Gespenster-Krimi 80 (eBook)

Die Schreie der Toten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Aufl. 2021
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7517-2225-4 (ISBN)

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Gespenster-Krimi 80 - Michael Schauer
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'Hörst du sie, Agenor, hörst du die Schreie, die vom Meer herüberwehen? Er hatte recht, und ihr hättet ihn nicht fortschicken dürfen. Ich habe dich immer gewarnt. Sie werden kommen, Agenor, sie werden kommen. Um uns zu holen.'
Agenor presste die Lippen aufeinander. Trotz der milden Abendluft glänzte Schweiß auf seiner Stirn. Die Schreie waren nicht zu überhören. Sie überlagerten das Tosen der Wellen, das unaufhörliche Klatschen, mit dem sie sich am flachen Sandstrand brachen, und selbst das Heulen des Windes. Es waren Schreie, die von Verzweiflung kündeten, von unvorstellbarem Leid ...


Die Schreie
der Toten

von Michael Schauer

»Hörst du sie, Agenor, hörst du die Schreie, die vom Meer herüberwehen? Er hatte recht, und ihr hättet ihn nicht fortschicken dürfen. Ich habe dich immer gewarnt. Sie werden kommen, Agenor, sie werden kommen. Um uns zu holen.«

Agenor presste die Lippen aufeinander. Trotz der milden Abendluft glänzte Schweiß auf seiner Stirn. Die Schreie waren nicht zu überhören. Sie überlagerten das Tosen der Wellen, das unaufhörliche Klatschen, mit dem sie sich am flachen Sandstrand brachen, und selbst das Heulen des Windes. Es waren Schreie, die von Verzweiflung kündeten, von unvorstellbarem Leid ...

Eine Gänsehaut kroch über seine Arme, die feinen Härchen stellten sich auf. Doch er weigerte sich, seinen Fehler einzugestehen. Schon gar nicht vor der alten Frau. Wer hätte denn ahnen können, dass dieser Verrückte die Wahrheit gesprochen hatte?

Vielleicht waren die Schreie nur Einbildung. Ja, das musste es sein. Eine Sinnestäuschung, entstanden aus der Kakofonie des Sturms, des Meeresrauschens und des Regens, der bereits am Nachmittag eingesetzt hatte und seitdem keine Anstalten machte, auch nur ein wenig nachzulassen.

»Es ist eine Sinnestäuschung«, knurrte er und bedachte Despina mit einem herablassenden Blick, wie um zu bekräftigen, dass sie eine Närrin war, die sich alles nur einbildete. »Der Wind ist dafür verantwortlich. Der Wind und das Meer. Es ist wild heute Abend.«

Despina schüttelte den Kopf. Eine Träne glitzerte in ihrem Augenwinkel.

»Du irrst dich«, sagte sie leise. »Es sind die Schreie der Toten.«

Die Sonne hatte den Sand aufgeheizt, unter den nackten Füßen des Jungen schien er beinahe zu glühen. Er rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, damit seine Sohlen so wenig wie möglich mit dem Sand und den Kieseln in Berührung kamen. Als er endlich das Meer erreichte, atmete er erleichtert auf. Das kühle Wasser umspielte seine Knöchel, unter seinem Gewicht sanken seine Füße ein Stück weit in den nassen Sand ein. Wie angenehm das war.

Eine Weile blieb er stehen und sah den sanften Wellen zu. Wind und See konnten an den Stränden von Kreta rau sein. So rau, dass die Rettungsschwimmer an den Hotelstränden die roten Flaggen hissten, das Zeichen für die Touristen, nicht ins Wasser zu gehen. Aber an diesem heißen Augusttag war es nahezu windstill, und das Meer blieb ruhig.

Der Junge setzte die Taucherbrille auf, die ihm seine Mutter Eleni vor zwei Wochen zu seinem neunten Geburtstag geschenkt hatte. Wie eigentlich alle Kreter liebte er das Meer. Mindestens einmal am Tag stürzte er sich in die Fluten und nahm ein ausgiebiges Bad, selbst im Winter, wenn die Wassertemperatur auf unter zwanzig Grad sank.

