SCHLIMME ZEITEN 2 (eBook)
410 Seiten
wortweit-Verlag
978-3-903326-01-9 (ISBN)
Schon wieder
Zuerst muss ich etwas klarstellen. Mein Name ist Jan. Ich bin kein netter Mensch, auch kein besonders ehrlicher. Wer mir über den Weg läuft, hält mich für kalt und abweisend. Meinen Heiligenschein habe ich längst verpfändet. Meine wenigen Freunde halten mich für mundfaul und verstockt. Im Geheimen wohl auch für nachtragend und auf eine Weise seltsam, die sie sich nicht erklären können. Einfach seltsam und anders.
Wenn du etwas über einen liebenswerten 15-Jährigen lesen willst, dann bist du hier falsch. Leg das Buch zur Seite und verschwinde.
Bis du noch da? Dann erzähle ich dir meine Geschichte. Sie ist wahr, größtenteils wenigstens. Die Geschichte beginnt mit dem Tod, meinem Tod. Schon wieder.
Grob zwängte ich mich durchs Gedränge. Lastenträger schleppten Kisten, Passagiere strebten zu den Eisenbahnwaggons oder folgten Pagen ins Innere des Parkeston Hotels, das gleich neben den Gleisen stand. Matronen kreischten ohne ersichtlichen Grund und hochfahrende Herren feilschten mit Gepäckträgern um jeden Penny. Fliegende Händler boten heiße Kartoffeln oder gewürzte Seeschnecken an. Jongleure ließen ihre Bälle durch die Luft wirbeln. Ein Zauberer im zerschlissenen Frack zog Geldstücke aus dem Ohr eines Knaben. Laut schimpfte er der Mutter hinterher, die ihren Dreikäsehoch am Arm packte und grußlos im Hotel verschwand. Mehrere aufgeputzte Damen blinzelten älteren Herren zu. Eine weinende Frau händigte ein Bündel an ein altes Weib mit harten Augen aus. Das Bündel schrie. Ein Baby.
Überall wuselten halbwüchsige Bengel durch das Treiben, und ich hielt die eine Hand fest über meiner Börse und umklammerte mit der anderen die Reisetasche. Der Zug nach London dampfte und stampfte, doch von Zöpfchen keine Spur.
Niedergeschlagen schaute ich mich um. Dann sah ich sie aus nächster Nähe. Direkt neben mir rasselte eine Kutsche vorbei. Zöpfchen saß hinten im Freien auf dem Rücksitz, zusammen mit einer anderen Bediensteten, die verdrießlich ihren Schmollmund verzog. Zöpfchen hüllte sich, so gut es ging, in einen Mantel mit Kapuze ein. Genau wie meiner hielt auch der ihre die Nässe nicht ab. Ihr Gesicht glühte vom Fieber.
Nachdem ich ihr quer durch Deutschland bis nach England gefolgt war, wollte ich sie nicht gleich bei meiner Ankunft wieder verlieren. Ungeduldig fragte ich Umstehende nach dem Ziel der Kutsche, aber ich konnte kein Englisch und niemand verstand mein Deutsch. Was blieb mir anderes übrig? Ich packte meine Tasche und rannte der Karosse hinterher.
Schon nach hundert Schritten löste sich das Gewühl auf. Ich schrie und schrie. Zöpfchen konnte oder wollte mich nicht hören. Die gepflasterte Straße verwandelte sich in regennassen Matsch aus Schlick und Pferdedung. Nur wenige Gasleuchten zeigten den Weg. Dennoch nahm die Kutsche Fahrt auf. Auf diese Weise würde ich sie nie einholen. Die Straße schwang sich in einem Bogen um einen verwinkelten Teil der Hafenstadt voller Kanäle und Warenspeicher. Kurz entschlossen rannte ich in das Gewirr der Gassen, in der Hoffnung, so eine Abkürzung zur Hauptstraße zu finden. Auf eine dümmere Idee hätte ich nicht kommen können.
