Schloss Gripsholm. Eine Sommergeschichte (eBook)
160 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961778-7 (ISBN)
Kurt Tucholsky (9.1.1890 Berlin - 21.12.1935 Göteborg, Schweden), Sohn eines jüdischen Kaufmanns, war einer der gefragtesten Publizisten der Weimarer Republik. Tucholsky, der trotz pazifistischer Einstellung Soldatendienst während des Ersten Weltkriegs zu leisten hatte, war bereits seit seines Jura-Studiums in Berlin und Genf (er promovierte 1915 zum Dr. jur.) journalistisch aktiv. Er schrieb mitunter für die Zeitschriften 'Vorwärts', 'Weltbühne' (ehem. 'Schaubühne') und 'Ulk'. Ab 1929 lebte er im schwedischen Hindås, wo er von der Machtergreifung Hitlers erfuhr. Tucholskys Bücher wurden aufgrund seiner offensiven Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus 1933 verboten und verbrannt, er selbst ausgebürgert. Tucholsky starb nach einem Suizidversuch in Göteborg. Tucholsky bediente in mehr als 2.500 publizistischen Texten- mitunter unter den Pseudonymen Ignaz Wrobel, Peter Panter, Theobald Tiger und Kaspar Hauser - ein breites journalistisches Spektrum von Polit-Satire über Feuilleton bis hin zu Chanson. Daneben erschienen von ihm die Reiseaufzeichnung 'Ein Pyrenäenbuch' sowie das gesellschaftskritische und in Zusammenarbeit mit John Heartfields entstandene 'Deutschland, Deutschland über alles'. Die Romane 'Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte' und 'Schloss Gripsholm - Eine Sommergeschichte' sind humorvolle und melancholische Liebesgeschichten. Nach seinem Tod wird Tucholsky dem Friedhof in Mariefred in Schweden beigesetzt - unweit des Schlosses Gripsholm.
Kurt Tucholsky (9.1.1890 Berlin – 21.12.1935 Göteborg, Schweden), Sohn eines jüdischen Kaufmanns, war einer der gefragtesten Publizisten der Weimarer Republik. Tucholsky, der trotz pazifistischer Einstellung Soldatendienst während des Ersten Weltkriegs zu leisten hatte, war bereits seit seines Jura-Studiums in Berlin und Genf (er promovierte 1915 zum Dr. jur.) journalistisch aktiv. Er schrieb mitunter für die Zeitschriften "Vorwärts", "Weltbühne" (ehem. "Schaubühne") und "Ulk". Ab 1929 lebte er im schwedischen Hindås, wo er von der Machtergreifung Hitlers erfuhr. Tucholskys Bücher wurden aufgrund seiner offensiven Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus 1933 verboten und verbrannt, er selbst ausgebürgert. Tucholsky starb nach einem Suizidversuch in Göteborg. Tucholsky bediente in mehr als 2.500 publizistischen Texten– mitunter unter den Pseudonymen Ignaz Wrobel, Peter Panter, Theobald Tiger und Kaspar Hauser – ein breites journalistisches Spektrum von Polit-Satire über Feuilleton bis hin zu Chanson. Daneben erschienen von ihm die Reiseaufzeichnung "Ein Pyrenäenbuch" sowie das gesellschaftskritische und in Zusammenarbeit mit John Heartfields entstandene "Deutschland, Deutschland über alles". Die Romane "Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte" und "Schloss Gripsholm – Eine Sommergeschichte" sind humorvolle und melancholische Liebesgeschichten. Nach seinem Tod wird Tucholsky dem Friedhof in Mariefred in Schweden beigesetzt – unweit des Schlosses Gripsholm.
Schloss Gripsholm
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Nachwort
Zeittafel
Zweites Kapitel
All to min Besten, sä de Jung – dor slögen se em den Stock upn Buckel entzwei.
1
Das Kind stand am Fenster und dachte so etwas wie: Wann hört dies auf? Dies hört nie auf. Wann hört dies auf?
Es hatte beide Arme auf das Fensterbrett gestützt, das durfte es nicht – aber es war für einen Augenblick, für einen winzigen, gestohlenen Augenblick, allein. Gleich würden die andern kommen; man spürte das zuerst im Rücken, der nun der Tür zugewendet war, der Rücken kitzelte erwartungsvoll. Wenn die andern kommen, ist es aus. Denn dann kommt sie.
Das kleine Mädchen schüttelte sich: es war wie die schnelle leise Bewegung eines Hundes, der Wasser abschüttelt. Das, was das Kind bedrückte, brauchte es nicht erst zu überdenken: es saß inmitten seiner kleinen Leiden wie auf einem Lotosblatt, zwischen andern Lotosblättern, und alle runden Blätter sahen es an – das Kind in der Mitte. Und es kannte sie alle, seine Leidensblätter.
