Heimreisen (eBook)
544 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01154-0 (ISBN)
Golo Maurer, geboren 1971 in München, hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München Kunstgeschichte, Klassische Archäologie, Alte, Mittlere und Neuere Geschichte studiert. 2014 habilitierte er sich im Fach Kunstgeschichte an der Uni Wien. Seit Oktober 2015 leitet Maurer die Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte, Bibliotheca Hertziana in Rom. Bei Rowohlt erschien 2021 «Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst» - «ein fulminantes Buch», urteilte «Die Zeit».
Golo Maurer, geboren 1971 in München, hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München Kunstgeschichte, Klassische Archäologie, Alte, Mittlere und Neuere Geschichte studiert. 2014 habilitierte er sich im Fach Kunstgeschichte an der Uni Wien. Seit Oktober 2015 leitet Maurer die Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte, Bibliotheca Hertziana in Rom. Bei Rowohlt erschien 2021 «Heimreisen. Goethe, Italien und die Suche der Deutschen nach sich selbst» – «ein fulminantes Buch», urteilte «Die Zeit».
Goethe also
Vor vielen Jahren fuhr ich das erste Mal nach Rom. Dass dies genau zweihundert Jahre nach Goethe geschah, war reiner Zufall, ich habe es erst jetzt beim Nachrechnen gemerkt. Aus einem mir unbekannten Grund fühlte ich mich verpflichtet, kurz vor der Abfahrt am Münchner Hauptbahnhof Goethes Tagebuch einer Reise nach Italien zu kaufen. Ich war, das muss man dazu sagen, noch nicht 15 Jahre alt. Im Liegewagen, daran erinnere ich mich noch, habe ich darin herumgeblättert, aber wirklich gelesen habe ich es nicht. Nur ein Satz aus dem ersten Brief, den Goethe von Rom nach Weimar geschrieben hat, ist hängengeblieben: «Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt!» Das leuchtete mir ein, auch ich fuhr dorthin, und ich habe diesen Satz dann stolz meinen römischen Gastgebern zitiert. Vielleicht lag darin ja auch der Antrieb für den Buchkauf.
Goethe also, und Rom. Dort meinte man es gut mit mir. Das Programm der ersten Tage war jenem Goethes ziemlich ähnlich: Ruinen, Kunst und Künstler. Mit dem Archäologen Corrado Stibbe (1925–2019) waren wir auf dem frühlingshaften Forum Romanum voller Blumen, Schmetterlinge und Eidechsen, horchten in einen vergitterten Abgrund, aus dem die Cloaca Maxima leise aus der Antike emporrauschte. Der Akanthus blühte, der Lorbeer stand hoch, die Mauersegler kreisten im blauen Himmel. Dann bei einem deutschen Maler, dessen an die Ateliertür in kleinen Lettern gemalter Name mir als «Kopp» in Erinnerung ist und der an einem ziemlich großen Bild arbeitete, eine unendliche Steinwüste darstellend. Das Bild war fast fertig. Schließlich beim Maler Fabrizio Clerici (1913–1993), der mit Mitte siebzig nur noch schlecht sah und mit Hilfe eines riesigen Vergrößerungsglases an einer seiner zerbrechlichen, melancholisch-schaurigen Zeichnungen arbeitete.
Und dann kam er, Goethe, oder besser, wir gingen zu ihm, nämlich in seine Wohnung am Corso. Der deutsche Staat hatte sie kürzlich erworben mit der Absicht, dort ein kleines Goethe-Museum einzurichten, die heutige Casa di Goethe. Um sicher zu sein, auch die richtige Wohnung erwischt zu haben, bat man Christoph Frommel, den damaligen Direktor der Bibliotheca Hertziana (dem römischen Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte), um flankierende Recherche. Tatsächlich fand dieser in den stati delle anime, dem vom Bezirkspfarrer im 18. Jahrhundert regelmäßig aktualisierten Seelen-Register, einen «Giovanni Filippo Moeller» auf eben jene Adresse eingetragen. Das war Goethe, so hatte er sich in Rom genannt.