Die Tage auf dem Hintern im gut geheizten Kontor machten sich bemerkbar. Keuchend stellte ich die Reisetasche auf den Boden und setzte mich darauf. Der Dauerregen brachte die offenen Abwasserkanäle zum Überfließen und Unrat verbreitete sich über die ganze Gasse. Es stank nach fauligen Algen, Brackwasser und übervollen Latrinen. Im Dämmerlicht konnte ich nicht viel erkennen. Ein Wirrwarr von Lagerhallen und Schuppen uferte zum Meer hin aus. Gegenüber ragten die Umrisse baufälliger Wohnhäuser auf. Mühsam reckten sie sich nach oben und sanken dann erschöpft gegeneinander, sodass die Bewohner der oberen Stockwerke sich über die Gasse hinweg die Hände schütteln konnten.
Sitzen bleiben durfte ich nicht. Also rappelte ich mich auf und lief weiter. Hier gab es noch weniger Gaslaternen und ich stolperte ziellos durch das Halbdunkel. Ab und zu huschten Schatten vorbei und hinter den Lagerhallen gurgelte das Wasser.
Gleich nach der nächsten Biegung traf ich auf eine Karre, die unter einem Gaslicht stand. Darüber baumelte ein Schild mit dem verblassten Abbild eines fetten Zechers, der einen Humpen in Händen hielt. Zwei Gäule, die vor den Karren gespannt waren, steckten die Mäuler in ihre Hafersäcke und kauten regelmäßig wie ein Uhrwerk. Allzu oft bot sich ihnen die Gelegenheit dazu wohl nicht, denn ich konnte die vorstehenden Rippen zählen. Auf der Karre kauerte ein knappes Dutzend Knaben, wohl zwischen elf und fünfzehn Jahren. Sie hockten eng beieinander unter einigen Fetzen von gewachster Leinwand, die sie kaum vor dem Regen schützten. Auch ihre Rippen konnte ich zählen. Auch sie kauten. In ihrem Fall an Brocken von aufgeweichtem Brot. Der Fuhrmann saß bestimmt in der warmen Kneipe bei Braten und Bier. Durchnässt und durchgefroren schmiegten sich die Jungen eng aneinander. Sie schienen viel zu erschöpft zu sein, um mich wahrzunehmen. Nur einer blickte mir mit blödem Gesichtsausdruck und halb offenem Mund nach. Ich eilte weiter und die Karre blieb hinter mir zurück wie ein böser Traum.
Zöpfchen würde ich so nie einholen. Ich musste zurück zum Bahnsteig. Unterdessen hatte ich mich völlig verlaufen. Wieder huschten Schatten vorbei. Diesmal hörte ich Schritte. Und dann standen drei Männer vor mir. Ihre Kleidung strotzte vor Schmutz, genauso wie ihre Gesichter. Die drei hielten Knüppel in den Händen. Der Anführer raunzte etwas.
„Ich spreche kein Englisch“, sagte ich und packte meine Tasche fester. Er schrie lauter, als ob ich ihn dadurch besser verstehen würde. Entschuldigend schüttelte ich den Kopf und sah mich nach einem Fluchtweg um. Das hätte ich früher tun sollen. Ein vierter Mann packte mich von hinten. Er riss meinen Kopf zurück, hielt mir mit der einen Pranke den Mund zu und setzte mit der anderen ein Messer an.
Jemandem die Kehle durchzuschneiden ist kein Kinderspiel. Mein Mörder trieb die Klinge links in den Hals und zog sie mit Mühe nach rechts, wobei er sein Messer wie eine Säge bewegen musste. Verzweifelt strampelte ich. „Hold still“, brummelte er beinahe freundlich, „you’ll just make it worse.“ Später wurde mir klar, was er damit sagen wollte. Ich solle stillhalten, sonst würde es nur noch schlimmer werden. Noch schlimmer? Der Arsch schnitt mir die Kehle durch! Deutlich konnte ich sehen, wie mein Blut über seine schmutzigen Finger schoss, die den immer glitschigeren Messergriff umklammerten.
