Die große Stille (eBook)
392 Seiten
GOLKONDA VERLAG
978-3-96509-036-1 (ISBN)
Ted Chiang wurde in Port Jefferson, New York, geboren. Der studierte Informatiker lebt derzeit in der Nähe von Seattle, Washington. Er gilt weltweit als die größte Entdeckung in der Science-Fiction-Szene der letzten zwanzig Jahre. Für seine Erzählungen hat er alle namhaften Preise des Genres wie den Hugo Award, den Nebula Award und den Locus Award erhalten. »Die Geschichte deines Lebens« wurde unter dem Titel »Arrival« von Denis Villeneuve verfilmt und zum Hollywood-Blockbuster 2017.
Ted Chiang wurde in Port Jefferson, New York, geboren. Der studierte Informatiker lebt derzeit in der Nähe von Seattle, Washington. Er gilt weltweit als die größte Entdeckung in der Science-Fiction-Szene der letzten zwanzig Jahre. Für seine Erzählungen hat er alle namhaften Preise des Genres wie den Hugo Award, den Nebula Award und den Locus Award erhalten. »Die Geschichte deines Lebens« wurde unter dem Titel »Arrival« von Denis Villeneuve verfilmt und zum Hollywood-Blockbuster 2017.
Seit Langem herrscht die Meinung vor, dass die Luft (von manchen auch Argon genannt) der Quell des Lebens sei. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall, und so graviere ich diese Worte, um zu berichten, wie ich herausfand, was der wahre Quell des Lebens ist und – was damit zusammenhängt – auf welche Weise das Leben eines Tages enden wird.
Die Ansicht, dass die Luft unser Leben ermöglicht, galt im Laufe der Geschichte als so selbstverständlich, dass es nicht einmal nötig war, sie zu erklären. Jeden Tag verbrauchen wir zwei mit Luft gefüllte Lungen; jeden Tag entfernen wir die leeren Lungen aus unserer Brust und ersetzen sie durch volle. Jemand, der so unbedacht ist, seinen Luftpegel zu weit absinken zu lassen, spürt, wie seine Glieder allmählich schwer werden und sich der Drang verstärkt, die Lungen wieder aufzufüllen. Äußerst selten kommt es vor, dass jemand nicht wenigstens eine Lunge rechtzeitig auswechseln kann, bevor das ihm eingesetzte Paar völlig leer ist. Geschieht so ein Unglück einmal – wenn jemand irgendwo feststeckt, sich nicht bewegen kann und niemand in der Nähe ist, der ihm hilft –, stirbt er, sobald sein Luftvorrat zur Neige gegangen ist.
Im normalen Verlauf des Lebens verschwenden wir kaum einen Gedanken darauf, dass wir Luft benötigen, und viele würden sogar sagen, dass dieses Bedürfnis der unerheblichste Grund dafür ist, warum wir die Füllstationen aufsuchen. Diese Füllstationen sind der wichtigste Treffpunkt für den tagtäglichen gesellschaftlichen Austausch – hier stillen wir sowohl unsere emotionalen als auch unsere körperlichen Bedürfnisse. Jeder hat Ersatzlungen zu Hause, doch alleine die eigene Brust zu öffnen und seine Lungen auszuwechseln, wird schnell zur lästigen Pflicht. Im Beisein anderer wird aus dieser Notwendigkeit allerdings eine gemeinschaftsstiftende Aktivität, eine geteilte Freude.
Ist man gerade sehr beschäftigt oder ungesellig, kann man einfach ein volles Paar Lungen mitnehmen, sie einsetzen und die leeren Lungen auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes abstellen. Hat man jedoch ein wenig Zeit übrig, gebietet es die Höflichkeit, die leeren Lungen an den Luftspender anzuschließen, um sie für den nächsten aufzufüllen. Für gewöhnlich bleibt man aber eine Weile, erfreut sich der Gesellschaft anderer, tauscht Neuigkeiten mit Freunden und Bekannten aus und reicht seinen Gesprächspartnern beiläufig frisch gefüllte Lungen. Auch wenn diese Praxis keine Luftgemeinschaft im strengen Sinn des Wortes darstellt, stiftet sie eine gewisse Kameradschaft, die auf dem Wissen aller beruht, dass die Luft aus derselben Quelle stammt, denn die Luftspender sind nur die sichtbaren Endpunkte der Leitungen, die zum Vorratsspeicher tief unter der Erde führen, der großen Lunge der Welt, dem Quell all unserer Nahrung.
