Sprachen der Wahrheit (eBook)
480 Seiten
C. Bertelsmann Verlag
978-3-641-25725-5 (ISBN)
Leben und Schreiben, Wirklichkeit und Fantasie sind bei kaum einem Autor so eng, so schicksalhaft miteinander verknüpft wie bei Salman Rushdie. Ob in seinem Weltbestseller »Mitternachtskinder«, in seinem jüngsten, hochgelobten Roman »Quichotte« oder in den vielzähligen Essays, die er über die Jahre vorgelegt hat - in jeder Zeile steckt er selbst: seine Suche nach einer allgemeingültigen Sprache, sein Glaube an die Kraft des Erzählens, seine Erfahrung als Verfolgter und Emigrant und damit verbunden seine radikale Absage an Unterdrückung und Diskriminierung. Das zeigen alle seine Werke eindrücklich. Klug und differenziert beleuchtet Rushdie in seinen Essays, Glossen und Reden die aktuelle Weltpolitik von Osama bin Laden bis Donald Trump, gibt Einblick in seine Ideenwelt und sein künstlerisches Schaffen. Gerade in seinen brillanten Literaturkritiken wird deutlich, wer ihn inspiriert: Shakespeare, Borges, auch sein Freund Harold Pinter.
Die in »Sprachen der Wahrheit« erstmals versammelten und zum Teil bisher unveröffentlichten Texte aus den vergangenen zwei Jahrzehnten veranschaulichen, wie ernst Salman Rushdie seine Verantwortung als Weltautor nimmt. So sind seine geistreichen Schriften immer auch ein Plädoyer für das vielstimmige Miteinander der Kulturen.
»Salman Rushdie ist ein phantastischer Erzähler und einer der besten lebenden Essayisten.« Arno Widmann
Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
PROTEUS
Edward Bond und Shakespeares Schweigen
Nun, da ich langsam älter werde, fühle ich mich manchmal wie der japanische Dichter-Philosoph Bashō, der nach vielen Jahren, die er auf der Suche nach Weisheit Auf schmalen Pfade durchs Hinterland gereist ist, in Edward Bonds Stück Schmaler Weg in den tiefen Norden gefragt wird, was er gelernt habe, und er antwortet: »Ich habe gelernt, dass es im tiefen Norden nichts zu lernen gibt.« Nichts zu lernen auf der Reise, ist die Erkenntnis der Reise, denn die Weisheit selbst ist eine große Illusion.
Edward Bond war eine der berühmten Gestalten des goldenen Zeitalters des britischen Theaters in den 1970er-Jahren, mit einer düsteren und unerbittlichen Sicht auf die Dinge, aber einer stets reichen Dramatik. Was die Leute heute noch in Erinnerung haben, ist, dass Edward Bond ein Stück namens Gerettet schrieb, in dem ein Baby auf der Bühne zu Tode gesteinigt wurde, genauer gesagt, Schauspieler warfen Steine auf einen Kinderwagen, in dem, wie man die Zuschauer wissen ließ, ein Kind lag, obwohl da kein Baby war, und selbst die Steinigkeit der Steine ist fragwürdig, denn es waren schließlich Requisiten, und die Fiktionalität des Unterfangens war eindeutig klar durch die Tatsache, dass das Ganze auf einer Bühne stattfand, während die Leute, manche gut gekleidet, andere nicht, denn bei Londoner Theaterbesuchern ist beides möglich, auf billigen und teuren Plätzen saßen und es geschehen sahen, und das schließlich nicht im Rom der Gladiatoren, nicht einmal im London der Zeit, als Menschenmengen an dem Platz zusammenkamen, der heute Marble Arch heißt, damals Tyburn Tree, um die dortigen Hinrichtungen zu bejubeln. Nein, dies geschah im Royal Court Theatre am Sloane Square, und außerhalb des Theaters herrschte das »Swinging London«, es schwang so kräftig, wie es konnte, es schwang, wie es im Song hieß, wie ein Pendel. Nun ist die Fiktionalität der Fiktion eine bedeutende Angelegenheit; sie bildet den Kern der wechselseitigen Beziehung, des Vertrags zwischen dem Werk und seinen Zuschauern, das Werk bekennt seine Fiktionalität, seine Unwahrheit, während es verspricht, die Wahrheit aufzudecken, und das Publikum legt seinen Unglauben an das ab, von dem es weiß, dass es nicht zu glauben ist, und entdeckt so einen Stoff, an den zu glauben sich lohnt. Genau das tun Menschen, wenn sie Literatur auf einer Bühne oder in einem Buch erleben, aber sie vergessen, dass sie es tun, oder falls sie sich daran erinnern, meinen sie, es sei nicht wichtig, sie meinen, es sei natürlich, obwohl es genau das Gegenteil ist, es ist unnatürlich, es ist ein Kunstgriff, es ist künstlich. Der Akt des Lesens oder Sehens ist auch ein kreativer Akt, eine Teilhabe an der Fiktion, klatschen Sie in die Hände, wenn Sie an Feen glauben, und ist das nicht der Fall, entfaltet sich der Zauber nicht, und Tinkerbell stirbt. Kinder wissen das, aber die Leute werden erwachsen und vergessen es, ebenso wie die kleinen Darling-Geschwister Peter Pan vergessen.
