Die Zeit der Jäger (eBook)

Kriminalroman
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
432 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491429-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Zeit der Jäger -  Andreas Götz
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München 1958. Zwischen Stadtjubiläum, alten Seilschaften und erstem Nazi-Prozess geraten zwei Freunde in ein erbittertes Katz-und-Maus-Spiel - der Abschlussband der 1950er-Jahre-Trilogie um den Journalisten Karl Wieners, seine Nichte Magda und Oberkommissar Ludwig Gruber Im Frühjahr 1958 sortiert Journalist Karl Wieners nach einem Herzinfarkt sein Leben neu. Dabei wird ihm eines immer klarer: Er kann nicht ohne Magda sein, die von ihrem Mann, dem Bauunternehmer Blohm, drei Jahre zuvor nach Amerika verbannt wurde. Karl weiß, dass er an Blohm nicht vorbeikommt. Und entschließt sich, bis zum Äußersten zu gehen. Als Blohm drei Monate später aus seiner Villa verschwindet, nimmt Oberkommissar Ludwig Gruber die Ermittlungen auf. Eine erste Spur führt ihn zu Nakam, einer Gruppe jüdischer Rächer. Und ein Tipp zu seinem Jugendfreund Karl Wieners. Ist Karl wirklich in die Sache verwickelt? Und wenn ja, wie weit ist Ludwig bereit zu gehen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen?  

Ursprünglich wollte Andreas Götz seine Kriminalromane in der Nazi-Zeit ansiedeln. Doch bei der Recherche wurde ihm schnell klar, dass sich die 1950er Jahre viel besser eignen. Ein gesellschaftliches Klima von Schuld, Verdrängung und Selbstbetrug, wie es in dieser Zeit herrschte, bringt alle Voraussetzungen mit, die ein fesselnder Roman braucht. Der Handlungsort München hat sich nicht zuletzt deshalb aufgedrängt, weil Andreas Götz ganz in der Nähe als freier Autor lebt und arbeitet und daher Land und Leute gut kennt. Seine Trilogie umfasst die Jahre 1950, 1955 und 1958.

Ursprünglich wollte Andreas Götz seine Kriminalromane in der Nazi-Zeit ansiedeln. Doch bei der Recherche wurde ihm schnell klar, dass sich die 1950er Jahre viel besser eignen. Ein gesellschaftliches Klima von Schuld, Verdrängung und Selbstbetrug, wie es in dieser Zeit herrschte, bringt alle Voraussetzungen mit, die ein fesselnder Roman braucht. Der Handlungsort München hat sich nicht zuletzt deshalb aufgedrängt, weil Andreas Götz ganz in der Nähe als freier Autor lebt und arbeitet und daher Land und Leute gut kennt. Seine Trilogie umfasst die Jahre 1950, 1955 und 1958.

Für Leser/innen der Vorgänger ein Muss, aber auch solo ein Leckerbissen für Krimifans.

Drei Monate davor …

Samstag, 15. März 1958


Der Schnee kam aus dem Nichts über sie und umhüllte sie wie ein hellgrauer Kokon aus flirrenden Flocken. Als Gisela abbremste, leuchteten auch die roten Rücklichter des Vordermanns auf. Vor seinem geistigen Auge nahm Karl vorweg, wie ihr Ford Taunus sich in den Wagen vor ihnen schob, er konnte sogar Metall knirschen und Glas zersplittern hören. Er hatte keine Angst, war völlig unbeteiligt. Das war so, wenn man Gevatter Tod eben erst von der Schippe gesprungen war. Man fühlte sich verletzlich und unverwundbar zugleich. So wie damals im Krieg, als einen jederzeit eine Kugel oder eine Granate treffen konnte. Und trotzdem war es anders. Damals hatte die Bedrohung einen Absender gehabt, und wenn es einen erwischte, war man eben nicht schnell genug oder nicht gut genug gewesen. Diesmal kam die Bedrohung aus dem Nichts, oder besser gesagt: Der Absender war er selbst, das eigene Herz, dieses untreue Stück Fleisch, das ihm beinahe den Dienst versagt hatte. Für diesmal aber ließ es ihn nicht im Stich, so wenig wie Gisela, die eine umsichtige Fahrerin war, so dass sie in sicherer Distanz zum Heck des Vordermanns blieben.

»Kaum zu glauben, dass wir Frühlingsanfang haben«, grummelte sie. »Sieh dir das nur an! Schneetreiben!«

Karl blieb stumm. Er hätte jetzt gern eine geraucht. Doch diese Zeiten waren vorbei. Zumindest wenn er seinen fünfzigsten Geburtstag erleben wolle, hatte der Arzt in Bad Aibling ihn ermahnt. Wollte er das, seinen fünfzigsten Geburtstag erleben? Offenbar, denn er hatte sich bis jetzt strikt an das Rauchverbot und die fettarme Diät gehalten. Karl holte ein Päckchen Wrigley’s Kaugummi aus der Jacketttasche, wickelte einen Streifen aus und schob ihn in den Mund.

Giselas Seitenblick bemerkte er wohl, doch er ignorierte ihn.

