Grenzerfahrungen (eBook)

Wie wir an Krisen wachsen - Mit einem neuen Vorwort
eBook Download: EPUB
2021
336 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-27587-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Grenzerfahrungen - Wolfgang Schäuble
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Das Vermächtnis des großen Politikers: Wolfgang Schäuble ermutigt, über die Zukunft zu streiten
Die Pandemie hat vieles, was uns selbstverständlich erscheint, in Frage gestellt. Welchen Preis hat der Schutz des Lebens, wenn zugleich die Grundrechte eingeschränkt werden? Wie balancieren wir die verschiedenen Bedürfnisse in einer Gesellschaft, so dass alte Menschen besonders geschützt und zugleich die Zukunftschancen der nachfolgenden Generationen gewahrt bleiben? Was heißt europäische Solidarität im Lockdown? Wolfgang Schäuble erkundet die politischen Grenzerfahrungen in einem Krisenjahrzehnt und scheut sich nicht davor, auch unbequeme Debatten anzustoßen. Zugleich diskutiert er seine Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit - ob Schutz der Lebensgrundlagen, Umgang mit begrenzten Ressourcen, Exzesse der Globalisierung oder Migration - mit Persönlichkeiten wie Rutger Bregman, Ralf Fücks, Maja Göpel, Sylvie Goulard, Diana Kinnert, Ivan Krastev und Armin Nassehi. Das Buch stößt die Debatte darüber an, was es wertzuschätzen gilt und wo wir unserem Denken und Handeln eine neue Richtung geben sollten.
  • Mit einem neuen Vorwort zur Paperback-Ausgabe


Wolfgang Schäuble, geboren 1942, zählte zu den wichtigsten deutschen Politikern der letzten vierzig Jahre. Er war seit 1972 Mitglied des Deutschen Bundestags, war Fraktionsvorsitzender der Union und Vorsitzender der CDU und hatte zudem über drei Jahrzehnte hinweg wichtige Staatsämter inne, darunter Kanzleramtsminister, Bundesinnenminister und Bundesfinanzminister. Von 2017 bis 2021 war er Präsident des Deutschen Bundestags. Zu seinen Veröffentlichungen zählen »Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte« (1991), »Mitten im Leben« (2000) sowie »Scheitert der Westen? Deutschland und die neue Weltordnung« (2003). Zuletzt erschien von ihm »Grenzerfahrungen. Wie wir an Krisen wachsen« (2021). Wolfgang Schäuble verstarb am 26. Dezember 2023.

Politische Grenzerfahrungen –
und warum wir sie nicht fürchten müssen

Leben heißt Veränderung – und ich weiß, was das bedeutet. Etwas Vergleichbares habe ich in fünfzig Jahren Politik dennoch nicht erlebt. Als im Frühjahr 2020 in vielen Ländern ein Lockdown angeordnet wurde, stand für einen Moment die Welt still. Scheinbar. In Wahrheit verändert die Pandemie unser Leben rasant. Wer heute noch einmal eine Zeitung vom Jahresanfang 2020 in die Hand nimmt, wird sich über die damaligen Themen wundern und staunen angesichts einer Berichterstattung über ein Virus, das zwar gefährlich erschien, aber doch sehr weit weg.

Auch heute glauben noch immer Menschen, die Veränderung unserer Gewohnheiten sei eine allenfalls vorübergehende Erscheinung und bald werde alles wieder genauso sein, wie es vor Corona war, als man sich in der Familie und mit Freunden sorglos traf, zwanglos in Restaurants und Bars, entspannt im Konzert, Theater, Kino, feiernd in Klubs oder Stadien. Mit Urlaub in fernen Ländern, ohne Abstandsregel, Maskenpflicht und Quarantäne.

Bei allen Unwägbarkeiten, die mit dem Virus verbunden sind, ist eines sicher: Die globale Pandemie bedeutet eine Zäsur. Aber wird die Welt sich grundlegend wandeln? Die Ansichten darüber gehen auseinander. Für die einen dominiert die Natur des Menschen mit ihren Beharrungskräften. Mir ist die Überlegung des litauischen Schriftstellers Marius Ivaškevičius im Gedächtnis geblieben, der sich beim Satz »Die Welt wird nie mehr so sein, wie sie war« an frühere einschneidende Ereignisse erinnert fühlte. Danach habe es zwar tatsächlich Veränderungen gegeben, die Welt sei aber letztlich geblieben, wie sie gewesen ist. »Der Mensch ist ein zu träges Geschöpf, als dass er einfach gebremst werden könnte«, lautete sein illusionsloses Fazit in der FAZ. »Er ist das lebendigste aller Viren dieses Planeten.«

Also bleibt tatsächlich alles gleich, nur eben anders? Andere Stimmen betonen indes, trotz vielfach herbeigesehnter Rückkehr zur Normalität spräche wenig dafür, dass das Danach dem Davor gleichen würde. Die Normalität vor dem Corona-Virus werde nicht die Zukunft nach der Pandemie sein.

