Sämtliche Essays und Reden Band 3 (eBook)

Band 3: Nachdenken über den blinden Fleck (1991-2010)

(Autor)

Hilzinger Sonja (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2021 | 1., Originalausgabe
500 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76932-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sämtliche Essays und Reden Band 3 - Christa Wolf
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1973 erklärte Christa Wolf, dass für sie kein grundsätzlicher Unterschied bestehe zwischen ihrer Prosa und ihrer Essayistik, denn deren gemeinsame Wurzel sei »Erfahrung, die zu bewältigen ist: Erfahrung mit dem ?Leben?, mit mir selbst, mit dem Schreiben, das ein wichtiger Teil meines Lebens ist, mit anderer Literatur und Kunst. Prosa und Essay sind unterschiedliche Instrumente, um unterschiedlichem Material beizukommen«. Das sind auch die Themen ihrer Essays und Reden, die in der chronologischen Reihenfolge ihres Entstehens in dieser Ausgabe versammelt sind. Christa Wolf bezieht als kritische Zeitgenossin Position, setzt sich mit poetologischen Reflexionen über ihr Selbstverständnis als Autorin auseinander und nähert sich über wesentliche Berührungspunkte Gefährt:innen und Kolleg:innen an.



<p>Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorz&oacute;w Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-B&uuml;chner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.</p>

Wo ist euer Lächeln geblieben?


Brachland Berlin 1990

Der Wahnsinn kann auch von außen kommen, auf die einzelnen zu, ist also schon viel früher von dem Innen der einzelnen nach außen gegangen …

ingeborg bachmann,

Ein Ort für Zufälle

Lieber Dieter Bachmann, ist Berlin »Brachland«? Die Frage steckt mir im Kopf, seit Sie mir – das ist mehr als eine Woche her und war nach der Trauerfeier für Max Frisch – den Titel Ihres nächsten Heftes genannt und mich moralisch unter Druck gesetzt haben, einen Beitrag dafür zu liefern. Nun ist es eine Binsenweisheit, daß man um so schwerer über einen Gegenstand schreiben kann, je näher er einem ist; aber, so dachte ich leichtsinnig am nächsten Vormittag, vielleicht ist es nun an der Zeit, auszuprobieren, wie weit ich dieses vermaledeite Berlin schreibend schon von mir wegrücken kann, und es kam mir gar nicht so schwierig vor, während wir bei heller Sonne durch Zürich gingen, durch die schmalen Gassen der Altstadt, über die Limmat, die Bahnhofstraße entlangschlenderten, am Ufer des Zürcher Sees saßen, der wahrhaftig »blinkte«, und, fast schon klischeehaft, in der »Kronenhalle« zu Mittag aßen, gegrillten Lachs. Ach, wie mir diese schöne saubere reiche Stadt auf einmal gefiel, so sehr, daß ich außer einer unbestimmten Sehnsucht eine Art Neid in mir wahrnahm, Neid auf eine jedenfalls äußerlich heile Welt, Neid vielleicht auch auf jene Glücklichen, die von Geburt und Schicksal dazu bestimmt sind und denen es auch gelingt, auf Dauer unangefochten in ihr zu leben und sie in vollen Zügen zu genießen. Ich aber weiß, daß ich für beides verdorben bin. Denn wo ich auch sein mag – es dauert nicht lange, dann spüre ich, wie meine innere Kompaßnadel anfängt, sich zu rühren, sich immer energischer nach ihrem Magnetpol auszurichten, bis am Ende die nachzitternde Spitze der Nadel nach Berlin zeigt. Etwas in mir zieht sich schmerz- und lustvoll zusammen, wenn, am Abend unseres Zürcher Tages, die Maschine der Swissair zur Landung ansetzt, die westlichen Vororte Berlins auftauchen und dann – flach, sehr flach – die ganze Stadt überschaubar unter mir liegt, von Tegel bis zum Fernsehturm am Alexanderplatz. Dieses kaputte Berlin, nach dem ich süchtig bin, das merke ich eben, während ich diese Sätze schreibe – im tiefsten Mecklenburg übrigens, in der Naturstille der Entziehungsstation. Denn in Berlin zu arbeiten ist fast unmöglich geworden. Es zerfetzt einen.