Und er liebte es zu tauchen, auch wenn es an dem schmalen Strandabschnitt, der an sein Heimatdorf Selaka grenzte, nicht allzu viel im Meer zu sehen gab. Da waren die ebenso mächtigen wie glitschigen Steinplatten, auf denen man leicht ausrutschen konnte, wenn man im flachen Wasser auf sie trat. Außerdem waren oft kleine Fische unterwegs, die in Ufernähe nach Nahrung suchten. Manchmal trieben Plastiktüten oder anderer Unrat vorbei, unerfreuliche Zeichen der Anwesenheit menschlicher Zivilisation. Er sammelte den Müll dann immer ein und brachte ihn an Land.

Die Welt unter Wasser faszinierte ihn, und die Brille, deren Gummifassung im Sonnenlicht blau leuchtete, würde ihm eine große Hilfe dabei sein, sie zu erkunden. Vielleicht würde er eines Tages Meeresbiologe werden. Er wusste, dass es diesen Beruf gab. Sein Vater hatte ihm davon erzählt. Doch dafür würde er sein Heimatdorf verlassen müssen, um an einer Universität zu studieren. Der Gedanke daran ließ ihm das Herz schwer werden, denn er liebte sein Dorf. Aber eben auch das Meer.

Bis dahin war noch viel Zeit, pflegte er sich in solchen Momenten zu trösten.

Der Junge machte fünf schnelle Schritte. Als er bis zur Hüfte im Wasser stand, stieß er sich ab und begann zu schwimmen. Wenn seine Arme eintauchten, spritzte Wasser auf, und er spürte den salzigen Geschmack auf seinen Lippen, während er immer weiter hinausschwamm.

Kurz hielt er inne, um einen Blick Richtung Strand zu werfen. Seine Mutter war nirgends zu sehen. Wenn sie hier auftauchte und bemerkte, wie weit draußen er war, würde sie ihn mit Sicherheit zurückrufen. Sie war stets so besorgt, wie es eine Mutter um ihr einziges Kind nur sein konnte. Sie beäugte seine Leidenschaft für das Meer mit einer gewissen Skepsis, obwohl es doch zum Leben eines Kreters gehörte wie die Olivenbäume, von denen es etwa zwanzig Millionen auf der Insel gab.

Der Junge wusste, dass es ihr nicht leichtgefallen war, ihm die Taucherbrille zu schenken, weil sie sich natürlich denken konnte, dass das seine Leidenschaft nur noch befeuern würde. Aber sie wollte auch, dass er glücklich war. Seit sein Vater im vergangenen Jahr bei einem Unfall ums Leben gekommen war, hatten sie nur noch einander.

Er war jetzt gut vierzig Meter vom Ufer entfernt. Das Meer, wusste er, hatte hier eine Tiefe von etwa drei Metern.

Weit genug für heute, dachte er, holte tief Luft und tauchte.

Sofort wurde die Welt um ihn herum stumm. Er ließ seine Blicke durch die grünblaue Unterwasserwelt schweifen. Links von ihm schwamm ein einzelner kleiner Fisch vorbei, musterte ihn kurz und setzte dann mit hektisch zuckender Schwanzflosse seinen Weg fort.

Wie er es genoss, eins mit dem Meer zu sein.

Was war das?

Aus dem Augenwinkel hatte er etwas erhascht. Etwas Großes. Er wandte den Kopf, und dann sah er es. Da war ein Schiff. Ein Schiff auf dem Meeresgrund. Der schlanke Rumpf mochte etwa zwanzig Meter lang sein. Der Mast war gebrochen, lag halb über der Reling und halb auf dem Meeresboden. Das Segel hatte er unter sich begraben. Der weiße Stoff wogte in der Strömung hin und her. Um das Schiff herum lagen einige längliche Gegenstände, die wie Ruder aussahen.

Die Luft wurde ihm knapp, und er tauchte auf. Gierig sog er den Sauerstoff in seine Lungen und dachte gleichzeitig nach. Das Schiff sah alt aus, sehr alt. Wie lange mochte es wohl schon dort unten liegen? Und wieso hatte es noch nie jemand entdeckt? Es gab in Selaka zwei Fischer, die jeden Tag rausfuhren. Hätte ihnen das Wrack nicht auffallen müssen? In dem klaren Wasser hätten sie zumindest die Umrisse sehen können.