Covid-19 treibt uns durch eine steile Lernkurve und viele Lektionen werden bleiben. Das betrifft die sozialen Beziehungen in der Gesellschaft genauso wie das Verhältnis der Staaten untereinander, den globalen Wettbewerb der Systeme. Und es betrifft ganz grundsätzlich das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem Sicherheitsbedürfnis und dem Freiheitsdrang des Menschen, die konfliktbehaftete Abwägung zwischen Lebens- und Gesundheitsschutz einerseits und ökonomischen wie kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten anderseits.

Wir lernen gerade erst, mit dem Virus zu leben, und realisieren, dass wir uns gegen vergleichbare Bedrohungen besser wappnen müssen. Covid-19 werde höchstwahrscheinlich dazu führen, dass wir unsere Anstrengungen zum Schutz des menschlichen Lebens noch verdoppeln, prognostiziert Yuval Noah Harari mit der Gelassenheit des Historikers, der in seinen Studien regelmäßig die Menschheitsgeschichte durchschreitet. Die vorherrschende kulturelle Reaktion auf Covid-19 sei keine Resignation, sondern eine Mischung aus Empörung und Hoffnung.

Harari, dessen packende Analysen der Vergangenheit mich ebenso faszinieren wie seine nüchtern-technoziden Zukunftsvisionen bisweilen befremden, sieht das Grundvertrauen der Menschen in die Wissenschaft, das Leben zu verlängern, ungebrochen; es unterscheide unsere Welt von der vormodernen Zeit, als der Tod als unausweichliches Schicksal und Ursprung für den Sinn des Lebens gegolten habe. Wenn allerdings die Pandemie, wie auch Harari annimmt, gleichzeitig die Sensibilität des Individuums für seine Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit schärfen würde, wäre das für den modernen Menschen mit seinem Hang zur Hybris und für das Überleben der Spezies sicher nur von Vorteil.

Wir erleben derzeit unsere Verwundbarkeit – die eigene und die der Systeme, in denen wir uns bislang so selbstverständlich bewegt haben. Die Welt, wie wir sie kannten, und unser Grundvertrauen auf eine bessere Zukunft sind gründlich erschüttert. Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev, mit dem ich mich für dieses Buch zum Gespräch getroffen habe, prognostiziert, die Welt werde eine andere sein, nicht weil unsere Gesellschaften einen Wandel wollten oder weil ein Konsens über die Richtung des Wandels bestände, sondern weil eine Rückkehr unmöglich sei. Das entbindet uns nicht von unserer Gestaltungsaufgabe.

Im Gegenteil: Wenn wir jetzt handeln und die Weichen richtig stellen, können wir Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit korrigieren, um widerstandsfähiger zu werden. Was für eine Welt dann tatsächlich am Ende der gegenwärtigen Krise stehen wird, können wir noch nicht absehen. Aber ob diese Krise einen disruptiven Charakter annimmt, indem wir neue, innovative Wege beschreiten, und damit diese Welt ein Stück weit besser machen, liegt in einem erheblichen Maße an uns. An unseren Zielvorstellungen und an unserer Fantasie sowie Tatkraft, diese Ziele zu erreichen, kurz: an unserem Gestaltungswillen!

Nach einem Jahrzehnt unterschiedlicher krisenhafter Zuspitzungen sind wir gewohnt, unsere Gegenwart als Krise zu beschreiben. Der Ausnahmezustand scheint zur Regel geworden zu sein. Die Bedrohung durch das Corona-Virus unterscheidet sich allerdings von den vorangegangenen Herausforderungen. Sie ist ein planetares Ereignis und bedroht jeden Menschen. Covid-19 ist nicht die erste Pandemie, mit der es die Menschheit zu tun hat. Aber sie ist die erste, die wir durch die modernen Kommunikationsmittel als wirklich globales Phänomen wahrnehmen. In den Demokratien des Westens hat sie erhebliche Freiheits- und Grundrechtsbeschränkungen ausgelöst und sie macht erhebliche staatliche Eingriffe in das soziale und wirtschaftliche Leben notwendig. Die ganze Welt kennt plötzlich ein gemeinsames Thema, und obwohl wir in der Bewältigung der Krise in vielem auf uns selbst zurückgeworfen sind, ist unser Blick kosmopolitischer geworden. Oder haben wir uns vorher ähnlich leidenschaftlich mit Fragen des Datenschutzes oder des Gesundheitswesens in Südkorea, Brasilien, Schweden befasst?