Die Wohnung stimmte also. Blieb die Frage, welches nun sein kleines Zimmerchen gewesen war, von dem er so liebevoll berichtet. Darüber sagen die Seelen-Akten nichts. Um diese Frage zu klären, brachte Frommel den Dichter Wilhelm Deinert (1933–2012), gerade Ehrengast der Deutschen Akademie Villa Massimo, zu einem Ortstermin in die Goethe-Unterkunft. Ich durfte mit. Die Wohnung war damals eine wüste Baustelle, wo man mit Presslufthämmern zugange war. Der aufgebrochene Estrich lag in Trümmern, dessen feinere Partikel schwebten durch die Luft. Es roch nach süßem Zement und schwitzenden Bauarbeitern. Wo also Frommels Wissenschaft nicht weiterkam, begann die Arbeit des Dichters, der aus dickem Draht gebogene Wünschelruten mitgebracht hatte. Die Arbeiter hielten bei unserem Erscheinen in ihrer Tätigkeit inne und verfolgten, auf ihre Schaufeln und Hacken gestützt, das sich nun bietende Schauspiel mit dem gelassenen Interesse, das die Römer seit tausend Jahren dem Auftritt der Fremden reservieren. Deinert schritt, das malerisch raubvogelhaft geschnittene Haupt erhoben, die Augen geschlossen und die Arme mit den Drähten ausgestreckt, langsam über den Schotter hinweg. In einem der Zimmer schließlich meldete sich das kunstvoll gebogene Eisen und dessen Halter erklärte mit fester leiser Stimme, dass hier Goethes Bett gestanden habe. Nach allem, was man sonst hat herausfinden können, schien das zumindest nicht ausgeschlossen und so reihte sich das Zimmerchen als jüngstes Glied in die lange Kette römischer Wallfahrtsorte, aufgesucht vor allem von Mitgliedern der deutschsprachigen Goethegemeinde. Hier also war er, hier stand er, hier lag er, hier hat er.
Es wäre leicht, sich über das Bedürfnis nach solchen Gewissheiten lustig zu machen, nichts liegt mir ferner. Der genius loci ist immer verehrungswürdig, auch wenn die Bundesbaudirektion sich in diesem Fall alle Mühe gegeben hat, ihn gründlich auszuräuchern. Die römische Goethe-Wohnung könnte, von innen gesehen, auch in Bonn liegen, mittlere Eighties. Und doch ist der Ort noch derselbe und steht für eine der folgenreichsten – aber auch folgenschwersten – Konstruktionen der deutschsprachigen Geistesgeschichte, nämlich für das, was als Goethes Italienische Reise schon die Zeitgenossen beschäftigt hatte. Denn das Zimmerchen am Corso wurde bereits kurz nach Abreise seines Bewohners Neuankommenden als eine Art Heiligtum gezeigt, etwa Johann Gottfried Herder, der im September 1788 seiner Frau aus Rom berichtet: «Grüße Goethe u. sage, daß ich sein Quartier gestern bei Licht gesehen, heut will ichs sehen bei hellem Tage. Buri hat herzlich geweint, da er mich sah u. herumführte. Ich will heute Werner mitnehmen, daß er das Quartier kennen lernt.»[1] Im Grunde war die Casa di Goethe in jenem Herbst 1788 also bereits eröffnet und nur vorübergehend für zwei Jahrhunderte geschlossen.
Zwölf Jahre später, wieder Rom. In einem Antiquariat hinter der Fontana di Trevi kaufte ich eine unvollständige Oktav-Ausgabe von Goethes sämmtlichen Werken in vierzig Bänden des Cotta’schen Verlags von 1840. Von der Unvollständigkeit merkte ich im Eifer des Erwerbs zunächst wenig. Die Nummerierung der braunen Pappbände war kaum leserlich, und es waren derer so viele, dass der Gedanke, es müssten noch einmal so viele sein, gar nicht aufkam. Der Preis war niedrig, deutsche Bücher sind in Italien so gut wie wertlos. Erst zu Hause im Kloster von Trinità dei Monti, wo ich bei den französischen Schwestern von Sacré-Cœur in einem winzigen Zimmer hauste und darüber glücklich war wie Goethe, begriff ich langsam (noch ohne Internet), was ich da nun besaß, und was nicht. Es fehlte, wie gesagt, etwa die Hälfte, und das, was fehlte, war genau das, was ich gerne gehabt hätte, Werther, Wahlverwandtschaften, Dichtung und Wahrheit, Wilhelm Meister, Faust, Gedichte – der klassische Bildungsbürger-Goethe eben, alles nicht mehr da. Mit einer Ausnahme: die Italiänische Reise.