Dann löste ich mich von meinem Körper und schwebte nach oben. Von dort aus sah ich, wie der Mörder mich zu Boden gleiten ließ. Ich zuckte noch im Todeskampf. Er seinerseits wischte sich die Hände an den Hosen ab. Dann kam der Wind, um mich fortzutreiben.
Ich bin ein Springer. Bei uns Springern ist es so, dass wir Haken setzen. Wir lesen uns Körper aus, in die wir im Notfall schlüpfen können. Ohne sie sind wir so sterblich wie jeder andere. Wir ziehen von einem Körper in den nächsten. Wobei wir vorsichtig sein müssen. Fast nie läuft das ohne Gegenwehr ab. Wenn ich in jemanden fahre, beginnt ein Kampf auf Leben und Tod. Für mein Opfer fühlt es sich an, als ob es ersticke.
Doch der Reihe nach. Du musst dir das so vorstellen: Ich werfe mich auf deinen Schädel, der wie eine reife Frucht platzt, und senke mich in dein Gehirn. Dir kommt es vor wie eine Flut aus siedend heißem Öl. Mein ganzes Wesen, all meine Erinnerungen und Wünsche, meine Wut und Gier überschwemmen dich. Mit aller Gewalt stoße ich dich nach unten, bis du im Sumpf deiner Seele ersäufst. Dann habe ich gewonnen. Du gehst unter. Nicht ganz. Wie Fetzen schwimmen Erinnerungen in dir herum. Es sind jetzt meine Erinnerungen.
Es gelingt nicht jedes Mal und nicht bei jedem. Je gefestigter ein Opfer ist, desto schwieriger wird es. In diesem Kampf gibt es nur einen Sieger, mich. Wenn ich versage, gehen wir beide unter. Bist du zu stark, dann stecke ich in dir fest und wir verlieren zusammen den Verstand. In jedem Irrenhaus zetern gescheiterte Springer. Darum wählen wir ungefestigte, unfertige Menschen, die wenig Widerstand leisten. Dumpf und träge ist gut für uns. Schwach muss der neue Mantel sein, unsicher und ungeformt. Schau in den Spiegel. Genau wie du.
Mit einem Haken markieren wir Springer unsere Fluchtmöglichkeiten. Wenn ich ein Opfer auswähle, spürt es das kaum. Doch der Haken steckt, und ich fahre auf diese Weise übergangslos in einen frischen Mantel, wenn ich zu Tode komme oder in höchster Not meinen Körper verlassen muss. Mein Geist braucht dann schlagartig ein neues Zuhause. Um auf Nummer sicher zu gehen, setzten wir Springer mehrere Haken. In welchen Körper wir dann fahren, lässt sich nur schwer steuern. Das erwies sich nun als riesiger Nachteil.
Alle, in denen meine Haken steckten, lebten in Deutschland. Das ging nicht. Ich musste hierbleiben. Ich musste zu Zöpfchen, und dafür brauchte ich einen englischen Mantel. Mir blieb nur der Bruchteil eines Herzschlags, sonst würde ich in einem falschen Körper enden oder konnte überhaupt keinen Körper finden. Was dann geschieht, weiß niemand mit Sicherheit. Wenn ich aufsteige, treffe ich regelmäßig schemenhafte Wesen, die an mir vorübergleiten. Vielleicht sind es die unerlösten Seelen von Springern, die ohne neue Hülle umherirren müssen.
Immer schneller trieb mich der Wirbelwind davon. Ich erhaschte gerade noch einen Blick auf die Karre. Gleichzeitig fiel mir der Junge ein. Sein stierer Blick und der halb offene Mund. Verzweifelt stemmte ich mich gegen den Wind und drängte nach unten, zu dem Jungen. Mit aller Wucht fiel ich hin. Mein Gesicht klatschte auf...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2019 |
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Reihe/Serie | SCHLIMME ZEITEN |
Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | England • Histor. Fantasyroman • Schlimme Zeiten |
ISBN-10 | 3-903326-01-1 / 3903326011 |
ISBN-13 | 978-3-903326-01-9 / 9783903326019 |
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