Drei Fliegen (eBook)

Über Gedichte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
327 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75534-7 (ISBN)
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Kann man an der Zimmerdecke schlafen? Kann man unter die Tapete gehen? Nur Gedichte können so etwas, denke ich. Mich hier und zugleich dort sein lassen. Die Sprache dehnen, ohne daß es auch nur im mindesten gedehnt aussehen würde. Mich anregen, vorbehaltlos in die Verse einzutauchen, von mir abzusehen, für Momente jedenfalls. Selbstvergessenheit. Nachdenken. Die Lust des Staunens.
Manchmal genügt der eigene Schreibtisch. Ein Blick auf Zettel, Stifte, die Maserung des Holzes - und schon nehmen die Assoziationen ihren Lauf. Nico Bleutge tastet der Bedeutung von Wörtern und historischen Schichten nach. Seine Sätze schenken uns überraschende Verbindungen und machen etwas spürbar von der Lust der Wiederholung. Ob es sich um ein Gedicht von Elizabeth Bishop handelt, ein Bild des niederländischen Malers Jacques de Gheyn II. oder einen Gedächtnissplitter aus der Kindheit - stets verknüpft er den genauen Leseblick des Dichters mit autobiografischenen Erkundungen und Reflexionen über Erinnerung und Sprache. In seinen Essays und Skizzen taucht Bleutge in die Sprachwelten anderer Dichterinnen und Dichter ein und bringt dabei zugleich Gedanken über das eigene Schreiben an die Oberfläche. Hier lauscht er den morgendlichen Fliegen am Fenster, vertraut der Kraft der Imagination und wird am Ende selbst zur Fliege. Dort versucht er dem Staunen der Tiere auf die Spur zu kommen. So wie Tiere immer ein Moment des Anderen, des Ungleichen an sich haben, suchen diese Texte nach dem Geheimnis der Phänomene, drehen das scheinbar Bekannte, um es uns neu sehen zu lassen.

Nico Bleutge, 1972 in München geboren, lebt in Berlin. Für sein Schreiben wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Erich-Fried-Preis (2012), dem Christian-Wagner-Preis (2014), dem Stipendium der Kulturakademie Tarabya, Istanbul (2013/2014), dem Alfred-Kerr-Preis (2016), dem Kranichsteiner Literaturpreis (2017) und dem Stipendium der Villa Massimo Rom (2018/19).

2. Kapitel


Wie eine Katze hinter Fensterscheiben


Immer noch steht der kleine Junge am Wasser. Sein Blick scheint auf das blaurote Frachtboot zu gehen, das langsam durch den Kanal zieht. Die Fahrspur des Bootes ist kaum zu sehen, nur ein paar dunklere Linien deuten den Rand der Wellen an. Wo das Wasser gegen die Kanalwand drückt, hat sich ein wenig Schaum angesammelt. Darüber beginnt der Uferweg, hell und farblos, als habe die Luft ihre Form verändert. Der Junge hat die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Er trägt Hosen mit Schlag und ein blaues Jäckchen, Dinge, die sein schmaler Schatten nicht zeigt. Die Schatten auf der Häuserfront gegenüber sind klar gezeichnet. Hätte das Licht nicht diese kalte Tönung, man könnte es für eine Nachmittagsszene halten.

Ich kann mich an die Reise nicht erinnern. Kein Bild, kein Wort, nicht einmal ein einzelnes Geräusch ist hängengeblieben. Die Signatur unten rechts nennt das Jahr 1977. Ich war also gerade vier Jahre alt. Aber die Leere im Kopf hat nichts mit dem Alter zu tun. Es gibt Erinnerungen, die reichen bis in das zweite oder dritte Lebensjahr zurück. Hier fehlt jede Spur. Mir bleibt nur dieses Bild, das mein Vater gemalt hat. Eine Stadtansicht, Öl auf Leinwand, in einem Stil, den man ohne weiteres realistisch nennen darf.

Lange Zeit dachte ich, das Bild zeige eine Szene aus Grado oder Chioggia, die kleinen italienischen Adria-Städte hatten meinen Eltern schon immer gefallen. Doch tatsächlich ist es Venedig. Und beim genauen Hinsehen kann es auch nur Venedig sein. Der Kanal, die Wölbung der Balkone, der Bug eines Kahns, der sich von links ins Bild schiebt – ein Motiv aus einer der Nebenstraßen, etwas abseits der bekannten Plätze.

