Das Lied des Wolfes (eBook)
560 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12015-8 (ISBN)
Anthony Ryan ist New York Times-Bestsellerautor. Aus seiner Feder stammen die Rabenschatten-Romane: Das Lied des Blutes, Der Herr des Turmes und Die Königin der Flammen. Außerdem verfasste er die Draconis Memoria-Serie. Anthony Ryan lebt in London, wo er an seinem nächsten Buch arbeitet.
Anthony Ryan ist New York Times-Bestsellerautor. Aus seiner Feder stammen die Rabenschatten-Romane: Das Lied des Blutes, Der Herr des Turmes und Die Königin der Flammen. Außerdem verfasste er die Draconis Memoria-Serie. Anthony Ryan lebt in London, wo er an seinem nächsten Buch arbeitet. Sara Riffel studierte Amerikanistik, Anglistik und Kulturwissenschaft in Berlin. Sie übersetzt u. a. William Gibson, Tim Burton, Peter Watts und Joe Hill. 2009 erhielt sie den Kurd-Laßwitz-Preis.
Luralyns Bericht
Die erste Frage
Heutzutage nennen viele meinen Bruder ein Ungeheuer. Seine Taten, die schrecklichen wie die wundersamen, sind für sie das Werk eines übernatürlichen Wesens, das die Gestalt eines Menschen annahm, um furchtbares Unheil über uns alle zu bringen. In den dunklen und elenden Ecken der Welt wird er von manchen noch als Gott bezeichnet, aber das nur in furchtsamem Flüsterton. Interessanterweise sprechen weder Erstere noch Letztere seinen wahren Namen aus, dabei kennen sie ihn so gut wie ich. Kehlbrand, meinen Bruder, den ich trotz allem – trotz der Schlachten und Eroberungen, trotz der Massaker – immer noch liebe. Aber, höre ich dich, werter Leser, fragen, wie kann das sein? Wie kann man einen Mann lieben, der die halbe Welt in Blut gebadet hat?
In dieser ruhigeren Zeit, fern vom Wahnsinn und den Schrecken des Krieges, bleibt mir die Muße, über derlei Fragen nachzudenken. Während die Jahre vergehen und sich in mein einstmals rotbraunes Haar immer mehr Grau mischt, meine Gelenke zunehmend von Schmerzen geplagt werden und ich mich tiefer über die Seiten beugen muss, um zu sehen, was ich schreibe, ist dies die Frage, die mich am meisten beschäftigt.
Sei beruhigt, lieber Leser, liebe Leserin. Ich weiß, du hast dieses Buch nicht aufgeschlagen, um dir das Gejammer einer alten Frau anzuhören. Nein, du möchtest mehr über meinen Bruder erfahren und wie es ihm gelang, die ganze Welt zu verändern. Ich kann seine Geschichte aber nur in Verbindung mit meiner eigenen erzählen, denn zwischen uns bestand ein festes Band. Ein Band, das aus Blut und Bestimmung geknüpft war. Viele Jahre schien es so, als wären wir seelenverwandt, derart ähnlich waren unsere Ziele und unsere Hingabe an unsere heilige Mission. Doch wie ich erfahren musste, ist der Spiegel der schlimmste Lügner, und kein Spiegel bleibt von der Zeit unberührt.
Jahrelang habe ich darüber nachgedacht, wann die Verbindung zwischen Kehlbrand und mir entstanden ist. Vielleicht, als ich mit sieben vom Rücken meines ersten Pferdes fiel und mir eine blutige Schürfwunde am Knie zuzog. Damals war es Kehlbrand – gerade erst zwölf Jahre alt –, der mich tröstete. Die anderen Kinder des Skelds lachten mich aus und warfen Dung auf den schluchzenden Schwächling, mein Bruder dagegen kam und half mir hoch. Selbst damals war er schon langgliedrig und schlank, wie ein geborener Krieger, und einen Kopf größer als ich, was sich auch nicht mehr ändern würde.
»Druhr-Tivarik, kleines Fohlen«, sagte er leise – es war der Name, den die Priester denen gaben, die göttliches Blut in sich trugen – und wischte mir mit dem Daumen die Tränen ab. »Weine nicht.« Dann lächelte er entschuldigend und setzte eine Miene tiefster Verachtung auf. Mit der flachen Hand schlug er mir ins Gesicht. Der Schlag war so hart, dass ich zu Boden fiel und den Eisengeschmack von Blut auf der Zunge wahrnahm.
Einen Moment lang blinzelte ich nur verwirrt, meine Tränen waren jedoch zu meiner Überraschung versiegt. Als ich benommen hochschaute, sah ich Kehlbrand auf die anderen Kinder zumarschieren. Er suchte sich den Größten aus, einen kräftigen Jungen namens Obvar, der ein Jahr älter war als er und mich gerne hänselte.
»Eine Druhr-Tivarik steht über dem Urteil der Sterblichen«, sagte mein Bruder und schlug Obvar mit der Faust ins Gesicht.
Ein langer, blutiger Kampf folgte, der unter dem Nachwuchs des Skelds bald große Berühmtheit erlangte. Dass zuvor ein Kind der Druhr-Tivarik beleidigt worden war, geriet darüber schnell in Vergessenheit. Später wurde mir klar, dass Kehlbrand genau das beabsichtigt hatte, denn die Priester bestraften solche Dinge für gewöhnlich hart. Als es vorbei war, lag Obvar stöhnend und aus mehreren Wunden blutend am Boden, während Kehlbrand, nicht weniger blutüberströmt, noch auf den Beinen war. Wie es bei Jungen häufig geschieht, wurden er und Obvar in der Folgezeit beste Freunde. Sie schworen einander Sattelbruderschaft, die bis zu einem schicksalhaften Tag zwanzig Jahre später bestehen bleiben sollte. Aber, lieber Leser, liebe Leserin, ich möchte nicht vorgreifen.
