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Marie - Anja Lehmann

Marie

(Autor)

Buch | Softcover
386 Seiten
2018 | 1. Erstauflage
Nova MD (Verlag)
978-3-96111-756-7 (ISBN)
14,95 inkl. MwSt
Marie ist siebzehn Jahre, als sich ihr bisheriges Dasein drastisch verändert. Gemeinsam mit ihrer Schwester Sarah wird sie im Frühjahr 1941 als Ostarbeiterin nach Berlin gebracht. In Nazideutschland muss sie erfahren, dass sie als Halbjüdin keine Rechte mehr hat, weshalb sie alles dafür tut, ihre wahre Identität zu verschleiern. Ihr Leben wird zu einem Kampf, an dessen Ende ihr der Tod bereits zulächelt. Wagemutig stellt sich das Mädchen ihrem Schicksal und eine atemberaubende Flucht beginnt.
In dem Buch Marie wird die Geschichte fünf verschiedener Personen erzählt, die sich in den Jahren des Zweiten Weltkriegs den Umständen dieser düsteren Zeit ausgesetzt sehen. Sarah und Marie Dostojewski werden von Polen nach Deutschland entführt, wo sie gezwungen werden, jede ihrer eigenen Wege zu gehen. Fritz Heider ist ein Opportunist des Regimes und erfreut sich daran, dass seinem Handeln keine Grenzen gesetzt werden, während sich sein Vater Heinrich Heider an der Ostfront mit einer herben Sinneskrise auseinander setzt. Liam O'Brien ist ein amerikanischer Immigrant, der eher zufällig in das Geschehen verwickelt wird. Doch genau wie die anderen Figuren sieht auch er sich irgendwann den essenziellen Fragen des Lebens gegenüber: Kann ich mir selber für meine Taten in die Augen sehen? Worum geht es im Leben? Was zählt am Ende wirklich?

Hinter den Kulissen Neben der Tatsache, dass ich 1980 in Starnberg bei München geboren wurde und meine Kindheits- sowie Jugendjahre in Schwabing verbringen durfte, gibt es noch einige andere Umstände, die meine Liebe zu Büchern, Geschichten und Erzählungen vieler Art gefördert haben. Am tiefsten geht die Erinnerung an meine erste eigene Erfahrung mit Büchern, den Abenden, an denen mir mein Vater aus Büchern von Astrid Lindgren und Michael Ende vorlas. Während meine Schwester und ich längst friedlich schlummerten, hat unser Vater immer weiter vorgelesen und dadurch wahrscheinlich einen wunderbareren Nährboden für eine ausschweifende Fantasie geebnet. In der Schule fielen mir Aufsätze und Erzählungen jeder Art leicht, trotzdem ist die Lust zum Schreiben nie über das Tagebuchniveau hinausgegangen. Erst als ich die wunderbare Heilung meines Sohnes nach schwerer Erkrankung und Organtransplantation miterlebt habe, ist der Funke übergesprungen, denn ich wollte unbedingt ein Buch über diese Erfahrung schreiben, um meinen Mitmenschen zu zeigen, dass man niemals die Hoffnung aufgeben darf. Aus dem Schreiben ist eine große Liebe geworden, deren Flamme immer weiter lodert.