Viele Lungen werden am nächsten Tag zum selben Luftspender zurückgebracht, doch genauso viele gelangen zu anderen Stationen, wenn die Leute einen benachbarten Bezirk besuchen. Die Lungen sehen alle gleich aus – glatte Zylinder aus Aluminium –, sodass sich nicht sagen lässt, ob eine bestimmte Lunge stets in der Nähe geblieben ist, oder ob sie eine lange Reise hinter sich hat. Und ganz so, wie die Lungen von einer Person zur nächsten, von einem Bezirk zum anderen wandern, verbreiten sich auch Nachrichten und Tratsch. Auf diese Weise erfährt man Neuigkeiten aus den entlegensten Bezirken, selbst aus jenen vom Rand der Welt, ohne dass man sich von zu Hause fortbegeben muss, allerdings reise ich selbst gerne. Ich habe den ganzen weiten Weg bis zum Rand der Welt zurückgelegt und die massive Chromwand gesehen, die sich vom Boden aufwärts in die Unendlichkeit des Himmels erstreckt.
Bei einer der Füllstationen hörte ich zum ersten Mal von jenen Gerüchten, die mich zu meinen Untersuchungen anregten, welche schließlich zu meiner Erleuchtung führten. Es begann durchaus harmlos mit einer Bemerkung des Ausrufers unseres Bezirks. Wie es Brauch ist, rezitiert der Ausrufer an jedem Mittag des ersten Tages eines Jahres Verse – eine Ode, die vor langer Zeit für dieses jährliche Fest verfasst wurde und die vorzutragen genau eine Stunde dauert. Der Ausrufer erwähnte, dass die Turmuhr bei seiner jüngsten Darbietung der Verse bereits zur vollen Stunde schlug, bevor er seine Rezitation beendet hatte. Dergleichen war noch nie geschehen. Ein anderer, der sich in der Füllstation aufhielt, meinte, das sei aber ein Zufall gewesen, denn er sei gerade aus einem nahegelegenen Bezirk zurückgekehrt, und dort hätte sich der Ausrufer über dasselbe Missverhältnis beklagt.
Niemand machte sich allzu viele Gedanken über diese Vorfälle, man nahm sie einfach zur Kenntnis. Erst einige Tage später, als man von einer ähnlichen Abweichung zwischen den Versen des Ausrufers und dem Lauf der Turmuhr in einem dritten Bezirk erfuhr, vermutete man, diese Unstimmigkeiten könnten auf einen Defekt im Mechanismus der Turmuhren zurückzuführen sein, auch wenn es seltsam erschien, dass die Uhren schneller gingen und nicht langsamer. Horologen untersuchten die drei Turmuhren, aber sie konnten keinen Fehler entdecken. Als man die Turmuhren mit den für solche Eichungen verwendeten Uhren verglich, zeigte es sich sogar, dass sie die Zeit weiterhin akkurat maßen.
Ich selbst fand diese Angelegenheit äußerst faszinierend, war aber zu sehr in meine eigenen Studien vertieft, um diesen Vorgängen meine Aufmerksamkeit zu widmen. Ich forsche auf dem Gebiet der Anatomie, und damit der größere Zusammenhang meines weiteren Vorgehens verständlich ist, will ich kurz von meiner Beziehung zu meinem Forschungsfeld erzählen.
