Die Merowinger (eBook)
128 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-76919-1 (ISBN)
Martina Hartmann ist seit 2018 Präsidentin der Monumenta Germaniae Historica und Professorin für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität.
Die Merowinger in Deutschland und Frankreich
Ein Meeresungeheuer, halb Stier und halb Mensch, oder aber der fränkische König Chlodio soll Mitte des 5. Jahrhunderts den sagenhaften Stammvater der ersten fränkischen Königsdynastie namens Merowech gezeugt haben. Fredegar, der geheimnisvolle fränkische Chronist des 7. Jahrhunderts, berichtet beides, ohne sich für eine Version zu entscheiden.
Kennzeichnend für die merowingischen Könige war das lange Haupthaar, das man schon auf dem Siegelring des ersten sicher bezeugten Königs Childerich (†481/82) sehen kann. Dies inspirierte den englischen Historiker Michael Wallace-Hadrill zum Titel seines bekannten Buches über «The long-haired kings» (1962).
Im gleichen Jahr erschien in Österreich die Wissenschaftsparodie des studierten Historikers Heimito von Doderer (1896–1966) «Die Merowinger oder die totale Familie» über Childerich III. von Bartenbruch, den «letzten Merowinger des 20. Jahrhunderts», der nicht vor Grausamkeiten zurückschreckt und durch ein geschicktes System von Heiraten und Adoptionen sein eigener Vater, Großvater, Schwiegervater und Schwiegersohn wird.
Schon vor Erscheinen des Buches, das sein Autor als «Mordsblödsinn» bezeichnete, hatte die Merowingerzeit für einen österreichischen Autor den Stoff geliefert, nämlich für das 1839 in Wien uraufgeführte Lustspiel von Franz Grillparzer (1791–1872) «Weh’ dem, der lügt». Die Handlung ist an eine Episode angelehnt, die von der wichtigsten Quelle zur Geschichte des 6. Jahrhunderts erzählt wird, nämlich von Bischof Gregor von Tours (538–594) in seiner berühmten Frankengeschichte. Das Stück kam allerdings beim Publikum überhaupt nicht gut an und führte zum Rückzug Grillparzers aus dem Theaterleben.
In Deutschland waren es vor allem die Grausamkeiten der merowingischen Dynastie, deren drastische Schilderung durch Gregor von Tours wenig Begeisterung und Sympathie aufkommen ließ. Auch die merkwürdigen und verwirrend ähnlichen Namen (Theuderich, Theudebert und Theudebald oder Childerich, Childebert und Chilperich) animierten nicht zur Auseinandersetzung mit den Merowingern. Die Könige des 7. und 8. Jahrhunderts nach Dagobert I. (†639) galten außerdem als politisch unfähige Schattenkönige – eine Bezeichnung, die sich bereits bei Johann Gottfried Herder (†1803) und Friedrich Schiller (†1805) findet.
So hatte sich schon der bedeutende Historiker Leopold von Ranke (1795–1886) bei seiner Konzeption der «Jahrbücher des deutschen Reiches», einer heute noch wichtigen Darstellung der Reichsgeschichte anhand der Quellen, dafür entschieden, mit den fränkischen Hausmeiern, also den Vorfahren der Karolinger, zu beginnen und die Könige aus dem Geschlecht der Merowinger zu übergehen. Und der Breslauer Professor Felix Dahn (1834–1912), bekannt durch seinen 1876 erschienenen Historienroman «Ein Kampf um Rom», verfasste zwar ein hochwissenschaftliches zwölfbändiges Werk über «Die Könige der Germanen» (1861–1909), aber die Merowinger spielen darin nur eine untergeordnete Rolle. In Dahns historischen Romanen über diese Epoche sind «Chlodovech» (1895) und «Fredigundis» (1886) regelrechte ‹Antihelden›, während er Germanen wie Gelimer und Stilicho verherrlichte.
Die Begeisterung der Deutschen und auch der deutschen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts für die Germanen und für das Frankenreich der Karolinger war groß, das Frankenreich der Merowinger sparte man aus.
Ganz anders war es in Frankreich: In den von Ludwig dem Heiligen (König von 1226 bis 1270) in Auftrag gegebenen «Grandes chroniques de France», einer offiziellen Geschichte Frankreichs, nimmt die Schilderung der Merowingerzeit breiten Raum ein, und als Saint-Denis im 12. Jahrhundert zu der Grablege der französischen Könige ausgebaut wurde, ließ man Kenotaphe, also leere Sarkophage, für die merowingischen Könige und Königinnen anfertigen, die dort zwar nicht bestattet worden waren, in deren Traditionslinie man sich aber stellen wollte. Vielleicht hängt das andersgeartete Bewusstsein für die merowingischen Könige in Frankreich auch damit zusammen, dass sie in Städten residiert hatten, die auf französischem Boden liegen, wie Orléans, Soissons, Reims und nicht zuletzt Paris, wo zahlreiche Könige und Königinnen ihre letzte Ruhestätte fanden.
