Die Experten (eBook)

Thriller
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
688 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76333-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Experten -  Merle Kröger
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Die sechziger Jahre haben begonnen und mit ihnen das Zeitalter des Wassermanns. Adolf Eichmann wird in Jerusalem zum Tode verurteilt. Konrad Adenauer sagt Militärhilfe für Israel zu. Gleichzeitig jedoch zieht es deutsche Flugzeugkonstrukteure, Triebwerksbauer und Raketentechniker in großer Zahl nach Ägypten.

Rita Hellberg, Tochter eines Ingenieurs, will ihre Eltern in Kairo eigentlich nur besuchen. Doch der Vater entscheidet: Die Familie gehört zusammen. Ägyptens Präsident Nasser träumt von einer afrikanischen Rüstungsindustrie, und so baut der Vater einen Jagdbomber. Während ihre Mutter sich dem Leben in Kairo verweigert, erkennt Rita bald, dass es für sie keinen besseren Ort geben kann, um ihre eigene Zukunft zu betreten. Sie lässt sich mitreißen in eine faszinierende Welt im Umbruch. Erst mit der Zeit wird ihr klar, dass sie mitten in einem Konflikt gelandet ist, in dem um historische und zukünftige, um weltpolitische und regionale Interessen mit allen Mitteln gekämpft wird. Jeder beobachtet jeden, Bomben explodieren, Menschen sterben. Rita Hellberg muss sich entscheiden, wo sie steht.



<p>Merle Kröger, geboren in Plön/Schleswig-Holstein, lebt und arbeitet als Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Dramaturgin in Berlin. Sie war 1992 - 1999 Mitglied der Berliner Gruppe dogfilm, seit 2001 von pong Film. Kröger ist Co-Autorin von Philip Scheffners preisgekrönten Kino-Dokumentarfilmen wie <em>Der Tag des Spatzen</em> (2010), <em>Revision</em> (2012) und <em>Havarie</em> (2016). Ein Spielfilm (<em>Europe</em>) ist in Fertigstellung. Kröger hat bisher vier Romane veröffentlicht, unter anderem<em>Grenzfall </em>(2012) und <em>Havarie</em> (2015). Sie gehört zur ersten Garde der deutschen Kriminalliteratur. Ihre Romane wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderemals Bester Krimi des Jahres, mit dem Radio-Bremen-Krimipreis und dem Deutschen Krimipreis.</p>

Foto, schwarz-weiß:

Rita liest, auf dem Bauch liegend, ein Taschenbuch; wer genau hinsieht, kann den Titel erkennen: Zazie in der Metro.

Bildunterschrift: Das gefallene Mädchen, Dezember 1961

Die Komposition des Bildes im Sucher der Kamera lässt keinen Zweifel. Rita Hellberg imitiert unbewusst oder mit Absicht eine Pose aus dem Buch, das sie in der Hand hält. Die langen, dunklen Haare fallen ihr ins Gesicht, das Buch verdeckt die Augen. Sie trägt eine weiße Bluse mit hochgeschlagenem Kragen und eine gerade geschnittene, enge Hose, grau oder blau, jedenfalls dunkler. Ihre Füße sind nackt, die Zehen lackiert, vielleicht rot. Sie liegt auf dem Bauch, die Ellenbogen aufgestützt. Ihrem Bruder Kai, der in diesem Moment den Auslöser drückt, signalisiert sie mit ihrem geschlossenen Profil lässig, aber bestimmt:

Zutritt verboten.

Das Bett ist aus Holz, abgeschabt und verwohnt wie das, was man sonst noch von dem Zimmer erkennen kann. Rita scheint das nichts auszumachen. Sie wirkt entspannt, obwohl sie an dem Tag schon weiß, dass sie vom Internat fliegen wird.

Rita Hellberg provoziert ihre Umwelt, ohne es direkt zu beabsichtigen. Sie hat eine Art weltfremder Verträumtheit, als wäre sie von einer durchsichtigen, elastischen Hülle umgeben. Damit hat sie ihre Mutter zur Weißglut getrieben, bis der Vater sie zur Strafe oder zu ihrem Schutz, das weiß er vielleicht selber nicht, hierhergeschickt hat. Keinen Tag länger hätten die beiden unter einem Dach leben können. Rita hat das Urteil widerspruchslos angenommen, sie ist ein Mensch, der sich den Umständen anzupassen weiß.

Auf der Flucht geboren.

Sie rebelliert nicht, wenn es keinen Sinn hat zu rebellieren.