Prolog »Das Verlangen über andere Menschen zu herrschen, um sich dadurch zu bestätigen, ist der Fluch dieser Welt.« (Wallace D. Wattles) »Marie, versprich mir, dass du lebst!« Ihre Mutter hatte einen flehenden und gleichzeitig unglaublich klaren Gesichtsausdruck. Sie sprach die Worte deutlich aus, auch wenn ihr das Reden sichtlich schwerfiel. »Mama, sag so etwas nicht. Unsere Familie gehört zusammen. Ich will nicht gehen, sondern helfen.« Marie fasste ihre Hand und blickte auf das schweißüberströmte, schmerzverzerrte Gesicht. Als die Wehe abebbte, schüttelte ihre Mutter abermals energisch den Kopf. »Wenn du bleibst, werden Sarah und du sterben. Wir anderen sind sowieso dem Tod geweiht, ihr beide aber könnt es schaffen.« Sie hielt inne und schnaufte schwer. Die Geburt des neuen Kindes war eine Frage der Zeit. Marie stand auf und wechselte liebevoll den Waschlappen, um ihn Mama auf die Stirn zu legen. »Mischa wird bald hier sein«, sprach sie beruhigend auf sie ein. Doch ihre Mutter machte nur eine lapidare Handbewegung, als ob sie eine lästige Fliege verscheuchen wollte. »Hör mir gut zu. Die Nazis kennen keine Gnade. Sie werden kommen und uns holen, genau wie deinen Vater und Tobi und den Rabbi.« Sie hielt inne und überlegte kurz. »Marie, diese Menschen hassen alles, was anders ist als ihre eigene Ideologie. Versuche nicht, das zu verstehen, sondern sei klüger als sie. Bleib am Leben, um etwas von unserer Familie zu bewahren. Du erinnerst dich an den Brief von Vater? Halte dich an seinen Rat. Falls mir etwas zustößt, wird euch Frau Zająci aufnehmen, bis ihr wisst, was zu tun ist. Und Marie …« Mama fand kaum die Kraft, weiterzusprechen. Marie sah sie eindringlich an. »Ja, Mama?« »Vertraut auf Gott. Er wird euch führen!« Marie starrte ihre Mutter ungläubig an. Dieser Spruch passte nicht zu ihr und auch nicht der Nachdruck, mit dem sie ihre Bitte ausgesprochen hatte. »Mama. Der Schmerz, es ist bestimmt nur der Schmerz, der dich so reden lässt. Morgen ist wieder alles gut.« Geschüttelt von einer neuen Welle Wehen krümmte sich ihre Mutter. Doch sie starrte Marie mit solch durchdringendem Blick an, dass diese verstummte. »Alles, was du willst. Ich verspreche, dass ich mein Bestes geben werde!«, flüsterte Marie und sah sie an. In diesem Moment kam die Geburtsdame aus dem Nachbardorf herein. Eilig schritt sie zum Bett der Gebärenden, nickte und sagte bestimmt: »Frau Dostojewski, das Baby kommt gleich. Nehmen Sie das zur Beruhigung.« Mischa flößte der Gebärenden einen fingerhutgroßen Becher dickflüssiges Gebräu ein und untersuchte nun genauer den Unterleib. »Das wird ein sehr großes Baby. Sie müssen gut mitpressen!« Sie sprach nicht aus, was sie dachte, das wusste Marie. Es war kein Geheimnis, dass ihr jüdischer Vater Julian Dostojewski weggebracht worden war, wie man es sich in dem kleinen Dorf von Tür zur Tür zuraunte. Er war der einzige Arzt im Umkreis von fünfzig Kilometern gewesen, und so war es unmöglich, auf die Schnelle einen anderen Arzt herbeizurufen. Mit konzentrierter Miene überwachte Mischa jetzt den Puls der Mutter. Zu Marie gewandt flüsterte sie: »Lauf und hol deine Schwester. Wir werden jede Hilfe brauchen!« Die Hebamme meinte Maries jüngere Schwester Sarah, die gerade mit dem Nachbarsmädchen spielte. Wortlos verließ Marie das Zimmer. Sie traute sich nicht zu fragen, ob mit der Geburt irgendetwas nicht in Ordnung war. Als sie ohne Sarah, dafür aber mit ihrer Nachbarin Lydia Kowalski im Schlepptau zurückkehrte, bot sich ihr ein erschreckendes Bild. Die sonst so ruhige Hebamme hatte einen panischen Gesichtsausdruck. Ihre Mutter lag leichenblass auf dem durchgeschwitzten Bett. Sie atmete zwischen den immer schneller kommenden Wehen heftig und unregelmäßig. Ohne zu fragen, was zu tun sei, wechselte Marie den Waschlappen erneut und legte ihn ihrer Mutter auf die Stirn. Dann setzte sie sich ans Kopfende und hielt ihre Hand. Mischa redete der Patientin ohne Unterlass gut zu. Doch Maries Mutter keuchte und wimmerte jetzt vor Schmerzen. »Atmen, gut so. Weiter, immer atmen! Jetzt sehe ich schon das Köpfchen, weiter!