Erde 0 (eBook)
416 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45755-9 (ISBN)
Micaiah Johnson wuchs in der kalifornischen Mojave-Wüste auf, umgeben von Bäumen namens Joshua und Frauen, die Geschichten erzählten. Sie erhielt ihren Bachelor of Arts in kreativem Schreiben an der University of California, Riverside, und ihren Master of Fine Arts in Literatur an der Rutgers University - Camden. Derzeit promoviert sie an der Vanderbilt University, wo sie sich mit 'Critical race theory' und Robotern beschäftigt. Ihr Debütroman 'Erde 0' war ein Sunday Times Bestseller, New York Times Editor's Choice, und gehört zu NPRs besten Büchern 2020.
Micaiah Johnson wuchs in einer Gemeinschaft der Zeugen Jehovas in der Wüste Südkaliforniens auf. Sie schloss die High School mit 13 Jahren ab und machte ihren Masters of Fine Arts an der Rudgers Universität in Camden. Aktuell studiert sie Amerikanische Literatur an der Vanderbilt Universität und beschäftigt sich dabei besonders mit "Critical race theory" und Robotern.
Kapitel zwei
Seit einer Stunde fahre ich durch die Wüste, als der Truck hinter mir zu dicht auffährt. Ich bin darauf vorbereitet, angehalten zu werden, aber insgeheim überrascht es mich doch. Von der Grenzpolizei angehalten zu werden, ist etwas für Auswärtige, und der Mann, der mit einem Silbergrinsen an meine Wagentür schlurft, ist der Beweis dafür, dass ich es zu etwas gebracht habe. Seine Zähne sagen mir, dass er ein Leutnant von Nik Nik ist. Wäre eine gute Partie für mich gewesen, als ich noch hier war. Wie alle Runner riecht er nach Schmutz und Sonne. Bis zum Kinn hinauf ist er mit Tätowierungen übersät, doch da enden die Tattoos abrupt. Diese Zurschaustellung von Eitelkeit wundert mich. Heutzutage achte ich eher auf Klamotten, Frisuren und teure Handgelenk-Manschetten, aber dieser viel zu hübsche Runner erinnert mich daran, dass ich als junges Ding nichts lieber getan hätte, als Silberzähne zu lecken.
»Herrliches Wetter für einen Tagesausflug«, sagt er, als herrschten nicht dieselben vierzig Grad mit Option auf heißen Wind, die wir hier draußen immer haben.
»Kein Tagesausflug.«
Ich weiß nicht, wann sich meine Haltung verändert hat, wann meine Stimme tiefer geworden ist, aber als ich ihm direkt ins Gesicht schaue, möchte ich, dass er mich als Einheimische erkennt – und fast genauso sehr möchte ich es nicht. Ich wünschte, ich würde ihn kennen, wüsste den Namen, mit dem seine Mutter ihn gerufen hat, um ihm den ins Gesicht zu schleudern. Nik Niks Runnerinnen heißen alle Mister irgendwas – Mister Bones, Mister Shine –, aber ich wette, er ist ein Angelo.
»Für Schaulustige aus Wiles beträgt die Maut dreihundert.«
»Du meinst zweihundertfünfzig.«
»Harte Zeiten.«
»Ich war erst kürzlich hier.«
»Dreihundert.«
Ich greife in mein Handschuhfach und hole das Geld heraus, genau wie beim letzten Mal, aber ich werde auch künftig mein Glück probieren und feilschen, bis es mal klappt.
Er nimmt die Kohle mit einer leichten, edelmännischen Verneigung. »Viel Spaß in Big Ash.«
Als er weggeht, räuspere ich mich.
»Meine Quittung.«
»Mr Cheeks«, sagt er. »Sag dem Nächsten, dass du schon bezahlt hast.«
Meine Mutter wohnt in einem Bauernhaus in den Bauernhöfen, in denen es nie echte Bauern gegeben hat. Es handelt sich um einen Teil von Ashtown, der sich für eine Unterabteilung hält, obwohl das Einzige, was ihn von den aufeinandergestapelten Betoncontainern der restlichen Stadt trennt, ein Holzzaun ist – und eine Absprache zwischen den Leuten auf beiden Seiten des Zauns. Bei den Leuten von den Bauernhöfen dreht sich alles um Wohltätigkeit, Frömmigkeit und Religion. Bei den Leuten aus der Innenstadt von Ashtown dreht sich alles um alles andere.
