Der gelbe Bleistift (eBook)

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2020 | 1. Auflage
192 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30151-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der gelbe Bleistift -  Christian Kracht
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Phnom Penh, Peshawar, Vientiane, Tokio, Rangun. Als ausgewiesener Asien-Kenner und ehemaliger Indien-Korrespondent des »Spiegel« zeigt Christian Kracht dem Leser Asien, wie er es bislang noch nicht erleben durfte. Lakonisch beobachtend, nie zynisch, flaniert er durch den Kontinent und knüpft hierbei an die große angloamerikanische Tradition der Reiseschriftstellerei an.

Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren, zählt zu den modernen deutschsprachigen Schriftstellern. Seine Romane »Faserland«, »1979«, »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«, »Imperium«, »Die Toten« und »Eurotrash« sind in über 30 Sprachen übersetzt. 

Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren, zählt zu den modernen deutschsprachigen Schriftstellern. Seine Romane »Faserland«, »1979«, »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«, »Imperium«, »Die Toten« und »Eurotrash« sind in über 30 Sprachen übersetzt. 

Im Land des schwarzen Goldes


Baku, 1998 

So, der Kaukasus. Was weiß ich denn so darüber? Wir hatten auf dem Internat einen Geologielehrer, dem sind im Kaukasus die Zehen abgefroren, als Hitler dort unten die Ölfelder erobern wollte. Eine Zangenbewegung sollte das werden, erst die rumänischen Ölfelder und dann, weiter östlich, die kaukasischen Ölfelder; Öl für den Rußlandfeldzug, natürlich auch Öl gegen das britische Öl im Zweistromland. Sofort kommt man da ins Mythische hinein, wenn man darüber spricht oder nachdenkt – das Zweistromland, der Kaukasus.

Das große Spiel wurde hier in der Gegend gespielt, vor dem Ersten Weltkrieg, The Great Game; Südpersien und Indien, die ja britisch waren, gegen Nordpersien, da saßen die Russen, und irgendwo dazwischen lagen die deutschen Interessen. Und die waren wiederum verwoben mit den Interessen der Türken, die, quer durch Asien, ein pan-türkisches Reich vom Bosporus bis nach China erschaffen wollten. Und dazwischen lagen die kleineren Interessen noch zweier Völker, die von allen anderen um sie herum ausgerottet wurden – die der Armenier und der Kurden. Kipling, oder irgendein anderer, hat mal über Transkaukasien geschrieben, es sei das Zentrum der Welt. Und dieses Zentrum, das darf ich sagen, ist sehr verwirrend, wie wir schauen werden.

Von Enver Pascha habe ich gelesen, dem türkischen Schlächter der Armenier, und von Wilhelm Wassmuss, dem deutschen T. E. Lawrence, der im Ersten Weltkrieg eine neue Front gegen die Briten aufmachen wollte, von Afghanistan kommend, und der schließlich in Kabul steckenblieb und dort, zusammen mit seinen Freunden Kapitän Oskar von Niemeyer und Otto von Hentig, zwei Jahre herumsaß und Däumchen drehte, weil keiner die Deutschen ernst nahm. Wassmuss, so heißt es, habe nämlich eine Schwäche dafür gehabt, Frauenkleider anzuziehen, und das habe der Emir in Kabul damals eher als unangenehm empfunden.

Von den dreiundzwanzig Kommissaren der provisorischen Sowjetregierung in Baku habe ich gelesen, die eines Nachts vor die Stadt gebracht wurden und an einer Eisenbahnlinie erschossen wurden. Man sagt, die britischen Offiziere standen daneben und sahen zu, und heute soll es noch ein Gemälde geben in Baku, gemalt vom sowjetrevolutionären Maler Isaac Brodsky, und links am unteren Rand des Bildes sei eben der historiologische Beweis der Mitschuld der Briten an dem Massaker zu sehen.

