Zack Jordan studierte Kunst, Musik und Philosophie. Er arbeitete unter anderem für das Verteidigungsministerium und als Designer für Computerspiele, bevor er sich ganz dem Schreiben und der Musik widmete. Der Autor lebt mit seiner Familie in Chicago.
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GESTERN WAR DIE Watertower-Station ein langweiliger und fast stummer Stützpunkt in der Umlaufbahn. Die Farbgebung hätte man bestenfalls als Industriedesign bezeichnen können. Tausende Wände, Böden und Decken in neutralem Grau, dazwischen die grellen orangefarbenen Warnungen vor den Bereichen, wo die Bewohner Gliedmaßen verlieren, ersticken oder alle möglichen anderen unschönen Dinge erleiden konnten. Nicht dass die Bewohner jemals auf die Warnungen geachtet hätten. Nein, sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, mit ihren gleichermaßen farblosen Overalls durch die öden Korridore zu laufen und die Augen oder vergleichbare Sinnesorgane in mittlerer Entfernung ins Leere zu richten. Gestern war es fast still auf Watertower. Vierundzwanzigtausend Bewohner und Besucher, Angehörige von Hunderten Spezies, die alle das Schweigen suchten und dabei das Unvermeidliche hinnahmen: die Geräusche von Schritten, Rädern, Laufketten, das Rascheln der Overalls, gelegentlich ein unangenehmes biologisches Geräusch. Grau auf Grau auf Grau, stumm wie das Vakuum und ungefähr genauso interessant. Das war die Watertower-Station gestern.
Heute sieht alles anders aus.
Heute kann Sarya es verstehen. Heute ist die Watertower-Station eine Flut von Licht, Farben und Geräuschen. So etwas hat sie noch nicht erlebt. Egal wohin sie hektisch den Blick richtet, immer springt sie irgendetwas an – oft sogar ganz wörtlich. Sie reißt sich zusammen, hält den Mund geschlossen und bemüht sich, den vorbeiziehenden Bildern nicht körperlich auszuweichen. Sie berührt die winzige Netzwerkeinheit am Haaransatz und drückt sich die Ohrstöpsel tiefer in die Gehörgänge. Sie trägt das Gerät noch nicht einmal eine Netzwerk-Standardstunde und ist schon völlig überzeugt. Das hier ist real, diese projizierten Bilder und Geräusche, während die grauen Wände, zwischen denen sie ihr ganzes Leben verbracht hat, die Illusion sind. Sie kann sie nicht einmal mehr sehen; sie verschwinden hinter Landschaften und Kunstwerken, hinter Farbflächen, Formen und Firmenlogos.
O Göttin. Und wenn sie es noch so sehr versucht, sie kann das alberne Grinsen nicht unterdrücken.
Sie bleibt am Ende der Gruppe, die durch das Labyrinth der Watertower-Station wandert, um sich ohne Störungen umsehen zu können. Nicht dass es sie kümmert, was ein Haufen Fremder über sie denkt. Sie ist hier nur zu Gast, vorübergehend aus einem niedrigeren Kurs, der aufgrund irgendeines kleinen Fehlers im Netzwerk dieser Exkursion zugeordnet wurde, hierher versetzt. Denn warum sonst sollte sie einen Ort aufsuchen, an dem sie niemals arbeiten könnte? Aber nun ist sie da und hat das gleiche Recht wie alle anderen Teilnehmer ihrer temporären Schar, sich hier aufzuhalten. Wenn den anderen das nicht gefällt, können sie sich gern mal eine Klinge bei ihr ausborgen, wie man bei den Witwen so sagt.