Die andern Kinder – sein Spitzname ›Das Kind‹ – dieses Kinderheim in Schweden – der tote Will, und nun stieg die Kurve der Furcht siedend-rot nach oben: Frau Adriani, die rothaarige Frau Adriani – und dahinter dann das traurigste: Mutti in Zürich. Es war zu viel. Das Kind zählte neun Jahre – es war zu viel für neun Jahre. Nun weinte es das bitterste Weinen, das Kinder weinen können: jenes, das innerlich geweint wird und das man nicht hört.
Trappeln. Schurren. Türenklappen. Kein Wort: eine stumme Schar näherte sich. Also war sie dabei. Du großer Gott –
Die Tür öffnete sich majestätisch, als habe sie sich allein aufgetan. Im Rahmen stand die Frau Direktor, der ›Teufelsbraten‹: die Adriani. Ihren Beinamen hatte sie von ihrem Lieblingsschimpfwort.
Sie war nicht sehr groß; eine stämmige, untersetzte Person, mit rötlichem Haar, graugrünlichen Augen und fast unsichtbaren Augenbrauen. Sie sprach schnell und hatte eine Art, die Leute anzusehn, die keinem guttat …
»Was machst du hier?« Das Kind duckte sich. »Was du hier machst?« Sie ging dabei auf die Kleine zu und gab ihr eine Art Knuff gegen den Kopf – es war nicht einmal eine Ohrfeige; der Schlag ignorierte, dass da ein Kopf war: er verfügte nur über das vorhandene Material. Zufällig war es ein Kopf. »Ich habe … ich … ich bin …« – »Du bist ein Teufelsbraten«, sagte die Adriani. »Drückst dich hier oben herum, während unten geturnt wird! Heute Abend kein Essen. In die Schar!« Das Kind schlich unter die andern; sie machten ihm hochmütig und mit artigem Abscheu Platz.
Dies war eine Kinderkolonie, Läggesta, in der viele deutsche Kinder waren und auch einige schwedische und dänische. Frau Adriani nützte ihr Besitztum am Mälarsee auf diese Weise gut aus. Zwei Nichten halfen ihr bei der Arbeit: die eine, wie ein Ableger der Tante, gehasst und gefürchtet wie sie; die andre sanft, aber unterdrückt und furchtsam; sie versuchte zu mildern, wo sie konnte – es gelang ihr selten. Wenn die Alte ihre Tage hatte, waren die beiden Nichten nicht zu sehen. Sie hatte vierzig Kinder. Sie hatte keine Kinder. Und die vierzig hatten es nicht gut. Die Frau plagte sich viel um die Kinder; aber sie war hart zu ihnen, sie schlug. Schlug sie gern …? Sie herrschte gern. Jedes Kind, das die Kolonie vor der Zeit verließ, war in ihren Augen ein Verräter; sie hätte nicht sagen können, woran; jedes, das hinzukam, eine willkommene Bereicherung des Materials, auf dem sie regierte. Wenn sich auch viele Kinder beklagten und fortgenommen wurden –: sie hatte viele Waisen darunter, und es kamen immer neue Mädchen.
Kommandieren … Damit hatte sie es nun sonst nicht leicht. Denn wo sich die Schweden beugen, verbeugen sie sich höflich, weil sie es so wollen. Sie gehorchen nur, wenn sie eingesehen haben, dass es hier und an dieser Stelle nötig, nützlich oder ehrenvoll ist, zu gehorchen … sonst aber hat einer, der in diesem Lande herrschen will, wenig Gelegenheit dazu. Man verstände ihn gar nicht; man lachte ihn aus und ginge seiner Wege.
Frau Adriani wechselte oft ihr Personal und brachte sich die Angestellten häufig aus Deutschland mit, wohin sie manchmal reiste. Im Winter saß sie hier oben fast allein, nur wenige Kinder blieben dann da – wie zum Beispiel die kleine Ada. Ihr Mann … wenn Frau Adriani an ihren Mann dachte, war es, wie wenn sie eine Fliege verjagen musste. Dieser Mann … sie zuckte nicht einmal mehr die Achseln. Er saß in seinem Zimmer und ordnete Briefmarken. Sie verdiente das Geld. Sie. Und im Winter wartete sie auf den Sommer – denn der Sommer war ihre Zeit. Im Sommer konnte sie durch die langen Korridore des Landhauses donnern und befehlen und verbieten und anordnen, und alles um sie herum fragte sich gegenseitig nach ihrer Stimmung und zitterte vor Furcht, und sie genoss diese Furcht bis in die Haarspitzen. Fremde Willen unter sich fühlen – das war wie … das war das Leben.