« Die Mutter presste Maries Hand jetzt so fest, dass ihr die Knöchel wehtaten. »Mama, das schaffst du.« Ihre Mutter rollte den Kopf zur Seite und sah sie noch einmal mit weit aufgerissenen Augen an. »Lebe, Marie. Für mich.« Als Marie begriff, was geschehen würde, war es schon zu spät. »Nein! Nein! Mama, du kannst nicht gehen, nein! Mama, der Papa wartet doch auf dich!« Nur am Rande nahm sie das Schreien des kleinen Mädchens wahr. Und Mischa, die versuchte, ihre Mutter wieder zu Bewusstsein zu bringen. Die Hebamme hatte das Neugeborene notdürftig versorgt, es in frische Handtücher gewickelt und legte es nun direkt neben seine Mutter, die ohne Bewusstsein war. Mischa war kreidebleich geworden. Hektisch gab sie sowohl Marie als auch Frau Kowalski Anordnungen, was zu tun sei. »Marie, drück da!« Sie zeigte auf den Unterbauch der Patientin. »Mischa, sie wird doch nicht sterben, oder?« Durch den Tränenschleier, der Maries Augen benetzte, wirkte das Geschehen seltsam fern. »Nun drück doch um Himmelswillen, Mädchen, drück!« Geistesabwesend tat Marie, was ihr die Hebamme auftrug. »Fester! Ich habe mich geirrt, es sind Zwillinge!« Die Hebamme hob das schon geborene Kind in die Höhe. »Nimm deine Schwester, ich muss mich hier kümmern.« Damit drückte sie ihr das Bündel in die Hand. Das Mädchen hatte eine winzige Nase, große Augen und ganz viel schwarzes Haar. Sie hatte sich beruhigt und lag nun erschöpft in Maries Armen. Entsetzt starrte Marie auf die reglose Gestalt ihrer Mutter, die noch vor ein paar Augenblicken zu ihr gesprochen hatte. Wie im Traum realisierte sie aus weiter Entfernung, dass Mischa jetzt ein unförmiges Etwas zwischen den Beinen ihrer Mutter hervorzog. Ein verschrumpeltes Baby hing schlaff über dem Arm der Geburtsdame. Es war zweifelsfrei ein Junge, jedoch gab er kein Lebenszeichen von sich. Er war ganz blau angelaufen, und auf dem Bettlaken breitete sich eine Pfütze grünlichen Fruchtwassers aus. Die alte Hebamme schien trotz der furchtbaren Situation bemüht zu sein, einen klaren Kopf zu bewahren. Sie hüllte den leblosen Buben in ein sauberes Stofftuch und legte ihn neben Maries Mutter. Marie sah mit weit aufgerissenen Augen zu, wie Mischa versuchte, Mama zu Bewusstsein zu bringen. Im Raum wurde es ganz still. Nach einer Ewigkeit wandte Mischa sich ihr zu und sagte traurig: »Marie, ich möchte, dass du jetzt rausgehst und vor dem Zimmer auf Sarah wartest. Frau Kowalski, holen Sie den Priester. Frau Dostojewski ist tot.« Mit wackeligen Beinen, das Baby fest umklammert, drehte Marie sich um und verließ den Raum. Sie sank an der Dielenwand hinunter, ihre Augen verloren sich im Nichts. Irgendwann regte sich das kleine Bündel und verzog seinen Mund. Das Mädchen hatte Hunger. Da wusste Marie, dass sie aufstehen musste, um ihrer hilflosen Schwester etwas zum Trinken zu besorgen. Sie traute sich nicht mehr in die Schlafstube zurück, sondern ging zielstrebig in die Küche. Dort holte sie einen blechernen Milchtopf, stellte ihn auf den Küchenofen und goss Ziegenmilch hinein. Sie hatten am Hof eine Herde, und nicht selten hatte Marie ein Zicklein, das von der Mutter verstoßen worden war, mit der Flasche aufgezogen. Nun nahm sie den Zipfel der Stoffwindel, in die das Mädchen eingewickelt war, und tunkte ihn in die körperwarme Milch. Vorsichtig steckte sie der Kleinen das durchtränkte Tuch in den Mund und war erleichtert, als sie das saugende Geräusch vernahm. Sie hoffte, dass sie die Ziegenmilch vertragen würde, das war ihre einzige Chance. Während das Mädchen selig trank, füllte sich die Wohnung mit Menschen. Sarah war endlich zurück, zum Glück hinderte Mischa sie daran, das Schlafzimmer zu betreten. Schnell drückte Marie ihr die neugeborene Schwester in die Hand, eine gute Ablenkung, die auch sie vorübergehend getröstet hatte. »Was ist mit Mama?