Über diese Leute weiß sie erstaunlich viel. Ihr Wissen ist stark erweitert, weil sie nun auf die fast unendlichen Ressourcen des Netzwerks zugreifen kann, und ihr Zugang ist nicht auf ein schlecht funktionierendes Display von wenigen Kubikzentimetern Größe beschränkt. Sobald sie den Blick auf einen Bürger richtet, sieht sie den Namen und die öffentliche Biografie. Die Informationen erscheinen als zierliche Beschriftung oder in Form massiger Symbole, die je nach Vorliebe des Benutzers farbig und/oder animiert sind, und alle tragen zu der riesigen Wolke aus Farbe und Licht bei, die das Netzwerk ausmacht. Obwohl sogar ihre neue Einheit manchmal Schwierigkeiten hat, ihrem Blick zu folgen, ihre Absicht zu erraten und die Informationen schnell genug ein- und auszublenden, ist sie fast überwältigt.
Die anderen Kursteilnehmer haben anscheinend keine Mühe damit. Sie fragt sich, warum das so ist. Vielleicht haben sie ihre Präferenzen stärker eingeschränkt. Vielleicht haben sie die Werbung oder bestimmte Kanäle ausgeblendet. Ihre alte Einheit bot eine Möglichkeit, dies entsprechend einzustellen, was allerdings überhaupt nichts gebracht hat, weil der Unterschied zwischen der Einschränkung und dem völligen Abschalten lächerlich klein war. Vielleicht ist sie tatsächlich die Einzige, die – beispielsweise – die verblüffende Szene sehen kann, die sich vor jener Geschäftszeile dort abspielt. Ein ganzer Schwarm winziger Gestalten bricht aus der Werbung hervor, jede schießt durch den Raum wie ein winziges Sternenschiff. Sie sieht zu, wie sie ihre Mitschüler umkreisen, als gehörten sie zu einem einzigen Organismus … und sie rufen keinerlei Wirkung hervor. Sarya zuckt zusammen, als die Wolke der winzigen Wesen vor ihr explodiert und sich in eine grelle Werbung verwandelt:
[AivvTech Netzwerkimplantate: Der einzige Weg, das Netzwerk zu erleben.]
Ein rascher Blick in die Runde zeigt ihr, dass niemand sonst darauf reagiert hat. Sie muss grinsen. Also dann! Das reine, ungebändigte, ungezähmte Netzwerk ist zu viel für ihre Klassenkameraden. Sie sind gezwungen, ihren Input zu begrenzen. Ganz anders sie selbst! Sarya die Tochter – die arme, nicht mit dem Netzwerk verbundene Sarya aus der Unterschicht –, sie kann die volle Wucht aushalten. Sie streckt den Finger zu den virtuellen Geschöpfen aus, die sie neugierig untersuchen, und ist fest entschlossen, niemals in die Falle der Apathie zu tappen. Bis zum Tag ihres Todes wird sie vom Netzwerk fasziniert sein, die Göttin möge ihr helfen. Schau nur, diese Kleine da, die herbeigeschossen kommt, um an ihrem spitz gefeilten Fingernagel zu knabbern! Diese Simulation des Lebens, dieses umhertollende winzige Element des galaxienweiten Netzwerks – wie könnte man darauf verzichten, es spielen zu sehen? Ja, die Figur ist ein Teil der Werbung und wurde einzig und allein zu dem Zweck erschaffen, jemandes Taille zu weiten. Aber schau sie nur an! Schau den Schwarm der anderen an, die ihr folgen! Im Spiel flitzen sie so realistisch um Saryas Hände und Ärmel herum, dass sie beinahe die Stille des Korridors stört und laut auflacht.
[Also, mein Vater will, dass ich in der öffentlichen Verwaltung arbeite], erklärt ein neuer Schwarm von Symbolen vor ihr. Sie sind wunderschön silbern geschmückt und schweben direkt neben einer Schülerin namens [Rama] in der Luft. Sobald Sarya es gelesen hat, verschwinden sie wieder. So viele Gedanken! Überall! Und Sarya hätte es nie erfahren, hätte sie nicht die neue Netzwerkeinheit bekommen. In ihrem ganzen Leben hat sie bislang fünfundneunzig Prozent der Realität verpasst.