Für mich bedeutete dieses Ereignis eine wichtige Lektion, wahrhaft verbunden fühlte ich mich Kehlbrand damals jedoch noch nicht. Und seltsamerweise auch nicht an dem Morgen, nachdem ich meinen ersten Wahrtraum hatte. Die Gabe des göttlichen Blutes ist launisch. Auch wenn die Druhr-Tivarik ausschließlich von Müttern geboren werden, die die göttliche Gabe besitzen, wird diese nicht immer weitervererbt. Häufig schlummert sie während der Kindheit gleichsam noch und offenbart sich erst mit dem Übergang ins Erwachsenenalter. So war es bei mir. Zu Beginn meines zwölften Sommers, in der Woche meiner ersten Blutung, hatte ich einen Wahrtraum.
Verzeih mir, lieber Leser, meine dürftigen Fähigkeiten als Schriftstellerin, doch es fällt mir schwer, das schiere Grauen jenes ersten Traumes in Worte zu fassen. Ich verwende diese Bezeichnung, weil mir der Begriff »Vision« zu albern und auch unzureichend erscheint. Der Wahrtraum ist ein Zustand jenseits der Realität, wenngleich er dem Träumer nur allzu real vorkommt. Mit der Verwirrung und den gedämpften Empfindungen eines gewöhnlichen Traums hat er nichts gemein. Die Luft auf der Haut, die Gerüche, die der Wind heranträgt, die Hitze einer Flamme oder das Brennen einer Wunde – all das spürt man klar und deutlich.
In jener Nacht lag ich auf meiner Matte in dem Zelt, das ich mit den anderen Druhr-Tivarik des Skelds teilte, und schlief so tief und fest wie noch nie zuvor in meinem Leben. Es war, als hätte sich ein schwarzer Schleier über meine Augen gelegt und alles Licht und Gefühl ausgesperrt, und als er beiseitegezogen wurde, fand ich mich in einer Szenerie des Grauens wieder.
An die Schreie erinnere ich mich am allerdeutlichsten. Der Schmerz eines Sterbenden ist schwer zu ertragen, besonders wenn man dergleichen noch nie erlebt hat. Damals hatte ich durchaus schon Menschen sterben sehen: Ketzer, Sklaven und Verbrecher, die gegen die Ewigen Gesetze verstoßen hatten; sie wurden gefesselt und vor dem Henker auf die Knie gezwungen. Aber diese Menschen starben schnell – ein rascher Schwerthieb, und ihre Köpfe fielen zu Boden. Ihre Körper, und manchmal auch ihre Gesichter, zuckten noch eine Weile, doch das war meist bald vorbei. Was ich hingegen in dem ersten Wahrtraum sah, war keine Hinrichtung, sondern eine Schlacht.
Ein Todgeweihter lehnte an der Flanke eines Pferdekadavers und starrte ungläubig auf die Eingeweide, die aus seinem Bauch hingen. Er hatte den Mund weit aufgerissen und schrie aus vollem Halse, während er versuchte, mit blutigen Händen die Darmschlingen wieder in seinen Leib zu stopfen. Um uns herum herrschte ein Durcheinander aus donnernden Hufen, klirrenden Klingen und dem schrillen Wiehern ängstlicher Pferde, eingehüllt in dichte Staubwolken.
Damals waren Schlachten in der Eisensteppe keine Seltenheit. Die Stahlhast befanden sich im schmerzhaften Übergang von einem Haufen miteinander verfeindeter Skelds zu einer wahren Nation. Etwa jeden zweiten Monat schnallten die Krieger ihre Bögen an die Pferdesättel und schärften ihre Säbel und Lanzenspitzen, um als Heer loszureiten. Nach Tagen oder Wochen kehrten sie zurück – stets siegreich. An ihren Sätteln baumelten die Köpfe ihrer Gegner. Nachts betranken sie sich dann und erzählten von großen Taten. Der Albtraum, in dem ich mich jetzt befand, hatte mit derartigen Erzählungen jedoch nichts gemein.
Mein Blick huschte von einem Grauen zum nächsten: ein kriechender Mann, aus dessen Beinstümpfen Blut strömte, ein Pferd mit aufgeschlitztem Bauch, das sich am Boden in seinen Eingeweiden und Exkrementen wälzte, und inmitten von alldem Kehlbrand, mein Bruder, mit hoch erhobenem Haupt.
Wie immer in der Schlacht trug er keinen Helm. Sein langer Zopf wirbelte herum, während er gegen mehrere Feinde gleichzeitig kämpfte. Es mussten mindestens ein Dutzend sein; ihre Rüstungen zeigten das Wappen des Rotvogels, das sie als Angehörige des Rikar-Skelds auswies, unseres verhasstesten Gegners....
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2020 |
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Übersetzer | Sara Riffel |
Zusatzinfo | mit Kartenabbildungen |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Blutmagie • Der Paria • episch • Erpresser • Fantasy Taschenbuch • Fantasy Taschenbuch 2023 • Held • High Fantasy • Hobbit Presse • Hobbit Presse Klett-Cotta • Kampf • Liebesfluch • Magie • Mörder • New York Times Bestsellerautor • packend • Rabenklinge • Rabenschatten • Romantische Fantasy • Schurken • spannende Fantasy • Spiegel Bestseller Autor • Stählerne Horde • Tiermagie • Treue • Vaelin al Sorna • vorherbestimmung • Waldfantasy |
ISBN-10 | 3-608-12015-7 / 3608120157 |
ISBN-13 | 978-3-608-12015-8 / 9783608120158 |
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