liebe, eine Kasernenhofjugend, sondern als Wesensbestimmung einer Gruppe, deren Solidarität erkauft wird mit Unterwerfung, ein schnöder Zwangsverband aus Gier und Opportunität.
Auch wenn das Kunstschaffen nie ein kompensatorischer Akt ist, wäre es synthetisch, Kleist als Person und Autor seiner Zeit zu entheben. Einige Stichworte sollte man nennen: ein Aufwachsen in Uniform, das Disziplinarregime der preußischen Armee, die Erfahrung der Schlacht vor jeglicher Erfahrung mit dem Geschlecht, revolutionäre Unruhen, die ganz Europa erschüttern, feudalistische Reaktion, wechselnde politische Koalitionen mal gegen, mal mit Frankreich, der Aufschein bürgerlicher Freiheit jenseits der rigiden Ordnung einer Militärbürokratie, Napoleon als Agent des Code civil und zugleich imperialistischer Befehlshaber, den zu bekriegen, Frankreich zu bekriegen, Staatsräson in Preußen, in Deutschland, für die nächsten 150 Jahre werden sollte, fresst Staub, ihr Feinde, »Heil! Heil! Heil!«
Kleist ist umgeben von Kriegsmaschinen, von bewaffneter Macht, der Tod nie fern. Wenn man so will, zwei Jahrzehnte eines fortgesetzten Ausnahmezustands. Während Staaten verschwinden oder neu konstituiert werden, durchqueren bislang unbekannte Kräfte das...
Erscheint lt. Verlag | 5.5.2022 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Aris Fioretos • Daniel Kehlmann • Das Erdbeben in Chile • Durs Grünbein • Essays • Essaysammlung • Essays Thomas Hettche • Felicitas Hoppe • Gehirne • Gottfried Benn • Heinrich von Kleist • Herzfaden • Ingo Schulze • Kanon • Katharina Schultens • Lukas Bärfuss • Monika Rinck • Olga Martynova • Poetologie • Sabine Scholl • Sibylle Lewitscharoff • Ulrich Peltzer • Wilhelm Raabe |
ISBN-10 | 3-462-30428-3 / 3462304283 |
ISBN-13 | 978-3-462-30428-2 / 9783462304282 |
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