Und dann gab es vor kurzem natürlich den immer wiederkehrenden Tschetschenien-Krieg, der immer wieder allerschlimmstens aufflammt, den Ölfluß vom Kaspischen Meer nach Rußland unterbrechend, und daß die große Krise, das finale Armageddon, wenn es kommen wird, seinen Anfang in ebendiesem undurchsichtigen Zentrum der Welt, im Kaukasus, nehmen wird. Es ging, so erinnere ich mich, um das verwirrende geopolitische Geflecht dreier Pipelines, die eine über ebendas besagte Tschetschenien, die zweite über Georgien – dessen Präsident Eduard Schewardnadse neulich zum zehnten Mal nur knapp einem Attentat entgangen war – und die dritte durch den Iran und durch die Türkei, und von dort endlich an die Raffinerien und bis an die Zapfstellen Europas.

Also: Es ging früher wie heute da unten in Baku um Öl. Unter dem Kaspischen Meer liegt mehr Öl als unter Saudi Arabien und Kuwait zusammen. Die Lufthansa fliegt heute dreimal die Woche dorthin, die British Airways und die KLM ebenfalls, und bald auch die Swissair. Und doch weiß man so gut wie nichts über Baku. In den Reisebuchhandlungen gibt es keine Reiseführer über den Kaukasus, weder bei Dr. Götze Land & Karte in Hamburg noch in der größten der Welt, in London. Vergessen Sie es, heißt es, da will doch eh keiner hin. Und das wiederum war ein ausgezeichneter Grund, sofort dorthin zu fahren.

 

Der Flug Frankfurt–Baku ging von einem Gate tief unten im Keller ab, sozusagen im Strafkeller des Frankfurter Flughafens. Überall in diesem Keller lag Dreck herum und Papierschnipsel und Zigarettenkippen. Undurchsichtige Amerikaner in beigefarbenen Anzügen flogen mit. Das große Fieber des schwarzen Goldes stand ihnen mit dicken Buchstaben auf der Stirn geschrieben. Fette, reiche Punjabis mit Sikh-Turbanen und silbernen Nike-Air-Max-Turnschuhen standen herum, rauchten Zigaretten und traten sie mit den Füßen auf dem Boden aus, obwohl das Rauchen verboten war.

Der Flug selbst hatte erst recht etwas von einem Strafflug, zumindest für die Stewardessen. Das erste, was auffiel: alle Passagiere redeten viel lauter als gewohnt, viel lauter als Passagiere sonst in Flugzeugen miteinander sprechen. Sehr betrunkene Männer in schwarzen schlechtgeschnittenen Jacketts und schwarzen eckigen Wollhüten verlangten erst nach Whisky, dann, als der ausgetrunken war, nach warmem Wodka. Sie rochen ungewaschen und warm, nach Ziegen und nach Schafen. Es wurde gesoffen und geschrien und gequietscht, und die Stewardessen verdrehten die Augen, und während der Landung spielte »Barbie Girl« von Acqua.

Die Lufthansa setzte auf dem Rollfeld auf, kam zum Stehen, und aus der Scheibe des zerkratzten Plastikfensters konnte man sehen, daß es keinen Finger geben würde. Das, so dachte ich bei mir, unterscheidet ja immer den interessanten Teil der Welt vom uninteressanten Teil – daß man aus dem Flugzeug steigt mit seinem Handgepäck und dann selbst über das Flugfeld zur Empfangshalle laufen muß, ohne Finger, wie es heißt, und ohne Bus.

 

Dort war der Zoll. Ein paar Bretterverschläge, mehr nicht. Und dort am Zoll fuchtelten türkisch aussehende Männer in sowjetischen Uniformen mit Kalaschnikows herum und schrien sich an. Die roten Sterne auf ihren Mützen und an ihren Revers hatten sie mit einem auf grünem und roten Grund gestanzten Halbmond ausgetauscht. In der Flughafenhalle roch es nach Bohnerwachs. Die Neonröhren in den aufgesprungenen Anzeigetafeln knisterten. Es roch auch nach Döner Kebab, es roch also türkisch, dachte ich, türkisch und alt.

Da ich aus dem einfachen Grund kein Visum hatte, daß in Deutschland drei Wochen lang niemand an das Telefon der aserbaidschanischen Botschaft gegangen war, wurde mein Paß einbehalten. Macht nichts, sagte man mir, ich könne ihn mir werktags im Außenministerium abholen. Morgen war Sonnabend. Mein Paß verschwand in der Aktentasche eines Mannes mit großer Persianerkappe, er schob dafür einen rezeptgroßen rosafarbenen Zettel herüber, den, so schärfte er mir ein, man auf keinen Fall verlieren durfte.