[Ich dachte, du interessierst dich für Xenobiologie?], antwortet eine andere Schülerin. Laut der Netzwerkeinheit ist es [Jina]. Jinas Text ist glitzernd blau und löst sich in Rauch auf, nachdem Sarya ihn gelesen hat.
[Achselzucken], antwortet Rama. Die Geste hat Sarya nicht gesehen, aber die Netzwerkeinheit hat sie offensichtlich erfasst und gibt sie wieder, eingefangen und in silberne Buchstaben übersetzt. [Dafür gibt es in diesem System keine Angebote], antwortet sie. [Außerdem weißt du ja, was mein Vater von Netzwerkreisen hält.]
[Gelächter], platzt Jina inmitten einer blauen Wolke heraus. [Bist du nicht etwas zu alt, um dich davon beeindrucken zu lassen?]
In diesem Moment bemerkt Jina, dass Sarya entzückt herüberstarrt. Auch Rama dreht sich um und funkelt sie einen Moment lang an, als könnte sie gar nicht glauben, dass Sarya wirklich so aufdringlich ist. Nach einem Augenblick voller Verlegenheit – Saryas Einheit blendet über Rama und Jina hilfreich die Wörter [Verachtung] und [Geringschätzung] ein – wenden sich die beiden gleichzeitig ab. Die schönen Worte verschwinden und weichen der nüchternen Meldung: [private Unterhaltung].
Sarya schluckt und senkt den Blick, während sich in ihrem Gesicht eine sehr vertraute Hitze ausbreitet. Da sie so etwas schon seit vielen Jahren kennt, hält sie sich normalerweise nicht lange mit derartigen Vorfällen auf … aber jetzt konnte sie es sogar lesen. Sie entwickelt unerfreuliche Gedanken, und ihre Euphorie ebbt ab. Wie oft hat sie schon solche Blicke abbekommen, als sie noch nicht die Fähigkeit besaß, sie zu übersetzen? Wie oft bedeuteten die leeren Blicke tausend verschiedener Spezies tatsächlich Verachtung und Geringschätzung oder ähnliche Dinge?
[Saryas kleiner Helfer möchte mit dir sprechen], sagt eine Benachrichtigung dicht über dem Boden.
Richtig, ihre Mutter erwähnte ja, der Helfer sei in diesem Gerät installiert. Aber im Augenblick … nein. Sie wischt die Nachricht unter heftigen Bewegungen, die ihre Netzwerkeinheit richtig deutet, mit beiden Händen weg. Sie will nicht mit der Helferintelligenz sprechen. Sie will mit überhaupt niemandem reden, und ganz bestimmt will sie nicht mit diesen winzigen virtuellen Intelligenzen spielen, die ihr von der Reklame aus den Korridor hinunter gefolgt sind. Es macht keinen Spaß mehr. Ihr verdammten Dinger, haut doch ab und nervt jemand anders, oder ich …
Während sie sich einen Weg durch eine Wolke projizierter Wesen bahnt, rempelt sie einen anderen Schüler an. Eine dunstige Gesichtsmaske richtet sich auf sie, dahinter blinzeln mehrere Sehorgane, ein süßlicher Geruch steigt ihr in die Nase und brennt in den Augen. Sofort blendet ihre Einheit neben dem Gesicht die Kennung ein: [Jobe, Er, Familie, Spezies: Aqueuskollektiv, Rang: 2,05.]
Mit einem gemurmelten »Hüte dich« – der üblichen Entschuldigung einer Witwe – zieht sie sich zurück und bereut sofort, dass ihre Stimme durch den Korridor hallt und die...
Erscheint lt. Verlag | 12.10.2020 |
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Übersetzer | Jürgen Langowski |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Last Human - The Life Interstellar Book 1 |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Aliens • Debütroman • diezukunft.de • eBooks • Galaxis • Raumschiffe • Raumstation • Star Wars • Universum • Weltraum-Abenteuer |
ISBN-10 | 3-641-20961-7 / 3641209617 |
ISBN-13 | 978-3-641-20961-2 / 9783641209612 |
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