Kretische Ehre (eBook)
384 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491427-5 (ISBN)
Nikos Milonás alias Frank D. Müller hat sich bereits im Alter von 17 Jahren bei seiner ersten Kreta-Reise in die Mittelmeerinsel verliebt. Aus einem kühlen norddeutschen Sommer kommend, war er überwältigt, als er vom Schiff aus die Küste sehen konnte und der intensive Duft von wildem Thymian übers Meer zu ihm herüberwehte. Seither verbringt er so viel Zeit wie möglich auf Kreta und hat Land und Leute fest ins Herz geschlossen. In seinem deutschen Leben wohnt der gebürtige Hamburger in München, arbeitet als Regieassistent und Dokumentarfilmer und ist (Co-)Autor diverser TV-Sendungen (u.a. »München 7«).
Nikos Milonás alias Frank D. Müller hat sich bereits im Alter von 17 Jahren bei seiner ersten Kreta-Reise in die Mittelmeerinsel verliebt. Aus einem kühlen norddeutschen Sommer kommend, war er überwältigt, als er vom Schiff aus die Küste sehen konnte und der intensive Duft von wildem Thymian übers Meer zu ihm herüberwehte. Seither verbringt er so viel Zeit wie möglich auf Kreta und hat Land und Leute fest ins Herz geschlossen. In seinem deutschen Leben wohnt der gebürtige Hamburger in München, arbeitet als Regieassistent und Dokumentarfilmer und ist (Co-)Autor diverser TV-Sendungen (u.a. »München 7«).
3
Nach der zweiten engen Kurve, als die Kirche an der Platia auftauchte, fielen ihnen Kinder in festlicher Kleidung auf. Erst dann bemerkten sie, was anders war als gestern: Die kleinen Straßen waren gesperrt, und der Platz stand voller Reihen mit Tischen und Stühlen. Ein großes Fest wurde gefeiert, und Hunderte Menschen aßen und tranken, lachten und riefen laut durcheinander.
»Lass uns zur Küste fahren und irgendwo am Meer essen«, sagte Hannah, doch im selben Moment wurden sie von Kindern umringt und Richtung Platia gezogen. Michalis wusste, wie beeindruckt kretische Kinder von der großen Hannah mit ihren langen blonden Haaren waren. Und schon tauchten zwei Männer auf und führten Michalis und Hannah zu einem der festlich gedeckten Tische. Ohne dass die beiden lange gefragt wurden, saßen sie plötzlich inmitten der Feiernden und bekamen voll beladene Teller gereicht. Michalis bemerkte, dass viele Gäste kleine Ansteckkreuze trugen, und begriff: Sie waren in eine Tauffeier geraten.
Die Tische waren übersät mit orektika, den Vorspeisen, und dem tsigariasto, im Topf gebratenen Rippchen vom Lamm. Gerade wurde der Hauptgang aufgetragen, das pilafi, Lamm- und Ziegenfleisch mit vrasto, Reis, der im Saft des Fleisches gekocht worden war. Kaum leerte sich einer der Teller von Michalis und Hannah, wurde sofort nachgefüllt.
Hannah wurde vor allem von den Frauen in Gespräche verwickelt. Sie waren begeistert, dass eine Deutsche griechisch sprach und sich auf Kreta auskannte. Für Hannah war die Unterhaltung nicht einfach, denn hier in den Bergen um Anoghia war der kretische Dialekt besonders ausgeprägt. Eine Frau, die mehr als die anderen den Umgang mit Fremden gewohnt war, erklärte Hannah einige ungewohnte Ausdrücke. Sie trug ein festliches schwarz-weißes Gewand und einen roten Umhang und hatte ihre Haare mit einem Kopftuch kunstvoll hochgebunden.
Während Hannah es genoss, von den Frauen und einigen Kindern umringt zu sein, sah Michalis sich um. Auf der Platia standen große Maulbeerbäume, die im Sommer Schatten spendeten. In vier Richtungen führten schmale Straßen weg. Am Eingang einer Gasse wuchs eine von einer hüfthohen Mauer umgebene Platane. Neben der Kirche gab es ein kleines Eckgebäude, in dem ein winziges Museum an den legendären, sehr jung verstorbenen Musiker Nikos Xylouris erinnerte.