Die Corona-Pandemie lehrt Demut. Wir Deutschen wähnten uns vor vielen globalen Gefahren in relativer Sicherheit, unser Wohlstand schien garantiert. Plötzlich sehen wir uns nicht nur mit einer rätselhaften, sich ausbreitenden und tödlichen Krankheit konfrontiert, sondern in ihrer Folge auch mit der schwersten Rezession der Nachkriegsgeschichte. Weltweit brach die Wirtschaftsleistung ein, globale Lieferketten wurden unterbrochen, Arbeitsplätze und damit die Existenzgrundlage von Millionen Menschen sind verloren gegangen. Jetzt erinnern wir uns daran, dass Microsoft-Gründer Bill Gates schon vor Jahren mahnte, er fürchte nicht so sehr einen Krieg als eine Pandemie. Damals dachten die meisten von uns: Das wird nie eintreten, das ist doch allenfalls Stoff für Horrorfilme. Heute geißeln Verschwörungstheoretiker den Propheten – und wir alle müssen uns eingestehen, dass wir besser auf ihn gehört hätten.

Die erschreckenden Bilder von Bergamo, die Berichte von Vorrangentscheidungen über Leben und Tod wegen fehlender Intensivbetten im Elsass haben uns an die Grenzen dessen geführt, was wir ethisch vertreten können. Nicht anders die zwischen den Generationen hochemotional geführte Debatte über das Dilemma in der Pandemie, Leben schützen zu wollen und dafür zwangsläufig andere Grundrechte einschränken zu müssen.

Dem gegenüber stehen erstaunliche Erfahrungen neuer gesellschaftlicher Solidarität. In der Isolation gewann menschliche Nähe neuen Wert, innerhalb der Familien, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft. Mit der Krise verbinden sich, etwa bei plötzlich als systemrelevant erkannten Berufen, neu gewonnene Einsichten in soziale Schieflagen – und auch in Übertreibungen der Globalisierung, die wir zuvor mehrheitlich für die Normalität hielten und die zum Ausmaß der Pandemie überhaupt erst beigetragen haben. Selbst wenn die Gesundheitskrise zwischenzeitlich fast alles andere dominierte, schärft die existenzielle Bedrohung unser Bewusstsein für den Schutz der menschlichen Lebensgrundlagen – zumal die Wissenschaft nahelegt, dass es einen Zusammenhang zwischen Klimawandel, dem Raubbau an der Natur mit dem Verlust an Artenvielfalt und dem Risiko von Pandemien gibt.

Die Corona-Krise stellt also mit ihren Folgen für unsere Art, zu leben und zu wirtschaften, viele unserer Gewissheiten infrage und gefühlte Selbstverständlichkeiten auf den Kopf. Sie bedeutet eine Art kollektive Grenzerfahrung, in dem sie Knappheiten aufzeigt und uns dadurch Wertigkeiten neu oder anders bestimmen lässt.

Das ist der Ausgangspunkt für dieses Buch und führt zu einem Leitgedanken, der den hier versammelten Essays und Gesprächen zugrunde liegt: Begrenzung ist für mich eine Bedingung menschlicher Existenz und Knappheit nicht nur ökonomisch Grundlage für Wertbildung und Wertschätzung. Überfluss führt zur Vernachlässigung. Ich bin überzeugt, dass uns im Schlaraffenland die gebratenen Tauben ganz schnell aus dem Hals heraushängen würden. Es muss die richtigen Anreize geben. Das hat mit dem Menschen zu tun, wie er geschaffen ist. Je höher das hängt, was wir begehren, umso mehr strecken wir uns danach. Fehlt der Ansporn, werden wir bequem. Selbstzufriedenheit, neudeutsch: Complacency, tritt ein, wenn uns gesellschaftlich die Balance zwischen Fördern und Fordern verloren geht. Wenn Menschen nichts mehr abgefordert wird,...

Erscheint lt. Verlag 29.3.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte begrenzte Ressourcen • Biografie • Biographien • Bundestagswahl • Corona-Krise • Demokratie • eBooks • Europa • Freiheit • Grenzen • Nationale Identität • Russland Ukraine Konflikt • schäuble gestorben • tod wolfgang schäuble • Ukraine Krieg • Verantwortung • Westliche Welt
ISBN-10 3-641-27587-3 / 3641275873
ISBN-13 978-3-641-27587-7 / 9783641275877
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