»Jetzt bleiben alle hier oben, bis es zum Essen klingelt. Wer spricht, hat Essen-Entzug. Sonja! Deine Haarschleife!« Ein Mädchen riss sich, puterrot, die Schleife, die sich gelöst hatte, aus den Haaren und band sie von neuem. Es war so still – man hörte vierzig kleine Mädchen atmen. Frau Adriani genoss mit einem kalten Blick ihrer grau-grünen Augen die Situation, dann ging sie hinaus. Hinter ihr zischelte es zwiefach: das waren die, die, ganz leise, sprechen wollten, und die andern, die die Flüsternden mit einem »Pst!« daran zu hindern suchten. Das Kind stand für sich allein. Kleine Mädchen können sehr grausam sein. Es war sonst keine bestraft worden, am heutigen Tage – die Majorität hatte also stillschweigend beschlossen, das Kind fallen zu lassen. Das Kind hieß ›das Kind‹, weil es einmal auf die Frage der Adriani: »Was bist du?« geantwortet hatte: »Ich bin ein Kind.« Niemand beachtete es jetzt.
Wann hört dies auf? dachte das Kind. Das hört nie auf. Und dann liefen die Tränen, und nun weinte es, weil es weinte.
2
Die Bäume rauschten vor unsern Fenstern, und sie rauschten mich aus einem Traum, von dem ich schon beim Erwachen nicht mehr sagen konnte, was das gewesen sein mochte. Ich drehte mich in den Kissen; sie waren noch schwer von Traum. Vergessen … Warum war ich aufgewacht?
Es klopfte.
»Die Post! Daddy, die Post! Geh mal an die Tür!« Die Prinzessin, die eben noch geschlafen hatte, war wach – ohne Übergang.
Ich ging. Zwischen Bett und Tür überlegte ich, wie es doch zwischen Mann und Frau Morgen-Augenblicke gibt, da hat es sich mit der Liebe ausgeliebt. Sehr entscheidende Augenblicke – wenn die gut verlaufen, dann geht alles gut. Von dem quäkrigen »Wieviel Uhr ist es denn …?« bis zum »Hua – na, da steh auf!« … da pickt die kleine Uhr auf dem Nachttisch viel Zeit auf, der Tag ist erwacht, nun schläft die Nacht, es schläft die unterirdische Hemisphäre … bei den meisten Frauen wenigstens, leider … Ich war an der Tür. Eine Hand steckte Briefe durch den Schlitz.
Die Prinzessin hatte sich im Bett halb aufgerichtet und warf vor Aufregung alle Kissen durcheinander. »Meine Briefe! Das sind meine Briefe! Du Schabülkenkopp! Gib sie her! Na, da schall doch gliks …« Sie bekam ihren Brief. Er war von ihrer Stellvertreterin aus dem Geschäft, und es stand darin geschrieben, dass es nichts zu schreiben gäbe. Die Sache mit Tichauer wäre in Ordnung. Beim kleinen Inventarbuch wären sie bei G. Das zu hören beruhigte mich ungemein. Was für Sorgen hatten diese Leute! Was für Sorgen sie hatten? Ihre eignen, merkwürdigerweise.
»Geh mal Wasser braten!«, sagte die Prinzessin. »Du musst dich rasieren. So, wie du da bist, kannst du keinem Menschen einen Kuss geben. Was hast du für einen Brief bekommen?« – Ich grinste und hielt den Brief hinter meinem Rücken verborgen. Die Prinzessin stritt erbittert mit den Kissen. »Wahrscheinlich von irgend einer Braut … einer dieser alten Exzellenzen, die du so liebst … Zeig her. Zeig her, sag ich!« Ich zeigte ihn nicht. »Ich zeige ihn nicht!«, sagte ich. »Ich werde dir den Anfang vorlesen. Ich schwöre, dass es so dasteht, wie ich lese – ich schwöre es. Dann kannst du ihn sehn.« Ein Kissen fiel, erschöpft und zu Tode geschlagen, aus dem Bett. »Von wem ist er?« – »Er ist von meiner Tante Emmy. Wir sind verzankt. Jetzt will sie etwas von mir. Darum schreibt sie. Sie schreibt:
›Mein lieber Junge! Kurz vor meiner Einäscherung ergreife ich die Feder …‹«
»Das ist nicht wahr!«, schrie die Prinzessin. »Das ist … gib her! Es ist ganz grrroßartig, wie Bengtsson sagen würde. Geh dich rasieren und halt die Leute hier nich mit deine eingeäscherten Tantens auf!«
Und dann gingen wir in die Landschaft.
Das Schloss Gripsholm strahlte in den Himmel; es lag beruhigend und dick da und bewachte sich selbst. Der See schaukelte ganz leise und spielte – plitsch, plitsch – am Ufer. Das Schiff nach Stockholm war schon fort; man ahnte nur noch eine Rauchfahne hinter den Bäumen. Wir gingen quer ins Land hinein.
»Die Frau im Schloss«, sagte die...
Erscheint lt. Verlag | 13.11.2020 |
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Reihe/Serie | Reclam Taschenbuch |
Verlagsort | Ditzingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Gripsholm Erzählung • Gripsholm Roman • Liebe Literatur • Liebesgeschichte Schweden • Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte • Tucholsky Liebesgeschichte |
ISBN-10 | 3-15-961778-5 / 3159617785 |
ISBN-13 | 978-3-15-961778-7 / 9783159617787 |
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