Auf den Tischen entdeckte Michalis viele Bomboniera, jene mit Zuckerguss überzogenen Mandeln, die die Gäste einer Taufe noch in der Kirche als Geschenk bekamen. Eine Taufe wurde auf Kreta aufwendig gefeiert und war auch entsprechend teuer. Daher wurde mit so einem Fest gern gewartet, bis mehrere Kinder geboren waren und gleichzeitig getauft werden konnten, dann musste nur ein Mal ein Fest ausgerichtet werden. Heute hatten sich zwei Brüder zusammengetan, um die Taufe von insgesamt fünf Kindern zu feiern.
Michalis hatte schon oft an solchen großen Familienfesten teilgenommen. Hannah hingegen erlebte es zum ersten Mal und war von der Gastfreundschaft fasziniert.
Die Sonne stand inzwischen so tief, dass die Platia im Schatten lag. Es war zu spüren, dass die warme Jahreszeit vorüber war und es jetzt im Oktober hier in den Bergen abends schnell kühl wurde. Vor einem Kafenion auf der gegenüberliegenden Seite der Platia gingen Lichter an, und drei Musiker nahmen auf Stühlen nebeneinander Platz. An der Hauswand dieses Kafenions saßen zwei jüngere Frauen. Eine von ihnen schien die Wirtin zu sein, die andere bekam von einem der Musiker einen Kuss, bevor er sich auf den mittleren Stuhl setzte und eine Lyra, die kretische Stehgeige, sowie einen Bogen aus einem Koffer nahm. Rechts von ihm stimmte ein Musiker seine laouto, seine Laute, während der dritte eine askomandoura, einen kretischen Dudelsack, auspackte und eine mandoura, eine kleine Flöte, zurechtlegte. Zwei der Musiker hatten lange, gelockte dunkle Haare.
Michalis beugte sich zu Hannah. »Der in der Mitte, das ist Manolis Mavropanos«, sagte er leise.
»Kennst du ihn?«, fragte Hannah.
»Jeder auf Kreta kennt Manolis Mavropanos. Er ist einer der besten und berühmtesten Musiker der Insel. Ich war schon auf zwei seiner Konzerte.«
»Und der spielt hier bei einer Taufe?«
»Alle Musiker lieben es, auf Festen zu spielen. Andernfalls würden sie nicht respektiert werden, selbst wenn sie phantastisch sind«, antwortete Michalis.
»Und der andere, der auch dunkle Locken hat …«
»Das ist sein Bruder. Loukas. Auch ein guter Musiker. Aber Manolis ist unvergleichlich.«
Hannah kniff belustigt ihre Augen zusammen.
»Du klingst ja richtig stolz«, sagte sie.
»Manolis Mavropanos ist einer von uns, und er gibt Konzerte in ganz Europa«, erwiderte Michalis. Ja, er war stolz, dass Manolis Mavropanos zu Kreta gehörte und etwas von dem, das die Seele dieser Insel ausmachte, in die Welt trug.
Noch während die Musiker ihre Instrumente stimmten, wurde ihnen bereits applaudiert. Als sie dann zu spielen begannen, sprangen viele Menschen auf, klatschten und sangen die Lieder mit. In Hannahs Ohren klang diese traditionelle Musik rau, wild und fremd, doch sie spürte ihre Faszination. Ganz eindeutig hing das mit Manolis Mavropanos zusammen, denn der charismatische Lyraspieler begeisterte die Menschen mit seinem Spiel und seinem Gesang am meisten. Seine Finger glitten an den drei Saiten der Lyra entlang, während der Bogen mal wild und ekstatisch und mal sanft und behutsam den unverwechselbaren rauen und harten Klang erzeugte.
Schon bald wurden Tische zur Seite geräumt, und einige Männer in kretischer Tracht und mit hohen weißen Stiefeln stellten sich im Halbkreis auf, um einen pentazolis, einen Tanz mit kunstvollen Sprüngen, vorzuführen.
»Den Sirtaki, den Anthony Quinn in dem Film Alexis Sorbas tanzt, gab es vorher auf Kreta gar nicht«, sagte Michalis. »Anthony Quinn hatte sich bei den Dreharbeiten angeblich einen Fuß gebrochen, aber die kretischen Tänze wären für ihn wohl ohnehin zu kompliziert gewesen. Diese Männer brauchen Jahre, um sie zu lernen. Anthony Quinn hat einige langsame Schritte anderer Tänze kombiniert, und jetzt glaubt alle Welt, auf Kreta wurde schon immer Sirtaki getanzt.«
»Unglaublich«, erwiderte Hannah beeindruckt, obwohl sie Michalis nur halb zugehört hatte. Denn das, was die Männer zeigten, war atemberaubend. Sie hielten sich an den Händen, und immer wieder setzte einer der Tänzer zu akrobatischen Sprüngen an. Kurz darauf versuchte dann der Nächste, ihn zu übertrumpfen.