Da wir sehr langlebig und tödliche Unglücksfälle die Ausnahme sind, stirbt glücklicherweise nur selten jemand, was jedoch die Erforschung der Anatomie erschwert, insbesondere da viele Unfälle, die so schwer sind, dass dabei jemand stirbt, die Überreste der Verunglückten zu sehr beschädigen, als dass sie noch für Studienzwecke brauchbar wären. Platzt eine volle Lunge, zerfetzt die Wucht ihrer Explosion den Körper und reißt das Titan wie Blech in Stücke. Anatomieforscher widmeten sich deshalb früher vor allem den Gliedmaßen, da diese noch am ehesten unversehrt blieben. In der ersten Anatomiestunde, der ich vor hundert Jahren beiwohnte, zeigte uns der Dozent einen abgetrennten Arm, dessen Verkleidung entfernt worden war, um die eng beieinander liegenden Stangen und Kolben freizulegen. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, wie der Dozent, nachdem er die Arterienschläuche mit einer an der Wand des Labors angebrachten Lunge verbunden hatte, die Stangen am Stumpf des Armes bewegen konnte, sodass die Hand daraufhin ruckartig eine Faust bildete und sich wieder öffnete.
In den darauffolgenden Jahren entwickelte sich die Anatomieforschung so weit, dass Anatomen beschädigte Gliedmaßen reparieren, gelegentlich sogar abgetrennte Glieder wieder anbringen konnten. Zudem haben wir es geschafft, die Physiologie lebender Subjekte zu studieren. Für meine Studenten habe ich die erste Anatomielektion, der ich selbst beigewohnt hatte, dahingehend abgeändert, dass ich die Verkleidung meines eigenen Armes freilegte, um den Erstsemestern zu zeigen, wie sich die Stangen dehnten und zusammenzogen, wenn ich meine Finger bewegte.
Trotz dieser Fortschritte konnte eines der größten Geheimnisse von der Anatomieforschung bisher nicht gelöst werden – nämlich die Frage, wie unser Gedächtnis funktioniert. Zwar wissen wir ein wenig über die Beschaffenheit unserer Gehirne, doch die Physiologie des Gehirns lässt sich wegen seiner großen Empfindlichkeit weiterhin kaum untersuchen. Wird bei tödlichen Unfällen der Schädel verletzt, tritt das Gehirn explosionsartig in Gestalt einer goldenen Wolke aus, und außer zerfetzten Drähten und Plättchen, aus deren Untersuchung sich keine Erkenntnisse gewinnen lassen, bleibt nichts übrig. Die jahrzehntelang vorherrschende Theorie des Gedächtnisses besagte, dass die Erfahrungen einer Person auf feine Goldplättchen graviert werden; jene Goldplättchen eben, die nach einem Unglück von der Kraft der Explosion zerrissen werden und als kleine Flöckchen zurückbleiben. Anatomieforscher haben diese Goldplättchenfragmente – die so fein und dünn sind, dass Licht grünlich durch sie hindurchschimmert – früher gesammelt und Jahre damit zugebracht, ihre ursprüngliche Anordnung zu rekonstruieren, alles in dem Glauben, irgendwann die Symbole entziffern zu können, mit denen die letzten Erinnerungen der Verstorbenen aufgezeichnet wurden.
Ich bin kein Anhänger dieser sogenannten »Einschreibungs-Hypothese«, und zwar deshalb, weil sie nicht begründet, warum unsere Erinnerungen unvollständig sind, obwohl sie der Theorie zufolge lückenlos aufgezeichnet werden. Fürsprecher der Einschreibungs-Hypothese erklären das Vergessen damit, dass sich im Laufe der Zeit die Position der Goldplättchen zum Gedächtnis-Lesestift verschiebt und die ältesten Plättchen schließlich gar keinen Kontakt mehr zu diesem Stift haben. Mich hat das aber nie überzeugt, obwohl ich nachvollziehen...
Erscheint lt. Verlag | 30.10.2020 |
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Übersetzer | Karin Will, molosovsky, Jakob Schmidt |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | arrival • Das tiefe Schweigen • Die Geschichte deines Lebens • Die große Stille • die Wahrheit hinter dem Gefühl • Die Wahrheit hinter der Tatsache • Omphalos |
ISBN-10 | 3-96509-036-4 / 3965090364 |
ISBN-13 | 978-3-96509-036-1 / 9783965090361 |
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