Zugvögel (eBook)
480 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99584-9 (ISBN)
Gisa Pauly hängte nach zwanzig Jahren den Lehrerberuf an den Nagel und veröffentlichte 1994 das Buch »Mir langt's - eine Lehrerin steigt aus«. Seitdem lebt sie als freie Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin in Münster, ihre Ferien verbringt sie am liebsten auf Sylt oder in Italien. Ihre Sylt-Krimis um die resolute Mamma Carlotta erobern jedes Jahr aufs Neue die Bestsellerlisten. Gisa Pauly wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Satirepreis der Stadt Boppard und der Goldenen Kamera des SWR für das Drehbuch »Déjàvu«. Die Leser der Fernsehzeitschrift rtv wählten sie zur beliebtesten Autorin des Jahres 2018.
Gisa Pauly hängte nach zwanzig Jahren den Lehrerberuf an den Nagel und veröffentlichte 1994 das Buch "Mir langt's – eine Lehrerin steigt aus". Seitdem lebt sie als freie Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin in Münster, ihre Ferien verbringt sie am liebsten auf Sylt oder in Italien. Ihre Sylt-Krimis um die resolute Italienerin Mamma Carlotta erobern jedes Jahr aufs Neue die Bestsellerlisten.
In Carlotta Capellas Mitte rumorte es nach wie vor, wenn sie an die Frau in dem teuren Pelzmantel dachte. So elegant und dennoch eine Ladendiebin! »Incredibile!«
Ihre dunklen Locken, die nur wenige graue Strähnen aufwiesen, wippten vor Empörung, ihr Busen wogte, ihre Pantoletten klatschten im schnellen Rhythmus gegen ihre Fersen, die Einkaufstasche schlug bei jedem Schritt an ihr Bein. Carlotta Capella war noch immer außer sich. Sie öffnete die Knöpfe ihrer Jacke, weil Empörung sie stets erhitzte, und blieb gleich darauf stehen, um sie wieder zu schließen. Kurz vor Ostern war die Luft auf Sylt nicht wärmer als in ihrem italienischen Bergdorf kurz vor Weihnachten. Vor allem vor dem Wind, den es in ihrer Heimat so nicht gab, schützte Carlotta sich gern. In Panidomino fuhr er lau unter die Kittelschürze und blähte sie nur auf, wenn er ungewöhnlich kräftig daherkam, auf Sylt griff er dagegen mit eisigen Fingern zu und zerrte an der Kleidung.
Carlotta vergaß ihr Erlebnis bei Feinkost Meyer erst, als sie sah, dass sich am Süder Wung eine Gartenpforte öffnete. Die Nachbarin der Wolfs trat auf die Straße.
»Huhu, Frau Kemmertöns!«
Die Nachbarin war in Mamma Carlottas Alter, ebenso rund wie sie und ähnlich gekleidet. Beide trugen knielange Röcke aus dunklem Stoff, dazu beige Strickjacken mit Kordeln in der Taille. Weitere Ähnlichkeiten gab es jedoch nicht. Frau Kemmertöns war behäbig, oft geradezu stoisch, bewegte sich langsam, sprach langsam und dachte langsam. Vom Temperament einer Italienerin war sie so weit entfernt wie ein Eskimo von einer Hula-Tänzerin. Dass sich jemand so schnell bewegen konnte wie die Schwiegermutter von Kriminalhauptkommissar Wolf, dass sie mit großer Behändigkeit mehrere Dinge gleichzeitig erledigte, redete, ohne vorher gründlich nachzudenken, und spontane Entschlüsse fasste, ohne die Konsequenzen im Auge zu haben, war für Frau Kemmertöns immer wieder eine Quelle des Staunens. Und wenn sie von Mamma Carlotta ins Haus gebeten, zu einem Espresso eingeladen und mit Gebäck aus dem Vorrat bedient wurde, griff sie sich an den Kopf, weil ihr oft schwindelig wurde. Verhielt es sich umgekehrt, gelang es Carlotta ausnahmsweise einmal, ins Nachbarhaus vorzudringen, fühlte sich Frau Kemmertöns genötigt, einen Kaffee zu kochen und nach Konfekt oder Keksen zu suchen, kam meist einfach eine Likörkaraffe auf den Tisch, die immer griffbereit dastand, womit der Bedarf an Flüssigkeit und Süßigkeit gleichzeitig gedeckt wurde.
»Sie denken an unser Treffen heute Nachmittag?«, fragte sie, als Mamma Carlotta herangekommen war.