Wenn ich mir heute Photos aus jener Zeit ansehe, erkenne ich manchen Ort wieder, ich kann Verwandte zuordnen, Freunde meiner Eltern, auch den einen oder anderen Anlaß. Nur die Aufnahmen von dem Jungen berühren mich nicht. Es gibt Portraitbilder, Bilder mit anderen Kindern, Bilder mit den Großeltern, von Ausflügen, Geburtstagsfeiern, vom Zugfahren. Doch wenn ich den Jungen betrachte, verspüre ich ein Gefühl von Fremdheit. Vielleicht, weil ich nichts Vertrautes in seinem Gesicht entdecken kann, keinen Ausdruck, der sich im Gesicht des Erwachsenen wiederfinden ließe. Ich sehe Merkmale, natürlich, einen Leberfleck, eine Narbe auf dem rechten Arm. Aber das meine ich nicht. 1974, 1975, 1976 – es ändert sich nichts. Ich bleibe beim «kleinen Jungen».

Sowenig ich mich an die Reise selbst erinnern kann, so deutlich kann ich mir doch Bilder und kleine Szenen wachrufen aus der Zeit, in der mein Vater an dem Gemälde arbeitete. Obwohl er eigentlich nur an den Wochenenden Gelegenheit dazu fand, kommt es mir wie eine Spanne sehr dichter Tage und Wochen vor, ohne Alltag, ohne Unterbrechung. Ich spüre, wie es mich hineinzieht in das, was Jürgen Becker einmal eine «Umgebung des Erinnerns» genannt hat. Einen Raum, der sich aufspannt, eine echte Gedächtniswelt, die in ihrer Ferne und Fremdheit plötzlich so gegenwärtig erscheint, daß ich tatsächlich durch die alten Zimmer zu streunen meine. Ich sehe Stehlampen und den Teppich mit seinen groben Fasern, die schwarz-weiße Couch und die Garderobe, an der dicht an dicht die Jacken hängen. Und ich sehe das Licht, das aus dem Zimmer meines Vaters schräg über den Gang in das meine fällt, eine sich öffnende Fläche, die den Türrahmen färbt und die Wand mit einem hellen Keil versieht.

Jeden Abend, sobald die Eltern im Wohnzimmer vor dem Fernseher saßen, ging ich kurz hinüber in das Arbeitszimmer, um einen Blick auf die Leinwand zu werfen. Das Bild war fast fertig, es fehlte nur noch der kleine Junge mit seiner blauen Jacke. Genaugenommen, war auch der Junge schon auf dem Bild, jedenfalls seine Kontur, unfaßbar zunächst, doch nicht mehr wegzudenken aus der Umgebung. Ich hatte es gesehen, als ich im Schlafanzug aus dem Bad gekommen war. Es beruhigte mich, daß mein Vater noch weiter an dem Bild arbeiten, dem Jungen, so dachte ich es mir, nach und nach Farbe verleihen würde. Doch als ich den Klemmstrahler neben der Staffelei anknipste, sah ich etwas ganz anderes. Der Umriß des Jungen war verschwunden. Wie an den Tagen zuvor bestand der untere Rand des Bildes nur aus einer grauen Fläche, die sich beim genauen Hinsehen als Anlegestelle zu erkennen gab.

Ich erinnere mich, wie stark meine Reaktion war. Ein heftig einsetzender körperlicher Schmerz, verbunden mit Übelkeit. Unglaube, vielleicht auch ein seltsames Staunen. Aber all das ging so schnell, so gleichzeitig vor sich, daß ich es nur als großen Hitzedruck wahrnahm. Wenn ich mich heute zurückversetze, meine ich vor allem Angst zu entdecken. Angst, nicht mehr da zu sein. Als hätte mich etwas aufgesaugt, verschluckt, und eine große leere Stelle wäre geblieben. Doch es betraf nicht nur mich selbst – das ganze Bild hatte sich verändert. Was vorher meine Häuser und meine Boote gewesen waren, wirkte nun kalt, fremd, fast feindlich. Eine Gegenwärtigkeit ging von dem Bild aus, die nichts mehr mit mir zu tun hatte. Die Szene hatte sich gleichsam von mir abgesprengt. Das Gemälde schien eine eigene Welt. Ich verließ das Zimmer, ohne noch einmal hinzuschauen. Ich erinnere mich, daß ich ruhig im Bett lag an diesem Abend. Und an das Licht an der Wand, das ausging, bevor ich einschlief.