Sie war aus Versehen zwischen der Farbenlehre (dem historischen, didaktischen und polemischen Teil), der Bildung und Umbildung organischer Naturen und den Beiträgen zur Optik zurückgeblieben. Man erkannte sie auf den ersten Blick, und zwar an den Gebrauchsspuren, die bedeutend über das hinausgehen, was man im Handel als solche bezeichnet. Die Rede ist von Spuren eines physischen Gebrauchs, wie wir ihn sonst eher von Reliquien kennen: der ganze Einband ein einziger Abrieb, der nur durch das tage-, monate- oder jahrelange Mitführen in verschwitzten Hemd- und Rocktaschen, durch ständiges Hervorholen, Herumblättern und Zurückschieben entstanden sein kann. Auch ohne methodischen Rückgriff auf den material turn ist die Signifikanz dieses Befundes leicht zu begreifen. Quellen bestätigen das: «Der Deutsche, der nach Italien reist», schrieb der Kunsthistoriker Theodor Hetzer 1932, «nimmt das Buch gern mit, teils aus ehrwürdiger Tradition, teils aus wirklichem Bedürfnis. Und ich selbst habe es gefühlt, was es heißt, das Buch in Rom zu lesen (…).»[2]
Goethe selbst hat auf seiner Italienreise Bücher auf diese Weise benutzt, etwa die Reise durch Sizilien und Großgriechenland des Johann Hermann von Riedesel von 1767.[3] In seiner eigenen Italienischen Reise – also dem abgewetzten Buch, das ich gekauft hatte – schreibt er im Eintrag zu Agrigent auf Sizilien: «Ich genoß des herrlichsten Morgens am Fenster, meinen geheimen, stillen aber nicht stummen Freund an der Seite.» Er meint das Buch, das er dabeihatte. Und weiter: «Aus frommer Scheu habe ich bisher den Namen nicht genannt des Mentors, auf den ich von Zeit zu Zeit hinblicke und hinhorche; es ist der treffliche von Riedesel, dessen Büchlein ich wie ein Brevier oder Talisman am Busen trage.»[4] Wie ein Brevier, also ein Gebetbuch, Goethe sagt es selbst. Das mit dem «am Busen Tragen» mag wörtlich gemeint sein. Denn Rucksäcke waren damals noch nicht in Gebrauch, Umhängetaschen eher Hirten, Bettlern und Briganten vorbehalten. Ein Buch wurde in der Rock- oder Jackentasche getragen; aber wo man diese wegen der Hitze zu Hause ließ, vielleicht ja doch in der Hemdbrust, also «am Busen», wo es warm war und gelegentlich auch feucht.
Warm ums Herz war es Goethe in jenen Augenblicken in jedem Fall, eine Wärme, die sowohl von der Lektüre ausging, als auch von dem, was er, aus seinem Fenster blickend, vor sich sah: «So ein herrlicher Frühlingsblick wie der heutige, bei aufgehender Sonne, ward uns freilich nie durchs ganze Leben.» Er sah den Burgberg, «den sanften Abhang der ehemaligen Stadt, ganz von Gärten und Weinbergen bedeckt», und schließlich, «gegen das mittägliche Ende dieser grünenden und blühenden Fläche, (…) den Tempel der Concordia hervorragen».[5] Lässt sich Schöneres, Großartigeres im Leben denken? Eigentlich nicht, und so kommt der Gedanke, der nun kommen muss, nämlich hier zu bleiben, für immer....
Erscheint lt. Verlag | 14.9.2021 |
---|---|
Zusatzinfo | Zahlr. 4-farb. Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber | |
Reisen ► Reiseberichte | |
Schlagworte | Deutschsprachige Literatur • Erzählendes Sachbuch • Geschichte • Historisches Sachbuch • Italien • Italienische Reise • Johann Wolfgang von Goethe • Kulturgeschichte • Reise • Rom • Sehnsuchtsort • Toskana • Vatertag • Vatertagsgeschenk |
ISBN-10 | 3-644-01154-0 / 3644011540 |
ISBN-13 | 978-3-644-01154-0 / 9783644011540 |
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