»Naturalmente! Ich habe mir überlegt, dass ich einen Kaffeewärmer häkeln könnte.«
Frau Kemmertöns war nicht besonders angetan. »Kaffeewärmer? Was ist das denn?«
»Eine große Häkelmütze, die man über die Kaffeekanne stülpt, damit der Kaffee heiß bleibt.«
»Heutzutage gibt es doch Thermoskannen.«
Dieser Einwand war leider nicht von der Hand zu weisen. Mamma Carlotta fiel ein, dass der Kaffeewärmer, den ihre Mutter gehäkelt hatte, in ihrem Haushalt auch nicht mehr gebraucht wurde. »Dann vielleicht Topflappen?«
Aber Frau Kemmertöns fand auch gehäkelte Topflappen nicht mehr zeitgemäß. »Wie wär’s, wenn Sie einen flotten Schal stricken? Mit dicker Wolle und dicken Nadeln.«
Diesen Hinweis verstand Mamma Carlotta sofort. Dicke Nadeln und dicke Wolle bedeuteten, dass man schneller fertig wurde.
»So was tragen auch junge Frauen gern. Das wird bestimmt gut verkauft. Darauf kommt es schließlich an, wenn es um Charity geht.«
»Scheri...« Mamma Carlotta hatte Schwierigkeiten mit diesem Wort.
»Charity«, wiederholte Frau Kemmertöns langsam, mit weit geöffnetem Mund, damit Carlotta sehen konnte, was sie mit ihrer Zunge machte, um das englische R zu produzieren.
Aber Carlotta konnte ein R nur rollen und lehnte es ab, daraus einen Laut zu machen, der sich anhörte, als würde er gekaut und kurz vor dem Erbrechen heruntergeschluckt. »Wann geht es los mit diesem ... diesem Häkelclub?«
»Um drei!« Frau Kemmertöns stellte fest, dass ihr ein Häkelclub auch besser gefiel als eine Charity-Veranstaltung. »Ich werde übrigens filzen, das ist jetzt ganz modern. Trendige Armstulpen zum Beispiel.«
Mamma Carlotta musste nun erst mal ihren Wortschatz erweitern. Filzen, trendig, Stulpen – diese Vokabeln waren ihr nicht geläufig. Als Frau Kemmertöns ihr erklärt hatte, worum es ging, war sie noch nicht viel schlauer, nur dass es bei einem trendigen Artikel um etwas Modernes, also um qualcosa di moderno ging, verstand sie. Die Verarbeitung von Filz war ihr fremd, und der praktische Wert von Stulpen, die nur die Handgelenke wärmten, ebenfalls. Aber was spielte das für eine Rolle? Sie würde an diesem Nachmittag und an vielen folgenden mit Frauen zusammensitzen, mit ihnen gemeinsam handarbeiten und dabei plaudern, und das Ganze für einen guten Zweck! Floras Charity, das wusste Mamma Carlotta, war mittlerweile in ganz Deutschland berühmt. Eine wichtige Dame, die Ehefrau eines noch wichtigeren Mannes, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, überall im Land Wohltätigkeitsgruppen zu bilden, die strickten, nähten, häkelten, um ihre Werke anschließend zu verkaufen und den Erlös Bedürftigen zukommen zu lassen. »Charity« und »Geselligkeit« – diese beiden wichtigen Begriffe hatte sie zusammengeführt, wollte den Bedürftigen etwas geben und denen, die sich für sie engagierten, gleich mit. In diesem Fall sollte das Geld, das man später auf dem Basar einnehmen würde, der Seenotrettung zugutekommen. Mamma Carlotta freute sich auf das Treffen des Häkelclubs und war Frau Kemmertöns, die dafür gesorgt hatte, dass sie mitmachen durfte, dankbar. Sie musste nur sehen, dass sie vor lauter Plauderei nicht das Handarbeiten vergaß.
»Dieser Ernest Engelbeck ...« Sie versuchte sich an das zu erinnern, was Frau Kemmertöns ihr erzählt hatte, »... der Ehemann von Flora Engelbeck ...«
»Ex-Mann«, korrigierte Frau Kemmertöns.
»Die beiden sind geschieden?« Mamma Carlotta war enttäuscht. Der Glorienschein, den sie Flora Engelbeck aufgesetzt hatte, seit sie von deren karitativem Engagement gehört hatte, saß prompt ein wenig schief.