Hier draußen gibt es nicht viele Autos – selbst die Runner lassen ihre Wagen meistens auf der anderen Seite des Zauns – und manchmal, wenn ich hierherfahre, laufen Kinder, so lange sie durchhalten, neben mir her und strecken die Hände aus, um den Lack zu berühren. Heute jedoch nicht. Heute sind sie alle drinnen, haben sich in ihre Hütten zurückgezogen und sprechen Dankgebete in Vorbereitung auf die Weihe.
Das Haus meiner Mutter befindet sich tief im Inneren der Siedlung, wo der weißgraue Sand am Stadtrand eine natürliche Sonnenbräune annimmt. Für das Fest ist die Fassade getüncht worden, der Gipsabdruck der Maria ist sauber gewischt. Es ist die Mutter-Jesu-Maria, nicht die Prostituierte, die ihm die Füße wäscht – welch verpasste Gelegenheit, bedenkt man die Lebensgeschichte meiner Mutter. Maria neigt den Kopf zu einem Flöte spielenden Krishna, dessen gütiges Lächeln so leer ist wie das Lächeln aller Ruraliten, wenn sie es mit Fremden zu tun haben. Und mit mir. Mein Stiefvater predigt meistens mehr aus dem Islam als aus dem Hinduismus, aber für den gibt es keine Statue.
Meine Mutter lässt mich herein, ihr Mund bildet eine schmale Linie, so gerade und ungebogen wie ihre Prinzipien. Ihr schwarzes Haar, Haar des Typs 4c – ich weiß, dass es zweimal so voluminös ist wie meines –, hat sie hinten zu einem straffen Dutt gebunden, sodass es ganz glatt aussieht. Ihr gemustertes Kleid ist sauber, aber schon ganz dünn vom vielen Waschen. Da es nicht geflickt ist, muss es eines ihrer besten Kleider sein. Ich könnte ihr Kleider kaufen. Ich könnte dafür sorgen, dass sie den Hochglanz-Lifestyle bekommt, den sie von ihren Typen immer verlangt hat, bevor sie diesem Prediger aus dem Staub hinterhergelaufen ist. Doch heutzutage will sie nichts mehr von mir annehmen, noch nicht einmal eine Umarmung.
Sie hat den Blick gesenkt. Sie hat ihn immer gesenkt. Diese Frau, die keinen Rock trägt, der nicht übers Knie geht, und keinen Lippenstift, der etwas kräftiger ist, schweigt fast immer. Früher ist meine Mutter aufgefallen, ihre Haare waren ihren Launen gemäß gestylt und gefärbt, und sie wusste, wie sie Männer anzuschauen hatte, um zu bekommen, was sie wollte.
»Du bist früh«, sagt sie. »Das ist schön.«
»Ich muss heute nicht arbeiten«, sage ich, aber sie dreht sich bereits um, um mich hineinzuführen.
Ich habe sie schon in hundert Varianten gesehen – mit rasiertem Kopf, mit Haaren bis auf den Rücken, mit Piercings über den Augenbrauen, auf einem Auge blind, pockennarbig und ohne Zähne und selbst als gut erhaltene Chefin des Hauses, die so viel verlangen konnte wie die Jüngeren, weil sie keine Drogen nahm und auf sich aufpasste –, aber diese Version hier behagt mir am wenigsten. Sie verbringt ihre Zeit damit, in der Innenstadt Broschüren zu verteilen, stellt die Arbeitenden im Haus an den Pranger, die sich um mich gekümmert haben, wenn sie es mal wieder nicht schaffte, die mir so oft das Leben gerettet haben, dass es diese Version von mir bis ins Erwachsenenalter geschafft hat.
Die Wände im Haus sind mit Heiligenbildern bedeckt. Als wir arm waren, war meine Mutter wenigstens einfallsreich gewesen und hat den Beton mit derselben Farbe bemalt, mit der sie ihre Haare gefärbt hat. Jetzt sind ihre Wände gerastert, und Familienbilder – die altmodischen Hologramme, die im Alter anfangen zu flackern – wechseln sich mit religiösen Symbolen ab. Die interessanteren Sachen an der Wand – getrocknete Tierknochen und Gemälde von Wesen, die Schädel statt Gesichtern haben – stammen aus Esthers Glaubensschatz. Mein Stiefvater liebt Bibel und Koran, aber meine Schwester hält fast so viele Predigten wie er, und sie bevorzugt weniger gebräuchliche Religionen, darunter welche, für die es gar keine zentrale Schrift gibt.
»Joriah kann doch nicht kommen«, sagt meine Mutter, und ich atme die Befürchtungen aus, die ich insgeheim gehegt habe. Dann muss ich nicht den ganzen Tag so tun, als ob. Zumindest nicht mehr als sonst.
