Fast hell (eBook)

(Autor)

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2021 | 3. Auflage
237 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2670-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fast hell - Alexander Osang
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Alles ist genauso passiert, soweit ich mich erinnere ... Ihre Wege kreuzen sich schon, laufen nebeneinander, lange, bevor Alexander Osang beschließt, Uwes Geschichte aufzuschreiben. Und mit ihm aufbricht auf einem Schiff in die Vergangenheit. Die weißen Nächte über der Ostsee - sie sind fast hell, verheißungsvoll und trügerisch, so wie die Nachwendejahre, die beide geprägt haben. Doch während Uwe der Unbestimmte, Flirrende bleibt, während sich seine Geschichte im vagen Licht der Sommernächte auflöst, beginnt für Alexander Osang eine Reise zu sich selbst, getrieben von der Frage, wie er zu dem wurde, der er ist. Eindringlich und mit staunendem Blick erzählt er von den Zeiten des Umbruchs und davon, wie sich das Leben in der Erinnerung zu einer Erzählung verdichtet, bei der die Wahrheit vielleicht die geringste Rolle spielt.

Alexander Osang, geboren 1962 in Berlin, studierte in Leipzig und arbeitete nach der Wende als Chefreporter der Berliner Zeitung. Für seine Reportagen erhielt er mehrfach den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Theodor-Wolff-Preis. Seit 1999 berichtet er als Reporter für den SPIEGEL, acht Jahre lang aus New York, und bis 2020 aus Tel Aviv. Für seine Reportagen erhielt er mehrfach den Egon-Erwin-Kisch-Preis und den Theodor-Wolff-Preis. Er lebt heute mit seiner Familie in Berlin. Zuletzt erschien von ihm der Roman 'Die Leben der Elena Silber', der für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Sein Erzählungsband 'Winterschwimmer' ist als Aufbau Taschenbuch lieferbar.

Ich kannte Uwe aus New York, obwohl er eigentlich aus Ostberlin kam wie ich. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich ihn zum ersten Mal sah, wahrscheinlich Anfang der Zweitausender auf einer Party bei Solveigh, die aus der Nähe von Dresden stammte, aber seit über dreißig Jahren in Brooklyn lebte. Ich hatte eine kleine ostdeutsche Gemeinde in New York. Meine Frau natürlich, die in Berlin-Lichtenberg groß wurde, Solveigh, die kurz vor dem Mauerfall einen New Yorker Juden heiratete, der seine Sommerferien im Sozialismus verbracht hatte, Sabine, die aus einem Dorf bei Erfurt kam und Ende der Achtziger ausgereist war, ihren Freund Bert, der nach einem Fluchtversuch aus Ostberliner Haft freigekauft worden war, Kathleen aus Gera, die ein Jahr in unserem verrumpelten Büro arbeitete, obwohl sie aussah wie ein Filmstar, ein junges Thüringer Ärztepaar, das irgendwann nach New Mexico weiterzog, später dann auch Else, die eigentlich Sabine hieß, aus Eilenburg kam und einem Mönch in einen Tempel nach Manhattan gefolgt war. Uwe gehörte dazu. Keine Ahnung, wovor der weggelaufen, wem der gefolgt war. Er trat mir aus dem Gewirr der Riesenstadt entgegen. Er war schwul, glatzköpfig und besaß ein Haus in Spanish Harlem, das er in einer Art Stadtlotterie gewonnen hatte. Die Sommer verbrachte er auf Fire Island, wo auch wir ein Ferienhaus gemietet hatten. Er bewohnte mit zwei pensionierten Tänzern des Bolschoi-Balletts einen Bungalow in Cherry Grove, dem gay village der Insel. Unser Haus stand in Oakleyville, wo niemand war, außer uns, einem verschrobenen Verwalter namens Sam, der einst Affären mit Yoko Ono und Greta Garbo gehabt haben sollte, sowie einem einheimischen Messie namens Chuck, der den Klimawandel anzweifelte, obwohl seine Insel langsam aber sicher im Atlantischen Ozean versank. Einmal im Sommer liefen wir durch die Hitze am Strand entlang und besuchten Uwe in Cherry Grove, wo er auf einer Terrasse im Schatten saß und schon auf uns zu warten schien. Wenn ich dort ankam, fühlte ich mich, als sei ich nur kurz weg gewesen. Uwe gehörte zu den Menschen, in deren Gegenwart ich sofort anfing zu berlinern.

Ich habe nie einen Mann an Uwes Seite gesehen. Ich kannte nur Geschichten von seinen Partnern. Sie klangen meist tragisch. Er erzählte sie mit gespitzten Lippen und kraus gezogener Nase. Aber vielleicht bilde ich mir das ein. Es hätte auch Solveigh sein können, die mir aus Uwes unglücklichem Liebesleben berichtete. In ihrem sächsisch-amerikanischen Singsang, mit der rechten Hand unentwegt ihre Frisur ordnend.

