Bernhard Hennen, 1966 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Vorderasiatische Altertumskunde. Mit seiner »Elfen«-Saga stürmte er alle Bestsellerlisten und schrieb sich an die Spitze der deutschen Fantasy-Autoren. Bernhard Hennen lebt mit seiner Familie in Krefeld.
1 DIE GEFANGENEN
Altar des Kr’Thon’Chh,
zehnter Tag im Friskenmond
»Schaut mal, wir sind schon da!« Freudig machte Abdul el Mazar auf dem Plateau einen Sprung und reckte die Arme in die Höhe. »Es war bloß eine ganz kurze Strecke. Sechsundzwanzig Stufen nur.«
Dennoch konnte er den Beginn des Abschnitts – ein Plateau, auf dem statt eines Altars ein Haufen angeschmolzener und wieder erstarrter Steine lag – von hier aus nicht erkennen, weil sich die Treppe um einen Felsvorsprung bog. Einer nach dem anderen kamen die Siedler herauf. Die Schwäche war ihnen anzusehen: Die Schultern fielen nach vorn, die Münder standen offen, viele hatten einen stumpfen Blick. Der tagelange Marsch durch den Urwald steckte ihnen in den Knochen, vor allem aber der schier endlos erscheinende Aufstieg an der Nordflanke des Bergs. Abdul glaubte, dass die silbernen Wassertröpfchen in ihren Haaren und auf ihren Gesichtern nicht nur vom Dunst der Wolken kamen, die sie durchschritten hatten, sondern auch von der Anstrengung. Er schwitzte selbst, obwohl die Treppe nahezu durchgehend im Schatten lag und er fröstelte, sobald er stehen blieb und ihn ein Windhauch traf.
Auf dem vorletzten Treppenabschnitt – jenem, der an dem Haufen angeschmolzener Steine geendet hatte – waren die Stufen beängstigend schmal gewesen. Dort war Ublef mit seinem Stock abgerutscht und in den Abgrund gestürzt. Deswegen sah Abdul es als seine Aufgabe an, die anderen zu ermutigen. Dabei war er selbst traurig über den Tod des Manns, der trotz seines schwachen Augenlichts so gleichmäßige Matten hatte flechten können. Ublef war wohl jünger gewesen als er selbst, vermutete Abdul, aber die Sonnenglut, die tägliche Begleiterin beim Betteln in den Straßen von Fasar, zehrte doppelt so viel vom Leben wie das Licht einer Öllampe in den Studierzimmern von Raschdul.
Aischa Aram wirkte besonders niedergeschlagen. In ihren weit geöffneten dunklen Augen sah Abdul die Vorwürfe, die sich die Dorfvorsteherin von Brokscal machte. Sie hatte dem Angriff der Echsen nichts entgegensetzen können, und nun war ein weiterer Mensch zu Tode gekommen, der ihr sein Leben anvertraut hatte.
Abdul zeigte den nächsten Treppenabschnitt hinauf. »Nur noch dreizehn Stufen! Und ich glaube, danach haben wir es geschafft. Es scheint nicht noch weiter hoch zu gehen.«
Zehn Schritt breite und knapp zwei Spann hohe Stufen führten von dem Plateau aus aufwärts, auf dem sich nun bereits ein Dutzend Siedler versammelt hatte. Über der obersten Stufe sah Abdul nur blauen Himmel, die dräuende Felswand des Bergs hatte ein Ende.
»Vorherrrr erwarrrrrtet noch ein weitererrrr H’Ranga unsere Unterwerfung«, gurgelte Rochurr. Es war bemerkenswert, wie der Maru trotz seines Krokodilmauls die Silben einer menschlichen Sprache einigermaßen deutlich artikulieren konnte. Selbstgefällig lehnte er knapp zehn Schritt entfernt auf seinem kräftigen Stützschwanz, die nicht minder muskulösen Beine breit auseinandergestellt, die schmächtigen Arme vor dem mit Eisenplatten verstärkten Lederharnisch verschränkt. Die Griffe von zwei Säbeln ragten über seinen Schultern auf.