«, fragte Sarah. Marie rang nach Luft. Wenn sie die Worte aussprechen würde, dann würden sie Wirklichkeit werden. »Was ist mit ihr?« Sarahs Stimme wurde schriller. »Mama ist …, sie wollte … sie ist gestorben.« Sarah sah sie ungläubig an. »Was? Das ist nicht wahr!« Ihre kleine Schwester ballte die Faust. »Pass auf, das Baby!«, rief Marie. Sie versuchte, Sarah in den Arm zu nehmen, doch die riss sich los. Marie hielt sie energisch fest. »Mama will, dass wir zu Frau Zająci gehen.« Sarah schüttelte immer noch den Kopf, doch ihre Abwehrhaltung löste sich, während sie von Traurigkeit übermannt wurde. »Wieso ist sie tot?«, flüsterte sie leise und Tränen begannen, ihr die Wangen hinab zu laufen. Marie zuckte mit den Schultern. Sie hätte jetzt auch am liebsten geweint, sich die Decke über den Körper gezogen und einfach ihre Ruhe gehabt. Aber Mutter hatte ihr den Auftrag gegeben, stark für Sarah zu sein. So schluckte sie die den salzigen Kloß runter und murmelte, dass es die Geburt gewesen war, dass irgendetwas schiefgelaufen sei. Davon, dass es Zwillinge waren, sagte sie nichts. Zu groß war die Furcht, dass der Junge es nicht schaffen würde. »Mamas letzter Wunsch war, dass wir auf uns aufpassen und am Leben bleiben. Ich musste es ihr versprechen. Das war alles, was sie wollte.« Sarah begann, das Mädchen in ihren Armen zu wiegen. Irgendwann kam dann Mischa, um die Anwesenden am Küchentisch zu versammeln. Ihr Gesicht war bleich, die Hände zitterten und die Haare klebten schweißnass in ihrem Gesicht. Die sonst so stark wirkende Hebamme stand mit hängenden Schultern im Raum. »Der Pfarrer und Herr Levkowitz kümmern sich um alles. Wisst ihr, wo ihr hingehen könnt?« Sie sah Marie mit Nachdruck an. Diese nickte. »Was wird aus dem Baby?« »Ich werde etwas für das Mädchen suchen«, versprach Mischa. Danach ging alles sehr schnell. Marie und Sarah kamen zu Frau Zająci, eine verwitwete Dame, deren einziger Sohn im Widerstand gegen den Einmarsch der Deutschen gestorben war. Es war dieser Frau eine Ehre, dem Feind, wie sie die Deutschen nannte, eins auszuwischen und zwei halbjüdische Mädchen bei sich aufzunehmen. Auch wenn Frau Zająci zuweilen verbittert und schrullig war, war ihr Häuschen vorübergehend ein sicherer Platz. Mischa wollte sich um das Neugeborene kümmern, das von ihren Geschwistern den Namen Aleksandra bekommen hatte. Der Pfarrer hatte den Schwestern gefälschte Ausweispapiere besorgt, die sie als Marie und Sarah Zająci ausgaben. Marie stellte mit schmerzendem Herzen fest, dass ihre jüdische Abstammung in den neuen Dokumenten verschwiegen wurde. Bestimmt ist es das Beste für uns, dachte sie. Bei allem, was sie gehört hatte, wurden die in Ghettos verschleppten Juden regelrecht misshandelt. Sie erinnerte sich an den Brief von Vater, von dem Mama kurz vor ihrem Tod gesprochen hatte. Darin hatte er geschrieben, dass er und Tobi nach Warschau gebracht worden waren. Anscheinend war Vater zu einem Abgeordneten der jüdischen Versammlung ausgewählt worden und hatte dadurch eine schlimme Ahnung, was die Deutschen mit den Juden vorhatten. An einem lauen Sommerabend versammelte sich das Dorf, um Frau Hanna Dostojewski zusammen mit ihrem kleinen Söhnchen beizusetzen. Niemand hatte dem Kind einen Namen gegeben, für