Merkwürdigerweise mußte das Gepäck nach dem Zoll noch einmal geröntgt werden, obwohl keiner der Männer mit den Kalaschnikows und den komischen Hüten auf den Schirm schaute. Ich nahm schnell ein Taxi – einen weißen Wolga – zum Hotel Story Intourist in der Innenstadt, für fünfundzwanzig Dollar. Es ging an unzähligen Tankstellen vorbei, der Liter Diesel kostete – hurtig umgerechnet – fünfzehn Pfennig. Ich zählte vierundvierzig Tankstellen auf dem Weg nach Baku.

Hier ging es gleich um Benzin und um Öl und um Aggregatszustände, das war vorher nicht so klar. Hier in Baku ging es um diesen halb schmutzigen, halb sauberen Stoff, der erst schlecht riecht und dann ganz gut und der die Dinge in Bewegung hält. Vor neunzig Jahren lieferte Baku die Hälfte des in der Welt verbrauchten Öls. Armenier, Türken, Russen, Briten, Juden, Deutsche und Amerikaner bauten sich hier Paläste, die Dynastien der Rothschilds und der Nobels begründeten hier den größten Teil ihres Reichtums. Und heute sollte das endlich wieder so werden. Die großen Konsortien waren wieder da und mit den Konsortien natürlich das große Geld und die Hoffnung auf das Benzin, das fließen mußte und auch fließen würde.

Meine Güte, hier ging es um Benzin, ja. Hier an der Straße vom Flughafen in die Stadt war das Benzin schon zu haben, noch für unglaublich wenig Geld. Nur daß es das Destillat des Öls, das Destillat des Crude sozusagen, schon hier gab, schon fertiggemacht und aufbereitet, zur Abfüllung direkt aus dem Schlauch in den weißen Wolga hinein, das war nicht so klar.

 

Im Hotel Story Intourist herrschte Totenstille. Es gab keine anderen Gäste. Die Lobby war ganz in Orange und Gold gehalten, zwei Farben, die in ihrem Zusammenspiel Schlimmes auslösen können. Eine Frau mit sehr schlecht blondgefärbten Haaren und noch schlechteren Zähnen lag auf einer Couch in einer Ecke der Empfangshalle und starrte in einen Grundig-Farbfernseher.

Sie sah kurz hoch, als ich hereinkam, und starrte dann wieder auf die RTL-Sendung. Ich kramte meine drei Worte Russisch hervor, und sie sagte auf deutsch: Zweihundertachtzig Dollar die Nacht, Vorkasse.

Das Zimmer war so, wie man sich Zimmer mehr oder weniger schon immer gewünscht hatte: stalinistische Strenge und Entbehrung trafen auf türkische Schludrigkeit. Eine große Fototapete klebte an der Wand neben dem mit braunem Manchester-Cord bezogenen Bett. Ein Bergsee war darauf zu sehen, eine grüne Wiese, Fichten und Tannen, gelbe Blumen. Die Fototapete war in der Schweiz aufgenommen. Ich inspizierte das Badezimmer. Das Toilettenpapier war aus sauber zurechtgeschnittenem Zeitungspapier.

Während ich auf dem Badewannenrand saß und in den angegilbten Spiegel starrte, in dem meine Gesichtshaut erst fahl wirkte und dann, mit der nach zwei Minuten stroboskopartig einsetzenden Neonbeleuchtung, eine seltsame türkise Färbung annahm, entfaltete ich stückweise das Toilettenpapier und dachte darüber nach, welcher Teil der zweihundertachtzig Dollar nun dafür aufgewendet wurde, ich meine, gab es eine direkte...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte 1979 • Asien • Benjamin von Stuckrad-Barre • die Toten • Faserland • Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten • Imperium • Individualismus • Kolumne • Reisebericht • Reiseschriftsteller
ISBN-10 3-462-30151-9 / 3462301519
ISBN-13 978-3-462-30151-9 / 9783462301519
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