Abdul mochte diesen Maru noch weniger als ihre anderen Entführer. Er benutzte seinen Schwanz nicht nur, um diejenigen zu schlagen, die zu langsam gingen. Rochurr teilte gegen jeden aus, wenn ihm langweilig war. Auch Ublef hatte er geschlagen. Der halb blinde Mann hatte behauptet, dass er unverletzt sei, aber nach der Attacke hatte er unübersehbar gehinkt.
Deswegen gönnte es Abdul dieser Wütechse nicht, ihn niederzustarren. Der Magier lehnte sich auf den Wanderstab, den er sich von Shaya geliehen hatte, um würdevoller auszusehen, und starrte zurück in die rotgoldenen Augen mit den geschlitzten Pupillen.
Langsam öffnete und schloss Rochurr das weit vorspringende Krokodilmaul. Mehrere Dutzend kegelförmiger Zähne ragten krumm und schief aus den Kiefern. Der Novadi zweifelte nicht daran, dass die Wütechse ihm damit einen Arm abreißen könnte.
»Reize ihn nicht, Abdul«, bat Shaya Lifgundsdottir, die jetzt neben ihm auf das Plateau trat. Das Orange ihrer Kutte war nur noch an wenigen Stellen zu sehen. Im Urwald hatten sie auf dem Boden schlafen müssen, Schlamm verschmutzte sie alle.
Nur Abduls graue Kutte war makellos sauber, gereinigt durch einen Zauber, von dem er aber leider selbst nicht wusste, wie er ihn gewirkt hatte. »Ich denke gar nicht daran, mich von primitiver Gewalt einschüchtern zu lassen«, gab er zurück. »Der Geist muss sich gegen die Wildheit behaupten.«
»Ich glaube dir, dass du das kannst.« Auch Shaya sah müde aus. Sie stützte oft die anderen. »Aber wir haben viele Schwache unter uns, und die wird sich diese feige Echse zuerst vornehmen.«
»Was fürrrr eine Sprache benutzt ihrrrr da?«, gurgelte Rochurr.
»Das ist Thorwalsch«, belehrte ihn Abdul. »So sprechen die Menschen in einem Land, das so kalt ist, dass du sterben würdest, wenn du dort auch nur zwei tiefe Atemzüge tätest. Die Thorwaler sind viel stärker als die Marus.«
»Bist du auch so ein Thorrrrwalerrrrr, du Wicht?«
Abdul lachte. »Ich bin ein Novadi, ein stolzer Sohn der Wüste. Und vor allem habe ich an der Akademie von Pentagramma, Hexagramma und Heptagramma zur Meisterung jenseitiger Entitäten zu Rashdul gelehrt, das lass dir gesagt sein, du ungebildetes Schuppenviech!« Er stieß mit dem Wanderstab auf, der einem Zauberstab immerhin einigermaßen ähnlich sah, und zupfte an der breiten Krempe seines Spitzhuts, bevor er über seine makellose Robe strich. Seine Hand glitt über den Lederriemen, der die etwas groß geratene Umhängetasche hielt, und dann über den Bauch. Unter dem Stoff fühlte er Narben. Sie waren sehr groß. Abdul fragte sich, woher sie wohl stammen mochten.
Rochurrs purpurne Zunge tastete an der oberen Zahnreihe entlang. »Hierrrr zählt dein junges Wissen nicht. Unsere Wurzeln rrrrreichen tiefer hinab in die Zeit, als ihrrrr Warrrrmblüter es zu erfassen vermögt.«
»Das ist in der Tat das Interessante an diesem Ausflug.« Mit einem Schlag hatte Abdul beste Laune. Es regnete nicht mehr – einen Teil der Wolken hatten sie beim Aufstieg ja ohnehin unter sich gelassen –, er war so gut gekleidet, dass er Tylstyr stolz gemacht hätte, und vor allem lernte er hier viel mehr über die Echsen als während seiner langen Studienjahre. »Dieser zerstörte Altar, den wir gerade passiert haben«, er zeigte die Treppe hinunter, »was hat es damit auf sich? Eine in Ungnade gefallene Gottheit? Oder ein Streit unter den Geweihten? So etwas gab es auch einmal zwischen den Jüngern der Rondra und jenen des Praios, ein fürchterlicher Krieg. Und aus nichtigem Anlass dazu.« Mit der Zunge schnalzend schüttelte der Novadi den Kopf. »Wenn doch alle begreifen würden, dass Rastullah der Einzige ist, dem Verehrung gebührt, wäre solchem Zwist sogleich die Grundlage entzogen.«
Das Gurgeln, das jede Äußerung des Marus begleitete, wurde zu einem Grollen.