Offenbar nicht.

Also war er der offizielle Entdecker.

Aufregung erfasste ihn. Er musste zurückschwimmen und es seiner Mutter erzählen.

Ob es da unten einen Schatz gab? Vielleicht handelte es sich um ein Piratenschiff.

Er hatte mal einen Film gesehen, in dem eine Gruppe Kinder beim Tauchen auf ein Schiffswrack gestoßen war, genau wie er jetzt. Der Laderaum war voll mit Münzen und Juwelen gewesen.

Der Wind strich über sein Haar, das nass an seinem Schädel klebte. Er war stärker geworden, und der Junge spürte, wie das Meer zunehmend in Bewegung geriet. Er musste zurück ans Ufer, bevor die Wellen zu hoch wurden. Zwar war er ein geübter Schwimmer, aber er wusste seine Kräfte einzuschätzen. Bei zu starkem Seegang würde das Meer ihn irgendwann an sich reißen und ihn immer weiter hinaustreiben.

Aber zuerst musste er nach dem Schatz sehen. Wenn er etwas fand, vielleicht eine Kette oder auch nur eine einzelne Münze, konnte er sie seiner Mutter zeigen und ihr beweisen, dass er sich seine Entdeckung nicht ausgedacht hatte. Neben seiner Leidenschaft für das Meer war seine ausgeprägte Fantasie etwas, das sie zunehmend zu beunruhigen schien, je älter er wurde. Sie sprach es nie aus, aber er ahnte, dass sie es lieber gesehen hätte, wenn er sich für ein Handwerk oder die Landwirtschaft begeistern würde.

Er holte noch einmal tief Luft und verschwand im nächsten Moment unter Wasser. Mit kräftigen Zügen schwamm er auf das Wrack zu. Als er direkt darüber schwebte, hielt er inne. Durch das Glas der Taucherbrille konnte er die Ruderbänke und das große Ruderblatt am Heck erkennen. Ein Fischschwarm schwamm an der Reling entlang. An einigen Stellen hatten sich Algen auf dem dunklen Holz abgesetzt. Wie lange ist es wohl her, dass Menschen über dieses Deck gelaufen sind, dachte er. Wer waren sie gewesen? Wohin hatten sie gewollt?

Das ist jetzt nicht wichtig, mahnte er sich. Er musste den Schatz finden. Tief in seinem Inneren hatte er beschlossen, dass sich einer an Bord befand. Es musste einfach so sein.

Er überlegte, ob er noch einmal Luft holen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Seine Lungen waren kräftig und geübt. Mit der verbliebenen Luft würde er auf jeden Fall näher heranschwimmen können, in der Hoffnung, irgendwo ein verräterisches Glitzern zu entdecken.

Da bemerkte er die Bewegung.

Unwillkürlich kniff er die Augen zusammen.

Ja, da war etwas. An der Stelle, an der sich der abgebrochene Mast befand. Eine Gestalt. Ein anderer Taucher? Jetzt trat sie einen Schritt zur Seite, sodass der Junge sie genau sehen konnte.

Eine eiskalte Hand schien sich um sein Herz zu legen.

Die Gestalt war so groß wie ein erwachsener Mann und trug ein zerschlissenes Gewand, das ihr bis knapp über die Knie reichte. Ihre Haut glänzte pechschwarz und hing...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2021
Reihe/Serie Gespenster-Krimi
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2017 • 2018 • Abenteuer • alfred-bekker • Bastei • Bestseller • Dämon • Dämonenjäger • dan-shocker • Deutsch • eBook • E-Book • eBooks • Extrem • Fortsetzungsroman • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Gruselkabinett • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • horrorserie • Horror-Thriller • john Sinclair • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • larry-brent • Lovecraft • Macabros • Männer • morland • neue-fälle • Paranomal • professor-zamorra • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • sonder-edition • spannend • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony-Ballard • Top • Zaubermond
ISBN-10 3-7517-2225-4 / 3751722254
ISBN-13 978-3-7517-2225-4 / 9783751722254
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