Wenn ich Sie recht verstanden habe, legen Sie Wert auf Lokalkolorit und Momentaufnahmen. Nun, der Taxifahrer, der uns nach Hause fuhr, kam aus dem Osten und war sehr gesprächig, auch aus Freude darüber, daß er wider Erwarten Fahrgäste gefunden hatte. Ein seltener Fall, sagte er; die kurze Erholungspause für sein Gewerbe nach dem Totaleinbruch durch die Währungsunion voriges Jahr sei vorbei. Haben Sie die neuen Arbeitslosenzahlen gehört? Na, dann wissen Sie ja, warum bei uns keiner Taxi fährt. Auch nicht am Wochenende, bei Nacht, wo früher Hochkonjunktur war. Wie abgeschnitten, sage ich Ihnen. Und die Straßen leer. Kein Mensch geht mehr in die Kneipen … Wem wir jetzt gehören? VEB Taxi ist lange perdu, uns hat ein Taxiunternehmer von drüben gekauft, mit Mann und Maus, aber ohne Wagen: Da hat er uns neue geliefert, in unsere Wartburgs und Ladas stieg ja kein Kunde mehr ein. Aber sonst … Das erste war: Alle Vergünstigungen gestrichen. Natürlich keine Kantinenverpflegung mehr – war ja spottbillig, früher –, auch nachts kein belegtes Brot mehr, oder einen Kaffee, wenn man todmüde auf den Hof kommt. Dafür wird knallhart gerechnet. Wenn's einen Monat mal nicht so spurt, wirst du vermahnt, wenn's dann im zweiten nicht besser wird, kannst du gehn. Ein einziger Streß, das Ganze, und die Solidarität unter den Kollegen geht langsam, aber sicher den Bach runter, und das alles für tausend Mark im Monat. – Meine Frau? Nee, die ist arbeitslos. Das Lokal, in dem sie Serviererin war, hat zugemacht. Jetzt läuft sie sich die Hacken ab. Im Westen gucken die sie bloß an: Wie alt sind Sie? Sechsundvierzig? Bedaure. Sie ist sogar auf Annonce zu einer Schokoladenfabrik hin, aber da waren Himmel und Menschen, die konnten sich ja die zehn Jüngsten aussuchen. Da hatte sie gar keine Chance.

Das waren wir ja alles nicht gewöhnt.

Warum ich nicht mehr im Westen fahre? Hab' ich auch erst gedacht, wo wir doch nun endlich eins sein sollen. Aber ich bin da eigen: Ich lass' mir nicht gerne dumm kommen. Da gibt es Fahrgäste, die rasten gleich aus, wenn man nicht weiß, wo eine Straße ist, aber wie soll ich den Stadtplan von West-Berlin schon im Kopf haben? Und die Kollegen – für die sind wir doch nur Konkurrenz. Neulich hab' ich mal einen nach dem Weg gefragt, sagt der doch glatt: Hast du keinen Stadtplan? Na danke schön, Kollege, hab' ich ihm geantwortet. Vielleicht kann ich dir auch mal im Osten behilflich sein.

Nee, das läuft nicht gut, das läuft ganz und gar nicht gut. Wir sind doch für die bloß die Doofen. Oder sehen Sie das anders?