Die berühmtesten Heiligen des 6. und 7. Jahrhunderts, die mit den Königen und Königinnen in Kontakt gestanden hatten, lebten ohnehin in Frankreich und wurden hauptsächlich dort verehrt: Genovefa, die Schutzheilige von Paris und Zeitgenossin des ersten merowingischen Königs Childerich, Radegunde von Poitiers, zunächst Ehefrau König Chlothars I. und dann Klostergründerin, und Eligius von Noyon, der Patron der Goldschmiede, der am Hof König Chlothars II. gelebt hatte und von Königin Balthild verehrt wurde.
Hinzu kam, dass die Taufe des ersten merowingischen Königs Chlodwig I. durch den Reimser Bischof Remigius immer fest im Bewusstsein der französischen Nation verankert war. Dies ist auch ablesbar an den großen Feiern, die das katholische Frankreich noch im 20. Jahrhundert zu diesem Tag veranstaltete. Die Krönung des französischen Königs nahm im Mittelalter der Erzbischof von Reims vor, weil sein Vorgänger den ersten christlichen Merowingerkönig Chlodwig I. getauft hatte.
In Deutschland hielt man sich eher an das erste Kapitel der berühmten Vita Karoli Magni Einhards (†840), der die letzten Merowingerkönige als tumbe und ungepflegte Gestalten karikiert hatte, die auf einem Ochsenkarren durch das Land gefahren seien und keine reale Macht mehr gehabt hätten. Der enge Vertraute des großen Karl wollte damit die Machtübernahme der fränkischen Hausmeier legitimieren, denn Pippin der Jüngere (†768), der Vater Karls des Großen, hatte den letzten Merowingerkönig Childerich III. und seinen Sohn mit Hilfe des Papstes abgesetzt und ins Kloster einweisen lassen, bevor er sich selbst zum neuen König über das Frankenreich erhob (751).
In der Tat waren die Könige seit Mitte des 7. Jahrhunderts durch den aufstrebenden Adel und die Hausmeier immer mehr in ihrer Machtfülle und Verfügungsgewalt über Land und Vermögen eingeschränkt worden, aber tumbe Gestalten waren sie dennoch nicht.
Das 18. und 19. Jahrhundert in Frankreich hatte dagegen mit Henri de Boulainvilliers (†1722) und Augustin Thierry (1795–1865), dem Autor des erfolgreichen historischen Romans «Erzählungen aus den merowingischen Zeiten», in den merowingischen Königen die Vorfahren des französischen Adels gesehen. In der Weltsicht Thierrys repräsentierte das französische Volk die von den Merowingerkönigen eroberte gallische Bevölkerung – eine Theorie, die dann in der Französischen Revolution mit der Schrift von Abbé Sieyès «Was ist der dritte Stand?» (1789) Popularität gewann. Nach dem Ende der Bourbonenherrschaft in der Französischen Revolution knüpfte aber auch der neue Machthaber, Napoleon Bonaparte (1769–1821), bewusst an die Merowinger an: Bei seiner Kaiserkrönung 1804 ließ er auf seinen Krönungsmantel statt der bourbonischen Lilien Bienen sticken, da man 1653 im Grab des ersten Merowingerkönigs Childerich I. in Tournai ca. 300 Beschläge aus Gold und Almandinen gefunden hatte, die wie Bienen oder Zikaden aussahen.
Zwar gab es auch in Frankreich als Pendant zu den «Schattenkönigen» die Bezeichnung der «rois fainéants», die vermutlich schon im Mittelalter existierte, doch wurde die Zeit der Merowinger immer als Teil der französischen Geschichte betrachtet. So blieb es nicht aus, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts Kontroversen ausgetragen wurden, die eher aus Ressentiments resultierten als aus Erkenntnissen der Forschung: Dass der Herausgeber zahlreicher merowingerzeitlicher Heiligenviten, Bruno Krusch (1858–1940), die Echtheit der Vita der heiligen Genovefa (†502) anzweifelte und spottete, in dem Werk werde sie als «Bürgermeisterin» (maîre) von Paris dargestellt, rief den belgischen Historiker Godefroid Kurth (1847–1916) auf den Plan, der den Quellenwert – zu Recht, wie sich später herausstellen sollte – vehement verteidigte. Heute weiß man, dass die Vita der Genovefa wichtige Informationen zur merowingischen Frühzeit liefert.
In Deutschland waren es dann nach dem zweiten Weltkrieg vor allem die Forschungen des Bonner Mittelalterhistorikers Eugen Ewig (1913–2006), die zur ‹Rehabilitation› der Merowingerkönige beitrugen. Ewig, der «Erbfreund» Frankreichs, wie er anlässlich seines 90. Geburtstages genannt wurde, bemühte sich Zeit seines Lebens um einen Ausgleich mit Frankreich und genoss dort große persönliche Anerkennung. Nach dem zweiten Weltkrieg hatte er einen ganz wesentlichen Anteil an der Gründung...
Erscheint lt. Verlag | 25.3.2021 |
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Reihe/Serie | Beck'sche Reihe | Beck'sche Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Mittelalter | |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Mittelalter | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | Dynastie • Familie • Familiengeschichte • Franken • Frühmittelalter • Geschichte • Herrschaft • Herrscher • Merowinger • Mittelalter |
ISBN-10 | 3-406-76919-5 / 3406769195 |
ISBN-13 | 978-3-406-76919-1 / 9783406769191 |
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