Sie schaut nach vorn und nicht zurück.

Sonst sähe sie noch das weiß gekalkte Haus in Stade, im September vor drei Jahren, es ist früher Morgen, frisch für die Jahreszeit. Ein kalter Wind zieht von der Nordsee über das Land. Ein paar im ersten Nachtfrost erstarrte Rosen hängen noch an den Stöcken. Friedrich Hellberg wuchtet das Gepäck seiner Tochter in den Kofferraum, er ist dreiundvierzig, wirkt erschöpft, das Herz macht ihm zu schaffen. Ingrid Hellberg sieht älter aus als ihr Mann, obwohl sie keine vierzig ist. Unzufriedenheit hat sich vorzeitig in ihre hängenden Mundwinkel gefräst, der Blick flackernd, immer auf der Jagd nach einer dunklen Ecke im Haus oder im Garten, die sie in Angriff nehmen kann und muss. Rita, damals dreizehn, ist schon halb die Stufen herunter, kommt nochmal zurück, ohne einen Blick an die Mutter zu verschwenden. Umarmt ihre sechsjährige Schwester Petra. Flüstert ihr etwas ins Ohr, die Kleine reibt sich die Augen und nickt. Für die Mutter reicht ein gerade angedeuteter Kuss auf die Wange. Rita steigt zum Vater ins Auto, ein letzter Blick zurück, ironisches Lächeln, ein Funken von Triumph im Blick.

Rita Hellberg ist ein Papakind, daran herrscht kein Zweifel. Als sie laufen kann, folgt sie Friedrich wie ein Hund. Als sie sprechen kann, redet sie vor allem mit ihm. Ihre Gespräche umgibt eine Aura des Geheimnisvollen, des Exklusiven, die alle anderen in die Außenwelt verweist.

Kai, nicht mal vier Jahre älter als Rita, ist dem Vater im Krieg abhandengekommen. Ein Junge, der sich lieber an die Frauen hält, die ihn beschützen: an Ingrid und ihre Mutter, später seine väterliche Großmutter in Ottensen. Da bleibt er auch, als die Familie nach Stade zieht, um näher an den Norddeutschen Flugzeugwerken zu sein. Friedrich lässt ihn nur ungern zurück. Aber noch einen Umzug, ein Jahr vor dem Abitur, hätte der Junge wohl kaum verkraftet.

Gebrüllt hat er schon mit drei, als Friedrich ihn ins Flugzeug gesetzt hat, und gebrüllt fortan, wenn sie nur in die Nähe des Segelflugplatzes kamen. Der wird kein Ingenieur, im Leben nicht. Sitzt lieber im Warmen, versteckt sich Nachmittage lang hinter der Orgel von Sankt Marien und klimpert Tonleitern.

Rita hingegen ist aus anderem Holz geschnitzt. Die hat Friedrich in seine zwei Hände nehmen können wie einen Vogel, so winzig war sie. So hat er sie ins Kinderkrankenhaus getragen, nachdem sie im Mai 45 in Hamburg angekommen sind. Bleibt bei ihr, Tag und Nacht, seine Mutter hat zu tun mit dem Jungen und Ingrid, die den ersten Nervenzusammenbruch hat von vielen, die noch folgen werden. Rita lässt sich von ihm ins Flugzeug setzen, ganz ruhig, ohne einen Funken Angst. Die würde sofort mitfliegen, wenn Ingrid es zuließe.

Aber nein! Rita Hellberg schaut nicht zurück. Sie lebt mit jeder Faser des zu ihrem Unglück immer noch jungfräulichen Körpers im Augenblick und liest dieses Buch, von dem alle Welt redet. Wobei im Moment vor allem Kai redet, der gekommen ist, um sie dabei zu stören, auf Anordnung von oben.

»– nachdem die minderjährige Schülerin mehrfach zu spät nach Hause kam, mit Ausgangsverbot bis zu den Ferien belegt«, liest Kai von dem Brief ab, der vor vier Wochen im elterlichen Briefkasten steckte.

»Um acht!«, stöhnt Rita, »die sperren uns hier um acht Uhr ein, obwohl da draußen noch weniger los ist als in Stade.«

»– statt die Hausordnung zu befolgen, regelmäßig nach achtzehn Uhr Herrenbesuch auf dem Zimmer gehabt. Dies wurde durch Fräulein Doktor Meinert der Schulleitung gemeldet und führt zum Internats- und Schulverweis mit sofortiger Wirkung, der jedoch mit Rücksicht auf die Auslandstätigkeit des Vaters bis zum Ende des Halbjahres ausgesetzt wird.«

»Die Meinert ist eine stadtbekannte Denunziantin. Die ist eine ewig Braune, ich schwör’s dir!«

»Wie heißt denn der Glückliche?«, fragt Kai.