Menschen erinnern sich ja an Skandale, darum erinnern sie sich auch an Edward Bonds gesteinigtes Baby. Nicht so sehr erinnern sie sich zum Beispiel an Bonds außergewöhnliches Stück Lear, das sich mit Shakespeares gewichtigem Stück auf einen Nahkampf einließ, irgendwie alle Runden überstand, nicht platt gewalzt wurde und mit dem aus dem Kampf hervorging, was man in England »a draw«, ein Unentschieden, nennt und in Amerika mit einem seltsamen Bild aus dem textilen Bereich, »a tie«, eine Schleife, bezeichnet. Die Menschen erinnern sich nicht oder vielleicht doch, vielleicht erinnern sich manche an Edward Bonds Stück Bingo, in dem Shakespeare als Person auftritt, denn als Schriftsteller entkommt man dem Mann nicht. (Ich habe eine Shakespeare-Büste aus Messing als Türklopfer an der Tür zu meinem Arbeitszimmer, sodass ich jeden Tag, wenn ich es betrete, um zu arbeiten, an meine Tür klopfen und mir selbst erlauben kann hineinzugehen. Ich weiß, dass ich nicht meinen Bereich betrete, sondern seinen, Shakespeares, den kein Türklopfer begrenzen oder einschränken kann, der aus dem Türklopfer heraushüpft, das Zimmer hinter der Tür in Besitz nimmt und es beherrscht, so wie er alle Räume im armen, reichen Haus der Literatur beherrscht.)
Edward Bonds Shakespeare in dem Stück Bingo, an das sich die Leute vielleicht erinnern oder auch nicht, betrinkt sich mit Ben Jonson, mit Edward Bonds Ben Jonson, der gekommen ist, um ihn an seinem rätselhaften Rückzugsort Stratford zu besuchen, um ein Geheimnis zu durchdringen, das ebenso tief ist wie das Rätsel seines Genies, nämlich das Geheimnis seines Schweigens.
(Man verbringt viel Zeit mit dem falschen Rätsel, dem Nichträtsel, wer Shakespeares Stücke schrieb, Francis Bacon oder Christopher Marlowe oder, mein persönlicher Favorit, nicht William Shakespeare, sondern eine andere Person desselben Namens, aber die schlichte Wahrheit ist, dass Shakespeare offenkundig Shakespeare war. Es mag unerträglich erscheinen, dass ein Autodidakt aus der Provinz, ein Schauspieler und Schreiberling, der seinen eigenen Namen nicht buchstabieren konnte, Shakespeare war, aber genau der war er.)
Edward Bond verstand, dass Shakespeares Schweigen das entscheidende Rätsel ist, die Entscheidung des größten Genies in der Geschichte der englischen Literatur, auf dem Höhepunkt seiner Karriere sich von diesem Genie abzuwenden, das Schreiben, das Schauspielern, das Führen des Theaters und Southwark aufzugeben, dieses zwielichtige Viertel mit vielen Theatern, Spielhöllen, Bordellen und Hahnenkämpfen, das er geliebt haben muss, denn selbst nachdem er der erfolgreichste Bühnenautor seiner Zeit geworden war, verließ er es nie für zuträglichere Viertel, und als er tatsächlich umzog, war es nicht allzu weit weg. Mit einem Mal entschied er 1613, seine Arbeit sei getan, er legte alles nieder und kehrte zurück nach Stratford, ohne auch nur einmal zurückzublicken, und lebte drei Jahre lang ein spießiges, aber offenbar zufriedenes, bürgerliches, provinzielles Leben, ein Leben mit Anne Hathaway, Leben und Sterben mit Anne, der er in seinem Testament sein zweitbestes Bett vermachte, was nicht so beleidigend sein mag, wie es klingt, denn laut einigen Forschern wurde in einem elisabethanischen bürgerlichen Haushalt, wie dem von Shakespeare und Anne, das beste Bett abseits aufbewahrt für den Fall, dass ein hoch angesehener Gast über Nacht blieb, es wurde makellos und unberührt aufbewahrt für den Fall, dass ein Earl oder sogar eine Königin oder ein König unerwartet abstieg, während das zweitbeste Bett das Ehebett war, das Bett, in dem sie miteinander schliefen, Mistress Hathaway und das Genie, das seinen Namen nicht buchstabieren konnte, das ihn bei irgendeiner Gelegenheit in jenen Tagen – vor der standardisierten Orthografie und den Rechtschreibwettbewerben – als »Chackspaw« niederschrieb.