»Ist das die neue schlechte Angewohnheit?«, fragte sie, halb tadelnd, halb im Scherz.

»Irgendein Laster braucht der Mensch.«

»Wenigstens verpestest du nicht mehr die Luft.«

Der Schneeschauer hörte so plötzlich auf, wie er gekommen war, gerade noch rechtzeitig, damit Karl lesen konnte, was auf dem Schild am Rand der Autobahn stand: München 30 km.

 

München hatte sich in den Wochen, die er auf Kur gewesen war, wenig verändert. Nicht, dass Karl das erwartet hätte. Für eine Stadt, die sich anschickte, mit viel Brimborium ihren achthundertsten Geburtstag zu feiern, waren ein paar Wochen weniger als ein Fliegenschiss. Als der Wagen in der Nymphenburgerstraße anhielt, bekam Karl trotzdem weiche Knie.

»Wieder da«, sagte Gisela und stellte den Motor ab.

Karl sah sie an und legte kurz seine Hand auf die ihre. »Danke fürs Abholen. Ich hätte auch den Zug nehmen können.«

»Schmarrn!«

Sie stiegen aus, und sofort griff die Kälte sie an. Gisela sperrte eilig den Kofferraum auf. Er wollte den Koffer nehmen, doch sie wehrte ihn ab. Da er ihr zu schwer war, klingelte sie beim Hausmeister und bat ihn, das Gepäck nach oben zu tragen. Der Hausmeister zeigte sich hocherfreut, Karl wohlauf zu sehen, gut erholt, geradezu wie neugeboren.

»Neugeboren bin ich nicht«, widersprach Karl und ließ es wie einen Scherz klingen, »nur fast gestorben.«

Der Hausmeister winkte ab. »Geh’n S’ zu!«

Langsamer als eigentlich nötig stiegen sie die Treppe hinauf. »Frisch gebohnert«, sagte der Hausmeister, »nur zu Ihren Ehren. Aber Obacht! Ist glatt.«

Karl wusste natürlich, dass die Treppe jeden Mittwoch frisch gebohnert wurde, und gerade heute hätte er gern darauf verzichtet, denn der intensive Geruch des Bohnerwachses raubte ihm den Atem.

»Das neue Jahr hat für Sie nicht gut angefangen«, keuchte der Hausmeister auf halber Strecke, »aber vielleicht haben Sie das Schlimmste jetzt hinter sich, und von nun an wird es jeden Tag ein bisserl besser. – Was haben Sie denn da drin in dem Koffer? Ziegelsteine?«

»Bücher, hauptsächlich.«

»Ach so. Freilich.«

Oben angekommen, schloss Gisela die Tür auf. Der Hausmeister stellte den Koffer im Flur ab, sie gab ihm ein paar Groschen fürs Tragen; er wünschte noch einmal weiterhin gute Genesung und zog sich zurück. Karl war die ganze Fahrt über gespannt gewesen, mit welchen Gefühlen er hier stehen würde, und nun bestätigten sich all seine Erwartungen. Es war ein gutes Gefühl, aber auch ein falsches. Er gehörte nicht hierher. Nicht mehr. Oder vielleicht noch nie.

Gisela trat dicht an ihn heran, sah ihm in die Augen, küsste ihn. »Ich hab solche Sehnsucht nach dir gehabt«, flüsterte sie und schob ihre Hand über seinen Hintern. Er war kaum imstande, die Küsse zu erwidern, von mehr gar nicht zu reden.

»Wir sollten es langsam angehen.«

»Freilich. Nicht, dass ich unersättliches Luder dich am Ende noch umbringe.«

Verlegen wandte er den Blick ab. Er musste ihr sagen, dass ihre Gemeinsamkeiten aufgebraucht waren; dass es zu Ende ging. Sollte er es sofort tun? So wie man ein Pflaster am besten schnell abzog? Nein, dachte er, ein wenig Zeit musste er ihr und auch sich selbst schon noch geben, schließlich hatten sie fast fünf Jahre miteinander geteilt, und was ihn betraf, waren es beileibe nicht die schlechtesten fünf Jahre seines Lebens gewesen.

Ehe das Unvermögen, in die alte, alltägliche Nähe zurückzufinden, peinlich wurde, löste Gisela sich von ihm und wandte sich ab in Richtung Küche. »Ich mach uns Kaffee«, sagte sie, »setz dich schon mal ins Wohnzimmer. Ach, nein«, fiel ihr dann ein, »Kaffee darfst du ja keinen mehr trinken. Willst du Tee?«

»Irgendwas«, antwortete er nur, ging aber nicht ins Wohnzimmer, sondern in sein Arbeitszimmer.

Die Luft roch abgestanden. Gisela hatte vor seiner Abfahrt in die Kur den Schlüssel verlangt, damit sie ab und zu die Fenster öffnen und Staub wischen könne, aber er hatte ihn ihr verweigert, denn auch wenn es ihre Wohnung war, war das hier allein sein Reich. Jedes Ding lag noch genau an dem Platz, an den er es gelegt hatte. Der angefangene Drehbuch-Entwurf, die Schreibmaschine, der Korb mit der Post. Viele lose Zettel, auf die er Einfälle gekritzelt hatte. Sein Terminkalender, die zweite Januarwoche war noch aufgeschlagen. Am elften der Eintrag in Großbuchstaben: Gloria-Filmball.