Auch wenn die Aufmerksamkeit jetzt bei den Tänzern lag, so wurde nach jedem Stück doch Manolis Mavropanos umjubelt. Es schien ihm unangenehm zu sein, dass nicht den Tänzern die Begeisterung galt – aber er war der bewunderte Mittelpunkt dieser Tauffeier.
Die Sonne war untergegangen, und die Tänzer hatten den Musikern und den Feiernden wieder das Feld überlassen. Im Dunkeln tanzten jetzt viele der Dorfbewohner, auch kleine Kinder, und die Stücke schienen immer wilder und leidenschaftlicher zu werden. Der dritte Musiker spielte nun eine defi, eine Trommel, mit der er den Rhythmus vorantrieb. Manolis Mavropanos sang mit geschlossenen Augen und mit mal weicher, mal rauer und schneidender Stimme. Immer wieder schob er eine mantinada ein, gesungene und gesprochene Reime, von denen die Gäste einige kannten, während andere improvisiert waren und begeistert aufgenommen wurden.
Michalis legte Hannah seine graue Lederjacke über die Schultern, begann dann allerdings selbst zu frösteln. Während er noch überlegte, aus dem Wagen warme Sachen zu holen, klingelte sein Smartphone. Seine Mutter.
»Kommt ihr heute Abend noch zum Essen?«, fragte Loukia.
»Wir sind noch in den Bergen, es wird spät!«, rief Michalis und entfernte sich ein paar Meter von den Feiernden.
»Wo seid ihr denn? Was ist das für ein Lärm bei euch?«
»Hier ist eine Taufe. In Anoghia. Manolis Mavropanos spielt!«, sagte Michalis.
»Manolis Mavropanos? Der Manolis Mavropanos?«, fragte Loukia.
»Ja genau. Hannah ist total begeistert.«
»Na gut. Aber morgen Abend kommt ihr ins Athena!«
Loukia legte auf, und Michalis lächelte. Manolis Mavropanos war auf Kreta so beliebt, dass es sogar seine Mutter besänftigte, wenn sie deshalb erst spät nach Chania zurückkamen.
Michalis wollte zum Tisch zurückgehen, als er etwas sah, das ihm nicht gefiel. Etliche junge Männer liefen in der Nähe der Musiker mit Pistolen, Revolvern und einige sogar mit Gewehren herum. Er wusste, was demnächst passieren würde: Balothies, Freudenschüsse in die Luft. Für kretische Männer, vor allem, wenn sie jung waren und in kleinen Orten lebten, waren diese Schüsse ein Teil ihrer Kultur. Keine Hochzeit, keine Taufe und auch kein anderes großes Fest fand auf Kreta statt, ohne dass irgendwann minutenlang geschossen wurde. Da es dabei durch Querschläger immer wieder zu Verletzten und sogar Toten gekommen war, waren die Balothies seit Jahren verboten – aber so ein Verbot brachte viele kretische Männer erst recht dazu, es als ihre Pflicht zu betrachten, diese Tradition am Leben zu erhalten.
»Ich geh zum Wagen und hol meine Jacke und einen Pullover«, sagte Hannah, als Michalis an den Tisch trat.
»Das kann ich gern machen«, bot Michalis an.
»Ich muss auch noch meine Mutter anrufen. Das hatte ich ihr versprochen.«
Michalis konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Ja, du bist nicht der Einzige, der mit seiner Familie telefonieren muss!«, rief Hannah...
Erscheint lt. Verlag | 30.3.2022 |
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Reihe/Serie | Michalis Charisteas Serie | Michalis Charisteas Serie |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Anoghia • Chania • Freudenschüsse • Gil Ribeiro • Götterinsel • Idäische Höhle • Insel des Zeus • Jean-Luc Bannalec • Kretische Feindschaft • Kretischer Abgrund • Kretisches Schweigen • Kronos • Matala • Michalis Charisteas • Partisanen • Pierre Lagrange • Taufe • Tauffeier • Urlaubskrimi • Urlaubslektüre • Wiedergutmachung |
ISBN-10 | 3-10-491427-3 / 3104914273 |
ISBN-13 | 978-3-10-491427-5 / 9783104914275 |
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