Shakespeares Schweigen: das domestizierte Verstummen des Lieds von Sweet Will, des Zauberers, der wie Prospero, der von ihm erschaffene Zauberer, seine Insel voll Lärm verließ, den Stab brach und seiner Kunst abschwor, und warum? Wir wissen es nicht. Er hat uns keine Gründe genannt. Aber wenn wir seinem Genie vertrauen, dann können wir annehmen, dass die letzte Einsicht dieses Genies die Erkenntnis war, er habe sein Werk getan, es sei an der Zeit aufzuhören. Und so hörte er auf, in einem Akt großartigen, wenn auch nicht süßen Willens.
Er hinterließ uns keine Briefe, keine Tagebücher, keine ersten Entwürfe, keine Kollektaneen, keine Autobiografie, nichts außer seinem Werk, seinem unerschöpflichen Werk. Zu Shakespeares Genie gehörte es auch sicherzustellen, dass sein Schweigen ihn überdauern würde, indem er seine Schnitzer, seine Ausarbeitungen, seine Bedenken und Erklärungen vernichtete, und das muss er eigenhändig getan haben, denn wenn man solche Materialien vernichten will, muss man es selbst tun, bitten Sie nicht jemanden, es für Sie nach Ihrem Tod zu tun, denn er wird es nicht tun, er wird das tun, was Max Brod für Kafka tat oder ihm antat, er wird die Texte veröffentlichen, die Sie verbrannt haben wollten, gegen Ihren ausdrücklichen Willen wird er den Prozess, Das Schloss, Amerika und Briefe an Felice veröffentlichen und auch die Briefe an das andere Mädchen – an Milena, richtig, so hieß sie.
Doch vielleicht wusste Kafka, was geschehen würde, denn er und Max hatten ein Gespräch darüber geführt, und Max Brod hatte ihm gesagt, sollte er zu seinem Nachlassverwalter ernannt werden, würde er die unveröffentlichten Arbeiten nicht vernichten, und dennoch bestimmte Kafka Brod zu seinem Nachlassverwalter und bat ihn, »alles zu verbrennen«, die Briefe an Milena und Felice ebenso wie den Prozess, Das Schloss und Amerika, er bat ihn darum, obwohl er nur allzu gut wusste, dass Brod es nicht tun würde.
Aber Shakespeare war anders, er war nicht wie Kafka, dessen meiste Meisterwerke bis nach seinem Tod unveröffentlicht blieben, Shakespeare hatte gesagt, was er zu sagen hatte, die Gedichte waren geschrieben und die Stücke aufgeführt, und als er sich dann für das Schweigen entschied, war er entschlossen, sich nicht wieder zu äußern, nicht einmal nach seinem Tod; er wollte nicht, dass Halbfertiges, Falsches gelesen würde, wollte nicht durch die Erforschung der Funktionsweise seines Hirns interpretiert und erklärt werden, sondern einzig durch das Werk, das unerschöpfliche, unerklärliche Werk. Er wurde still, weil er...
Erscheint lt. Verlag | 28.6.2021 |
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Übersetzer | Sabine Herting, Bernhard Robben |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Languages of Truth. Nonfiction 2003-2020 |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | autobiographischer Essay • Booker Prize • Die satanischen Verse • eBooks • Englischsprachige Literatur • friedenspreises des deutschen buchhandels • Globalisierung • internationaler Bestsellerautor • Islam • Joseph Anton • Literaturkritik • Meinungsfreiheit • Mitternachtskinder • Spiegel-Bestseller-Autor • Überschreiten Sie diese Grenze! • Weltliteratur • Weltpolitik |
ISBN-10 | 3-641-25725-5 / 3641257255 |
ISBN-13 | 978-3-641-25725-5 / 9783641257255 |
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