Foto:

fehlt, nachträglich entfernt

»Wer?« Rita klappt das Buch zu und sieht ihn mit gespieltem Erstaunen an. »Meinst du etwa jene unwichtige Randfigur, die in Unterhosen aus dem Fenster verschwunden ist, zurück in die Bedeutungslosigkeit, der sie einst entstiegen war?«

Kai, dem die Richtung des Gesprächs nicht gefällt, greift nach einer Postkarte, die auf dem Tisch liegt. Die Vorderseite zeigt eine schmale weibliche Bronzefigur, sitzend, mit einem Kind auf dem Schoß. Er dreht die Karte um und liest die säuberlich gemalte Kinderschrift.

Hallo, Rita! Das ist Isis, die Göttin mit den Hörnern und der Sonne auf dem Kopf. Sie sagen, du hast auch Hörner, die sollst du dir anstoßen oder abstoßen? Vati rauft sich die Haare aus, bis bald keine mehr da sind. Mutti ist schrecklich nervös. Der neue Diener ist wieder weggerannt. Komm schnell, bitte! Viele liebe Grüße, deine Schwester Petra. P. S. Bringst du mir die Hörner mit, wenn du sie nicht mehr brauchst?

Kai lacht. »Typisch Pünktchen!«

Rita hebt nicht einmal den Kopf. Sie ist wieder vollkommen absorbiert von ihrem Buch. Kai wirft ihr einen langen Blick zu und legt die Postkarte zurück auf den Tisch. Er beginnt auf und ab zu laufen, zum Fenster, dann wieder zur Tür, das Zimmer zu klein für seine langen Schritte. Ritas Mitbewohnerin ist zum Glück nicht da. Er läuft auf und ab und pfeift.

I’ve got a feeling I’m falling. Fats Waller.

Nicht, weil er Rita damit etwas sagen will. Die versteht von Musik so viel, wie NDR 2 den ganzen Tag rauf und runter dudelt. Mit einem leider schwindenden Teil seiner Gedanken ist Kai Hellberg noch am vorigen Abend beim Jazzworkshop in Hamburg, im Studio Zehn. Der andere Teil: Anruf aus Kairo, bitte rede mit deiner Schwester, schiebt sich davor.

»Kann ich mir vorstellen, dass Vati tobt. Wir sollen doch alle schön nach seiner Pfeife tanzen.« Er setzt noch einen drauf. »Der alte Tyrann.«

Endlich sieht Rita kurz auf. »Lass Vati in Ruhe. Der hat genug Kummer mit der Verrückten.«

»Im Moment machst du ihm Kummer.« Kai grinst. »Vatis Liebling. Rausgeworfen wegen Verstoßes gegen die guten Sitten.«

Er geht zum Fenster und sieht hinaus in die Novemberdämmerung, als säße da immer noch der namenlose Junge in Unterhosen und wartete zitternd darauf, endlich wieder hereingelassen zu werden.

»Hmmm«, brummt es hinter dem Buch.

»Rita!« Die Musik im Kopf ist weg. »Mutti ist nicht verrückt.« Es stört ihn. Dass sie immer dieses Wort benutzt. Es klingt gemein und krank.

»Ist sie wohl, und du weißt das.« Von hinter dem Buch. »Ist doch nicht normal. Putzen von morgens früh bis nachts. Was hat...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Ägypten • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • Biographischer Roman • BND • buch bestseller • Bundesnachrichtendienst • Cut! • Deutscher Krimi-Preis 2015 • Deutscher Krimipreis 2021 • Ernte • Gamal Abdel Nasser • Geheimdienst • Grenzfall • Havarie • historischer Spannungsroman • Kairo • Kalter Krieg • Krimi-Bestenliste • Krimi-Bestseller • Kyai! • neues Buch • Niltal und Nildelta • Nordafrika • Postkolonialismus • ST 5257 • ST5257 • Stuttgarter Krimipreis 2022 • suhrkamp taschenbuch 5257 • Thriller
ISBN-10 3-518-76333-4 / 3518763334
ISBN-13 978-3-518-76333-9 / 9783518763339
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