Er öffnete das Fenster und blieb in der hereindrängenden Kälte stehen. Einzelne Schneeflocken irrten durch die Luft, im vergeblichen Versuch, sich der Schwerkraft zu entziehen.

An den Filmball erinnerte er sich gut. Den ganzen Abend über hatte er versucht, Romy Schneider abzupassen, um sie direkt auf die Rolle anzusprechen, die er ihr anbieten wollte: die Hauptrolle in dem Film Trümmermädchen. Noch nie war er einer Verfilmung seines Romans so nahe gewesen wie damals, und wenn ihm so ein Star auch nur vage zugesagt hätte, hätte das ihm und der Capitol Film, die den Streifen produzierte, weitere Türen zu einer gesicherten Finanzierung geöffnet. Dass Romy weg von ihrem Sissi-Image wollte, hin zu ernsten Gegenwartsstoffen, hatte sich herumgesprochen, das war das Pfund, mit dem er wuchern musste. Und dann hatte er sie wirklich erwischt, für einen Tanz, und er hatte all seinen Charme aufgeboten, obwohl er gleich gespürt hatte, dass Romy es nicht war: seine geliebte Magda, um die es im Roman und im Drehbuch ging, obwohl sie dort natürlich anders hieß. Romy war zu sehr das süße Mädel, ganz anders als Magda. Keine Schauspielerin, keine andere Frau würde ihr je gerecht werden. Doch egal, er wollte ohnehin nur Romys berühmten Namen auf der Liste. Sie allerdings verwies ihn an ihren Daddy: den Stiefpapa, der ihre Geschäfte regelte. Dieses Gespräch hätte er sich freilich sparen können. Daddy redete nur über Angebote aus Frankreich und Italien, ließ ihn, den unbedeutenden deutschen Autor, überdeutlich spüren, dass sein kleines Projekt längst unter Romys und damit auch unter seiner Würde war; und zum Schluss merkte er noch an, dass es auch Anfragen aus Hollywood für Romy gebe. Demnächst breche man zu einer Werbetour nach Amerika auf, um sein Goldstück drüben in den Staaten bekannt zu machen, vor allem New York sei dabei wichtig, weil dort die großen Fernsehsender ihre Studios hätten. New York … die Stadt, in der auch Magda mutmaßlich lebte. Das war der Moment gewesen, in dem Karl zum ersten Mal diesen stechenden Schmerz in der Brust gespürt hatte, einen Vorboten des Infarkts, wie er inzwischen wusste, den er damals aber nicht ernst genommen hatte. Und nun war alles anders, das Filmprojekt, überhaupt die Arbeit, ja, sein ganzes Leben, wie er es bis dahin geführt hatte, waren weit weg.

»Hier bist du.«

Karl drehte sich um. Gisela stand mit einer dampfenden Tasse in der Tür. Pfefferminztee, wie er im nächsten Moment roch. Er schloss das Fenster, nahm ihr die Tasse aus der Hand, stellte sie auf dem Schreibtisch ab und setzte sich.

»Kannst du mich noch kurz allein lassen?«, fragte er überfreundlich, weil ihm klar war, dass er sie damit vor den Kopf stieß – erneut, nachdem er schon die ganze Fahrt über wenig mit ihr geredet hatte. Sie sah ihn irritiert an, wahrscheinlich hatte sie erwartet, dass ihm nichts lieber war, als endlich wieder mit ihr auf dem Sofa zu sitzen oder gar im Bett zu liegen, und nun das. »Ich komm gleich«, fügte er rasch hinzu, »muss nur noch ein paar Sachen raussuchen, die schon zu lange liegen geblieben sind.«

Sie nickte nur und ging.

Erleichtert atmete er auf. Nein, lange würde er es hier nicht mehr aushalten. Ein paar Tage noch, mehr nicht. Es war nicht Giselas Schuld. Niemand hatte Schuld. Sie gehörten nur einfach nicht zusammen. Gisela hatte...

Erscheint lt. Verlag 23.2.2022
Reihe/Serie Die Karl-Wieners-Reihe
Die Karl-Wieners-Reihe
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 1958 • 50er Jahre • Alex Beer • Attentat • Babylon Berlin • Bücher für Männer • Buchgeschenk • Entführung • Frank GOLDAMMER • histokrimi • historischer Krimi • Kalter Krieg • Krimi Bestseller 2022 • Kriminalroman • Krimi Neuerscheinungen 2022 • München-Krimi • Nachkriegsdeutschland • Nachkriegsgesellschaft • Nachkriegszeit • Ralf Langroth • Spannung • Spionage • Volker Kutscher • Wirtschaftswunder • Zeitgeschichte • Zeitgeschichtlicher Kriminalroman
ISBN-10 3-10-491429-X / 310491429X
ISBN-13 978-3-10-491429-9 / 9783104914299
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