«Das Gedächtnis», schreibt Jürgen Becker, «ist ein stummes Archiv, in das nur die Erinnerung Leben hineinbringt, oder anders, aus dem sie ihre Bilder hervorholt». Eine Asservatenkammer geistiger und körperlicher Eindrücke, deren Ordnungssystem niemand kennt. Was dort abgelagert ist, bestimmt die Wahrnehmung bis in den kleinsten Impuls hinein. Aber meist merkt man das gar nicht, weil sich das Bewußtsein im Vollzug nicht reflektiert. Es bedarf einer eigenen Art von Anstrengung, um die Bilder und Szenen zu finden, die einen bestimmten Abschnitt von Zeit, von Leben, ausmachen. Manches aber hat sich damals so rasch abgespielt, daß nur Reflexe hängengeblieben sind, Spuren, kaum sichtbar, die sich heute nur zeigen lassen, indem man etwas dazuerfindet, Verbindungen herstellt, einen Zusammenhang.

Uwe Johnson war weit skeptischer, was die Erkenntniskraft der Erinnerung angeht. In den Jahrestagen beobachtet er seine Gesine Cresspahl einmal dabei, wie sie durch die Glastüren eines New Yorker Hochhauses tritt. Erst sieht sie nur die gegenüberliegende Straßenseite in dem Scheibenausschnitt gespiegelt, mit all ihren Ladenschildern, Schaufenstern und Passanten. In der zweiten Front aus Klapptüren aber wirkt die Ansicht verwischt und zerbricht beim Öffnen der Tür in gleich große Teile. Aus der verschwommenen Spiegelung von Marmorflächen, von Schatten und kleinen Lichtflecken erwächst ihr das Bild eines waldigen Sees, die Erinnerung an einen Segeltag in ihrer mecklenburgischen Heimat, der vierzehn Jahre zurückliegen soll. Damals aber war Gesine schon in den Westen gegangen. Die Erinnerung entpuppt sich als Wunschtraum. Das Gesehene, kommentiert Gesine selbst, «erzeugt Verlangen nach einem Tag, der so nicht war, fertigt mir eine Vergangenheit, die ich nicht gelebt habe, macht mich zu einem falschen Menschen, der von sich getrennt ist durch die Tricks der Erinnerung».

Die «Tricks der Erinnerung» also. Und die Katze Erinnerung. Anders als Marcel Proust ist Uwe Johnson der Meinung: Die Wiederholung des Gewesenen gibt es nicht. Noch einmal einzutreten in die Vergangenheit, noch einmal wirklich in ihr zu sein – es bleibt ein Wunsch. Weil das Gedächtnis das Vergangene nicht mit den Begriffen des Denkens fassen kann, so Johnson, mit dem Raster aus Zeit, Kausalität und Logik, das ihm sonst dient, um die Wirklichkeit einzuteilen. Es liefert nur Fetzen, Splitter, Späne, Scherben. «Das Stück Vergangenheit», heißt es an anderer Stelle, «bleibt versteckt in einem Geheimnis, verschlossen gegen Ali Babas Parole, abweisend, unnahbar, stumm und verlockend wie eine mächtige graue Katze hinter Fensterscheiben, sehr tief von unten gesehen wie mit Kinderaugen.»

Bis vor wenigen Jahren war ich überzeugt, mein Vater habe die ersten Entwürfe zu dem Bild vor Ort gemalt. Die Perspektive ist so angelegt, daß der Betrachter von einer leichten Erhöhung aus auf die Szene blickt. Mein Vater könnte hinter einem offenen Fenster gesessen haben oder in einem Türrahmen, in seiner Hand den Skizzenblock. Doch tatsächlich hat er nach einem Photo gearbeitet. Das Bild findet sich in einem der kleinen Alben, die er für jedes Kind angelegt hat. Zwischen Aufnahmen aus Mostar, Trogir und dem Zillertal gibt es eine Serie zu einem, wie es heißt, «Italienurlaub». Darunter der Zusatz «Sept. 76». Mein Vater hat das Gemälde...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Barbara Köhler • bleutge • Dichter • Dichtung • Elke Erb • Erinnerung • Essays • Friederike Mayröcker • Gedichte • J.A. Baker • Jürgen Becker • Literatur • Lyrik • Peter Kurzeck • Skizzen • Sprache
ISBN-10 3-406-75534-8 / 3406755348
ISBN-13 978-3-406-75534-7 / 9783406755347
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