Einmal hatte Uwe eine Affäre mit einem deutschen Familienvater, den er als Darsteller in einem Netflix-Film entdeckte. Eine schwule Liebesgeschichte. Wie er den nackten Mann aus dem Film gefunden hat, ist mir ein Rätsel. Der Mann jedenfalls kam ab und zu nach Amerika, die Flugtickets bezahlte Uwe. Und jetzt, da ich das erzähle, fällt mir ein, dass ich zumindest diesen Liebhaber einmal gesehen habe. Auf einer Geburtstagsfeier, einem Brunch, zu dem Uwe uns in ein Restaurant am Hudson eingeladen hatte. Der Mann sah gut aus, erschien mir aber nicht besonders vertrauenswürdig. Er kam aus dem Ruhrgebiet, war mit einer Frau verheiratet und hatte einen Sohn. Er wollte ins Schauspielgeschäft, ins richtige Schauspielgeschäft, sagte er, er wirkte wie ein Mann, der Kontakte suchte, die ihn weiterbringen konnten. Ich hatte den Eindruck, dass Uwe weder diesen Geliebten noch die anderen Geburtstagsgäste richtig kannte. Er war herzlich und gleichzeitig distanziert zu allen. Ein Gast auf seiner eigenen Party.

Ich jedenfalls wusste damals kaum etwas von Uwe. Er kam aus Biesdorf, wo seine Mutter immer noch lebte. Er nannte sie »Muttern«. Muttern schickte ihm ab und zu Zeitungsausschnitte aus der Berliner Zeitung. Was er über mich wusste, wusste er aus diesen Artikeln, denn ich schrieb dort oft über mich oder zumindest über die Kunstfigur, die ich in meinen Kolumnen von mir angefertigt hatte, ein heimatloser Weltreisender, der über seine Möglichkeiten staunt.

Uwe hatte eine Bosch-Waschmaschine, die ihm wichtig war. Er wusch mit Persil. Es ging ihm um einen Duft von zu Hause, und das verstand ich. Gerüche werden wichtiger, wenn man älter wird. Sie ersetzen irgendwann unsere Erinnerungen.

Ich war nur einmal bei Uwe in Harlem. Ich erinnere mich an ein riesiges Haus, das er zu großen Teilen vermietet hatte, und an zwei sehr dicke Katzen. Vielleicht waren es auch drei, aber dick waren sie in jedem Fall. Wir saßen in einem kleinen, gut beleuchteten Raum mit niedriger Decke. Alles wirkte sehr sauber. Wir aßen Schnittchen, die uns Uwes Mutter geschmiert hatte, die gerade zu Besuch war. In meiner Erinnerung waren die Stullen geviertelt und mit Wurst belegt, auf dem Tisch lag eine karierte Wachstuchdecke, und das Licht kam aus Neonröhren. Aber das muss nicht stimmen. Es ist fünfzehn Jahre her. Vielleicht war seine Mutter gar nicht da. Die Tischdecke und die Neonröhren hätten auch aus einem Film über den Osten stammen können. Was ich genau weiß, ist, dass mir Uwe an diesem Nachmittag die Waschmaschine zeigte, von der er oft gesprochen hatte. Die Bosch. Auf einem Bord stand das deutsche Waschmittel. Großpackung. Alles war ganz sauber und roch nach Persil. Es hätte natürlich auch Ariel sein können oder Weißer Riese, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es Persil war.

Seltsam ist nur, dass Persil gar nicht der Duft unserer Kindheit im Osten war. Persil war ein Duft des Westens.

Es roch im Intershop nach Persil. Intershops hießen die Geschäfte, in denen man im Osten Westprodukte kaufen konnten, wenn man Westgeld besaß. Die Westpakete rochen so, vor allem wenn sie mit gebrauchten Kleidern gefüllt waren. Zu Weihnachten roch das ganze Postamt so. Kaffee, Waschmittel, Schokolade. Es war der Duft einer imaginären Welt. Süß und sauber. Meine Westwelt roch anders, glaube ich. Sie muss nach Kaugummis, dem Papier von Westzeitungen, meiner neuen Levi’s-Jacke gerochen haben, die ich im Intershop an der Friedrichstraße kaufte. Sie roch wie mein orangefarbener Römer-Integralhelm von innen roch, als ich ihn das erste Mal aufsetzte. Die Westwelt, die ich mir vorstellte, war bevölkert von Figuren aus den Songs von Bruce Springsteen und Paul Simon, illustriert mit Bildern aus Filmen von Martin Scorsese, Woody Allan, Sergio Leone und Sidney Lumet. In dieser Welt lebten Huck Finn, Philipp Marlowe, Captain Yossarian und Holden Caulfield. Ich kannte ein Mädchen, das sich im Lesesaal der Berliner Stadtbibliothek den nicht ausleihbaren Roman »Der Fänger im Roggen« in ein Notizheft abschrieb, um ihn immer bei sich zu haben. Ich starrte in meinem Kinderzimmer stundenlang auf das Cover der Amiga-Platte von »Double Fantasy« und stellte mir vor, mit Yoko und John in der Upper West Side herumzustehen und auf den Central Park zu gucken, in unserem Rücken ein New Yorker Mülleimer.