»Brachland Berlin?« Brachland im Wortsinn ist ja in dieser dichtbesiedelten »Stadtlandschaft« (was für ein Euphemismus!) nur der breite Nord-Süd-Streifen, einst (»einst?« Vor anderthalb Jahren!) mit den Grenzanlagen besetzt, deren symbolträchtiges Kernstück die Mauer war; ihr Umland, unbetretbar für normale Sterbliche, entwickelte sich zu einem Biotop, das nach Plänen von Umwelt- und Künstlergruppen mitten in der täglich vom Verkehrsinfarkt heimgesuchten Großstadt zu einer Parklandschaft werden könnte, »ein Band, das sich als ein üppiges, wachbleibendes Grün durch die Stadt zieht. Ein Band gegen Erfolgsjagd, Statussymbol, Profit, Karriere und Konsum.« Da sehen Sie es, was für wirklichkeitsfremde Träume hier und da in dieser Stadt immer noch ausgebrütet werden. »Es scheint«, schreibt ein Kollege dazu in einer der neu gegründeten und noch nicht wieder eingegangenen (Ost-)Berliner Zeitschriften, »als wäre Berlins weltstädtischer Anspruch zu hoch, um sich einen breiten wilden Grünstreifen ohne kommerzielles Fieber quer durch die Stadt leisten zu können. Wer die hier brachliegenden Kapitalanlagemöglichkeiten ignoriert, wird zwar geachtet: als Exot.«

WO IST EUER LÄCHELN GEBLIEBEN? hat vor gut einem Jahr einer der damals noch zahlreichen Vertreter der Volkspoesie an eine zentral gelegene Hauswand in Pankow gesprüht. Die Leute, die gerade hier aus der von Stadtmitte kommenden Straßenbahnlinie 46 steigen, mit ihren seit langem wieder verschlossenen Gesichtern, müssen unwillkürlich lächeln, wenn sie die Inschrift lesen. Aber es ist kein Originallächeln. Es ist ein etwas mattes Erinnerungslächeln, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ja aber, wenden Sie mit Recht ein, ist vielleicht Lächeln irgendwo auf der Welt ein Normalzustand, den man einfordern könnte?

Nicht doch. Alles, was ich behaupte, ist: Hier, in dieser Stadt, die in der uns überschaubaren Geschichte nicht allzuviel zu lachen hatte, wurde einige Wochen lang auf den Straßen und Plätzen, in den Schuhgeschäften und Verkehrsmitteln, in den Parks und sogar auf Krankenstationen gelächelt. Die zumeist jungen Leute, die mit ihren Kerzen um die Gethsemanekirche herumstanden und -saßen, hatten im September 89 damit angefangen. Lächeln und skandieren: Keine Gewalt! Das stört eine jede Staatsmacht, die verlangen kann, daß diejenigen, die ihr Widerstand leisten wollen, das wenigstens ernsthaft und gewalttätig tun: Darauf ist der Staat eingerichtet, in diesem günstigen Fall passen die Formen des Widerstands in die Formen seiner Bekämpfung. Aber ein Staat, der Tausende martialisch ausgerüsteter Sicherheitskräfte, der Wasserwerfer und schwere Technik gegen ein paar hundert kerzentragende Keine-Gewalt-Rufer einsetzt, der macht sich schon ein bißchen lächerlich. Zwar hören die auf zu lächeln, die eine Nacht lang in einer Garage an der Wand stehen müssen oder auf einem Polizeirevier zusammengeschlagen werden, aber es gibt, wenn auch sehr selten, historische Momente, in denen höchst unwahrscheinliche Komponenten derart zusammentreffen, daß auch den Befehlshabern und Ausführenden solcher Exzesse später das Lachen vergeht. Ich habe sie alle dasitzen sehen, im Großen Sitzungssaal des Roten Rathauses, Generale und Oberste und Majore und Hauptleute, wie sie der Untersuchungskommission, der ich angehörte, Rede und Antwort standen, nicht viel begriffen und oft die...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bundesrepublik Deutschland • Christa Wolf • DDR • Essays • Frau • Gesellschaft • Kultur • Literarische Annäherungen • Literatur • Mauerfall • Öffentlichkeit • Politisches Schreiben • Schriftstellerin • Sinsheimer-Literaturpreis 2005 • ST 5160 • ST5160 • suhrkamp taschenbuch 5160 • Themen der Zeit • Thomas-Mann-Preis 2010 • Uwe-Johnson-Preis 2010 • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-518-76932-4 / 3518769324
ISBN-13 978-3-518-76932-4 / 9783518769324
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