»Das Übliche«, gab Frau Kemmertöns zurück. »Er ist nun mit einer Jüngeren zusammen. Seine Villa auf Sylt hat er noch, aber da residiert jetzt die Neue. Für Flora Engelbeck ist nicht viel übrig geblieben nach der Scheidung. Sie wissen ja, wie so was ist. Männer wie Ernest Engelbeck haben immer die besseren Anwälte.«
»Die arme Frau!« Der Glorienschein saß nun wieder gerade und fest auf Flora Engelbecks Kopf. »Und trotzdem kümmert sie sich um die Bedürftigen.«
»Mit ihren Charity-Clubs hat sie sich einen Namen gemacht.« Frau Kemmertöns ging mit kleinen und sehr langsamen Schritten am Zaun entlang zum Eingang des Hauses Wolf. »In einer Zeitschrift habe ich mal gelesen, was sie nach der Scheidung gesagt haben soll.« Sie räusperte sich, als müsste sie ihre Stimme zurechtrücken für das Belangvolle, das folgen sollte. »Wenn sie auch nicht mehr die Ehefrau von Ernest Engelbeck wäre, die Charity-Lady bliebe sie. Das wäre ihr Eigenes, das ließe sie sich nicht nehmen.«
Mamma Carlotta war beeindruckt. »Man hat in einer Zeitschrift über sie geschrieben?«
»Die Scheidung ging durch alle deutschen Blätter. Ernest Engelbeck ist nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer, er will sogar in die Politik. Wenn so einer sich scheiden lässt, erfährt die ganze Welt davon.« Sie zögerte und setzte hinzu: »Oder sagen wir ... ganz Deutschland.«
Während Frau Kemmertöns langsam und sehr bedächtig weiterging, sperrte Carlotta die Haustür auf und ließ sie mit einem lauten Knall ins Schloss fallen. Es wurde Zeit fürs Mittagessen. Erik und Sören würden sicherlich pünktlich kommen – zurzeit gab es auf Sylt ja keine Kapitalverbrechen – und Carolin ebenfalls, sie hatte nur einen Weg von wenigen Minuten zurückzulegen. Mamma Carlotta seufzte, während sie die Zucchini wusch und zerteilte. Was für ein Glück, dass das Kind wieder einen Ausbildungsplatz gefunden hatte! Das neue Hotel, in dem sie zuvor angestellt gewesen war, hatte schon bald nach der Eröffnung wieder schließen müssen. Monatelang hatte das Haus, das nicht einmal richtig fertig geworden war, leer gestanden, und Carolin war arbeitslos gewesen. Dann endlich hatte sich ein neuer Besitzer gefunden. »Che fortuna!«
Diesmal allerdings kein Italiener. »Che peccato«, murmelte Mamma Carlotta. Wirklich bedauerlich! Und natürlich stand nun auch der italienische Name des Hotels nicht mehr am Eingang, das Haus war umbenannt worden. Es hieß Horizont, weil man in der zweiten Etage angeblich den Horizont sehen konnte. Besonders gut gefiel Mamma Carlotta dieser Name nicht.
Zornig schnitt sie den Lauch und die Sellerie in Scheiben und warf alles in die zerlassene Butter. »Perle von Sylt« oder »Stern des Nordens« hätte ihr besser gefallen, »Horizont« erschien ihr zu banal. Der Apfel und der fein gewürfelte Knoblauch flogen in die Pfanne, Curry und Kurkuma wurden nicht wie vorgesehen darübergestäubt, sondern geworfen, denn leider ging Mamma Carlotta, wenn sie sich beim Kochen mit einer Niederlage beschäftigen musste, oft das Fingerspitzengefühl verloren.
Sie hatte selbstverständlich an dem Wettbewerb teilgenommen, zu dem die Bevölkerung Sylts aufgerufen worden war. Wer den besten Namen fand, sollte ein Wochenende kostenlos in dem neuen Hotel wohnen dürfen. Aber weder Perle von Sylt noch Stern des Nordens war ausgewählt worden, sondern der prunklose Name Horizont. Und die Frau, die ihn gefunden hatte, war nicht einmal sympathisch gewesen. Carlotta kannte sie. Eine Kundin der Bäckerei, die gern...
Erscheint lt. Verlag | 4.5.2020 |
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Reihe/Serie | Mamma Carlotta |
Mamma Carlotta | Mamma Carlotta |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bestseller • Bücher für den Urlaub • Bücher Romane für Frauen • Charity • COSY • Deutschsprachige Krimis • Dora Heldt • Erfolgreichste Krimis • Erik Wolf • Häkeln • Handarbeit • humorvoller Krimi • Italien • Klaus-Peter Wolf • Krimi Humor • Kriminalhauptkommissar Erik • Kulinarische Krimis • Landhauskrimi • lustige Bücher für Frauen • lustiger Krimi • lustige Urlaubslektüre für Frauen • Mamma Carlotta • Mord • Nordsee • Nordsee-Krimi • Ostsee • Regionalkrimi • Rezepte • Roman • Roman Bestseller Frauen • Romane • Strandlektüre • Sturmflut • Sylt • Sylt Buch • Sylt Krimi • Urlaub • Urlaubslektüre • Urlaubsromane |
ISBN-10 | 3-492-99584-5 / 3492995845 |
ISBN-13 | 978-3-492-99584-9 / 9783492995849 |
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