Ich war enttäuscht, als ich im November 89 zum ersten Mal hinter die Mauer schauen konnte, und brauchte ein Jahr, bis ich fand, was ich dort vermutet hatte. New York. Die einzige Stadt, die mit meinen Erwartungen mithalten konnte. Es war August 1990, als ich dort endlich ankam, und es war heiß. Ich blieb drei Tage, in denen ich nicht schlief. Ich habe das oft erzählt, obwohl ich mir eigentlich nicht vorstellen kann, dass es stimmt. Drei Tage und drei Nächte ohne Schlaf, das hält kein Mensch aus. In meinen Erinnerungen aber existiert kein Bild davon, wie ich die Nachttischlampe in meinem handtuchgroßen Hotelzimmer ausschalte. Woran ich mich genau erinnere, ist die Erregung, die ich verspürte, als ich im August 1990 in Manhattan aus dem Kleinbus stieg, der uns vom Flughafen in die Stadt brachte. Ich wusste augenblicklich: Ich bin da. Es gab den Ort meiner Sehnsucht wirklich. Es gab die Sirenen, das Licht, die Energie. Ich schlüpfte in die Stadt wie in einen Film. Zehn Jahre später zog ich dann mit meiner Familie an diesen Sehnsuchtsort. Wir blieben acht Jahre lang. Ich war glücklich dort, aber irgendwann verstand ich, dass es nur ein Fluchtort war. In New York konnte ich am besten vergessen, dass ich eigentlich kein Zuhause hatte. Als das klar war, ging ich nach Berlin zurück.

Uwe blieb in New York. Im Traum. In der Vorstellung von einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten. Er sagt gern, New York sei der einzige Platz auf der Welt, wo er er selbst sein konnte. Wer immer dieser Mensch ist.

Es half natürlich, dass er dort ein großes Haus besaß.

Das nächste Mal traf ich Uwe auf einer Silvesterfeier in Berlin Prenzlauer Berg, einige Jahre nachdem wir New York verlassen hatten. Bestimmt sahen wir uns auch zwischendurch, aber daran erinnere ich mich nicht. Uwe hatte um die Weihnachtszeit seine Mutter in Biesdorf besucht, und wir nahmen ihn mit zu einer Silvesterparty bei unseren Freunden Magda und Milan in die Senefelderstraße. Es war der Jahreswechsel von 2017 auf 2018, wir saßen in der Küche, und Uwe redete polnisch mit Magda, die aus Polen stammt. Keine Ahnung, wie gut sein Polnisch war, es klang flüssig. Er wirkte natürlich, selbstverständlich, obwohl er zum allerersten Mal in dieser Küche saß. Auch unsere Freundin Katja war da, die wie Uwe eine Zeitlang in Moskau gelebt hatte. Er traf sie in dieser Nacht zum ersten Mal, schien sie aber besser zu kennen als ich. Ich fand sein Verhalten zunächst distanzlos und befremdlich. Dann aber, vielleicht aber auch erst jetzt, da ich mich daran erinnere, angenehm offen. Normalerweise stehen Deutsche ja erstmal in der Ecke rum, wenn sie irgendwo neu sind. Uwe redete von einer Filmklasse, die er an der New York University unterrichtete. Er kannte sich sehr gut mit deutschen Filmklassikern aus. Auch das hatte ich bis dahin nicht gewusst. Milan...

Erscheint lt. Verlag 18.1.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1990er Jahre • Alexander Osang • Alltagsreportagen • Berlin • Berliner Zeitung • DDR • Entwicklungsroman • Freundschaft • Journalismus • Lebensentwürfe • Merkel • New York City • Ostberlin • Ostdeutschland • Ostsee • Petersburg • Reise • Spiegel • St. Petersburg • Tel Aviv • Wende • Wende in der DDR
ISBN-10 3-8412-2670-1 / 3841226701
ISBN-13 978-3-8412-2670-9 / 9783841226709
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