»Jedenfalls bin ich gespannt, was ihr uns noch zu bieten habt.« Abdul hatte keine Lust mehr, in Rochurrs Augen zu starren. Neugierig blickte er in den dunklen Höhleneingang, der sich linker Hand auftat. An beiden Seiten waren Echsen mit klobigen Schädeln, riesigen Klauen und schwellenden Muskeln in den Stein geschlagen. »Gehe ich recht in der Annahme, dass sich da drin ein weiterer Altar befindet?« Er zupfte seine spärlichen Barthaare. »Welchem H’Ranga der wohl geweiht sein mag? Am meisten habe ich mich über Charyb’Yzz gewundert. Eine Meeresgottheit, der man hier, an einem Berg, huldigt. Wobei Gottheit natürlich diskutabel ist.« Er wedelte entschuldigend mit der freien Hand. »Viele würden sie als dämonische Wesenheit bezeichnen, aber auch da bin ich nicht geneigt, mich einem vorschnellen Urteil anzuschließen. Es hülfe allerdings, wenn ihr dem wissenschaftlichen Austausch offener gegenüberstündet und freigiebiger mit Erklärungen wäret. Ob sich eure Gottheit – als Zeichen guten Willens bleibe ich bei dieser Bezeichnung – aber über die vergammelten Fische gefreut hat, die ihr als Opfer dargebracht habt? Das erscheint mir doch zweifelhaft.« Abdul lächelte den weiterhin starrenden Maru gönnerhaft an.
Ein Stoß traf Abdul in den Rücken, er stolperte vorwärts.
Empört wandte sich der Magier um.
Xch’War stapfte die letzte Stufe zum Plateau herauf. Sein Anblick ließ Abdul noch immer schaudern. Auch nach Tagen konnte er sich nicht an die Bosheit in den Augen der alten Wütechse gewöhnen. Sie war schlimmer als die zahllosen Narben, die von gewonnenen Kämpfen zeugten, oder die gelben Krallen an den kräftigen Füßen. Xch’War trug einen mitten über der Brust in einem spitzen Grat zulaufenden Harnisch aus poliertem Eisen und, wie Rochurr, zwei Säbel auf dem Rücken. Dass er mehr als ein erfahrener Krieger war, zeigte sein Schmuck. Diamantsplitter glitzerten auf einem silbernen Aufsatz, der eine Kralle an seiner rechten Hand bedeckte. Eine Kordel aus edlem Stoff – gelb und grün, mit hineingeflochtenen Knochen – wand sich um seinen Stützschwanz. Besonders auffällig war ein vergoldeter Armreif, in dem blutrote Rubine funkelten. Abdul kannte dieses gezackte Schmuckstück bereits, er hatte es in der Kristallkugel gesehen, die er nun in seiner Umhängetasche verwahrte. In der Ziselierung unter dem größten, mittig angebrachten Rubin verschlang eine gewaltige Echse einen Menschen. Kleinere Rubine bildeten ein Zickzackmuster. Das machte den Reif unverwechselbar, weswegen Abdul vermutete, dass auch ihr Träger identisch mit dem Maru...
Erscheint lt. Verlag | 10.8.2020 |
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Reihe/Serie | Die Phileasson-Reihe | Die Phileasson-Reihe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Abenteuer • Aventurien • deutscher phantastik preis • eBooks • Elfen • Fantastische Welten • Fantasy • Götter • High Fantasy • Magie • Queste • Rollenspiele • SPIEGEL-Bestsellerautor • Ungeheuer • Wettfahrt |
ISBN-10 | 3-641-23432-8 / 3641234328 |
ISBN-13 | 978-3-641-23432-4 / 9783641234324 |
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