Sie wendet sich von mir ab. »Wir haben Besuch«, sagt sie.
Sie sagt nicht: Caramenta. Sie schämt sich, dass sie ihrer Tochter einen Slum-Namen gegeben hat. Mein Stiefvater heißt Daniel. Seine Kinder Esther und Michael. Meine Mutter kam als Mellorie zur Welt. Aber die Sexarbeiterinnen in Ash führen immer ein X in ihrem Namen, deshalb hieß sie schon vor meiner Geburt Lorix. Hier und jetzt heißt sie schlicht Mel.
Mein Stiefvater kommt herein und lächelt breit und aufrichtig. Er ist blond wie seine Tochter. Das ist wie ein Aushängeschild. Echte Wileyaner haben weißes Haar und so blasse Haut, dass sie schon ins Bläuliche geht. Daniels Haar erinnert die Gemeinde daran, dass sein Urgroßvater aus freien Stücken aus der Stadt hierhergekommen ist, nicht als Geflüchteter oder Einwanderer, sondern als Missionar.
Er umarmt mich forsch und zögert anders als meine Mutter nicht, mir in die Augen zu blicken. »Du konntest es einrichten. Was hältst du von der Krawatte? Etwas stillos?«
Normalerweise trägt er eine Tunika wie alle Männer auf den Bauernhöfen, aber heute kommen Auswärtige, und da möchte er sich wie sie kleiden. Seine Krawatte ist voller grinsender Fische, die in unterschiedliche Richtungen schwimmen.
»Willst du heilig und nahbar rüberkommen oder vollkommen geschmacklos?«
Er tut so, als würde er darüber nachdenken. »Beides?«
»Dann ist sie perfekt.«
»Dachte ich mir«, sagt er und deutet mit einem Nicken über die Schulter. »Die Zwillinge sind im Hinterhof.«
Draußen erkenne ich Esther und Michael. Sie führen ein Gespräch, wie es bestimmt nur Zwillinge führen können. Esther schaut ihn flehentlich an, Michael macht eine fest entschlossene Miene. Sie scheinen sich ohne Worte zu verstehen. Mit seinen schwarzen Haaren wäre Michael in der Familie der Außenseiter, wenn Mom und ich nicht aufgetaucht wären. Michael ist nett zu mir, aber nicht so, als wären wir Familie, nicht so, als würde er mir irgendwann einen Spitznamen geben oder mich mitten in der Nacht anrufen. Die Zwillinge erinnern sich nicht an ihre Mutter, eine Frau, deren Gesicht und Vergangenheit viel besser zu ihnen passte, als meine Mutter es je tun wird. Aber ich habe mich über sie erkundigt. In den Welten, in denen ihre Mutter überlebt hat, hat meine die Innenstadt nie verlassen und Dan nie getroffen.
Sie setzen ihre Unterhaltung fort, und der Wind trägt Esthers erhobene Stimme ans Fenster. Ich wende mich ab und versuche mich daran zu erinnern, wann mir das letzte Mal eine Sache so wichtig gewesen ist, dass ich deswegen geschrien habe.
In...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2021 |
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Übersetzer | Simon Weinert |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | action • Adam Bosch • alternative Realitäten • alternative Welten • Armut • Außenseiterin • Behörde • Bisexualität • Bisexuell • bisexuelle Hauptfigur • cara • Diversity • Diversity Buch • dystopie erwachsene • Dystopische Science Fiction • Erde 0 • Fantasy Science Fiction Bücher Diversität • Fremde Welten • für Fans von Marvel Loki • Geheimnis • gesellschaftliche Ausgrenzung • Intrigen • LGBT • Liebesgeschichte • Multiversum • Nik Nik • Pageturner • Parallelreisen • Paralleluniversen • Parallelwelten • person of color • Privilegien • Protagonistin of Color • queere Figuren • Queere Science Fiction • Queerness • Reisen zwischen den Welten • roman science fiction • Science Fiction Abenteuer • science fiction bücher • Science Fiction Debüt deutsch • Science Fiction für Jugendliche • Science Fiction Neuerscheinungen 2020 • Science Fiction Neuerscheinungen 2021 • SF • sf bücher • SF Bücher deutsch • sf romane • Sicience Fiction • SiFi Bücher • Soziale Ungleichheit • Space between Worlds deutsch • Spionin • starke Protagonistin • Sunday Times Bestseller • Verschwörung • Weltenwanderer • Weltenwanderin • Wiley City |
ISBN-10 | 3-426-45755-5 / 3426457555 |
ISBN-13 | 978-3-426-45755-9 / 9783426457559 |
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