Marie hieß er Daniel, ihre Lieblingsfigur aus den biblischen Erzählungen ihrer Mutter. »Mama würde noch leben, wenn sie Papa nicht weggebracht hätten«, schniefte Sarah. Marie warf ihr einen bösen Blick zu. Sie sollte möglichst in der Öffentlichkeit nicht mehr über ihren Vater sprechen, obwohl alle wussten, dass er ein hervorragender Arzt gewesen war. Sie hatten ihm einen Brief geschrieben, doch niemals eine Antwort erhalten. Anscheinend durfte er auch nicht heimkommen, um seine Frau zu bestatten. Es hieß, niemand würde das Ghetto lebend verlassen. Der schmucke Hof der Dostojewskis stand jetzt vereinsamt inmitten des Dorfes, Sarah und Marie trauten sich nicht mehr dorthin zurück. Sie hatten nur ein paar Habseligkeiten mitgenommen. An dem Tag, an dem sie zu ihrer Nachbarin gezogen waren, mussten sie traurig zusehen, wie die Tiere und die Vorräte vom Pfarrer zwischen den Dorfbewohnern aufgeteilt wurden. All dies billigte Marie schweigend, denn sie dachte, auf diese Weise würden es sich die Deutschen nicht mehr unter den Nagel reißen können. Eines schönen Herbstmorgens kamen die gefürchteten Soldaten zurück. Eine ganze Truppe war auf zwei leichten Geländelastern verteilt. Marie war gerade dabei, die Wäsche vor dem Haus aufzuhängen, als sie die Fahrzeuge in der Ferne erspähte. Sie beobachtete Frau Zająci, die kreidebleich aus dem Fenster sah, ihre Augen verengt zu gefährlichen Schlitzen. Die Männer, die von den Lastern sprangen, sahen angsteinflößend aus. Ihre Gesichter waren grimmig, während sie in barschem Deutsch Marie nach den Bewohnern des Hauses fragten. »Drei Frauen«, sagte sie. »Meine Schwester, ich und unsere Mutter.« Einige der Soldaten nahmen Schussposition ein. Sie stellten sich links und rechts neben den Eingang, zwei Gewehre auf das Haus und eins auf Marie gerichtet. Diese hatte so stark zu zittern angefangen, dass ihr die kleinen Wäschezwicker aus der Hand gefallen waren. Wie versteinert verharrte sie und traute sich nicht, auch nur eine Bewegung zu machen. Obwohl ihr Blick auf den Boden gesenkt blieb, spürte sie die drohende Gefahr, die von der tödlichen Waffe ausging. Mit einem Schaudern vernahm sie, wie die anderen das Gebäude betraten. Frau Zająci stieß einen schrillen Schrei aus, als die Männer über die Türschwelle schritten. Einige Augenblicke später kamen sie mit ihr und Sarah zurück. Der Gruppenführer, ein Koloss mit Schirmmütze und schwarzem Mantel gab ein kurzes Zeichen, auf das die Soldaten die Gewehre senkten. »Ausweis zeigen!«, bellte er Marie an. Mit zitternden Fingern zeigte sie auf die halb geöffnete Haustür. »Er ist da drin.« Der Mann nickte und wies sie an, den Ausweis zu holen. Marie kam es wie eine Ewigkeit vor, bis sie mit schweißnasser Stirn und dem Dokument wieder aus dem Haus trat. Sie streckte dem Mann das Legitimationspapier entgegen. Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu, nachdem er alles überflogen hatte. »Warum verstehst du Deutsch, Mädchen?« Marie zitterte so stark, dass sie nicht in der Lage war, zu antworten. Hatte sie gerade einen fatalen Fehler gemacht? Der Soldat bohrte die Spitze seines Gewehres drohend in ihre Rippen. »Warum verstehst du uns?« Schließlich gestand sie, dass sie die Sprache von früher kannte, dass sie als Kind in Berlin gelebt hatte. Von ihrem Vater verriet sie nichts. Sie erzählte dem finsteren Gegenüber, dass sie eine Weile bei einer Großtante gewesen war. Der Soldat warf erneut einen verächtlichen Blick auf die Papiere. »Gut. Fürs Erste kommt ihr mit uns. Vielleicht gar nicht schlecht, wenn ihr ein bisschen was versteht, dann könnt ihr euren Anweisungen als Arbeitskräfte des Reiches besser Folge leisten.« Ein hämisches Grinsen flog ihm über das Gesicht. Marie schluckte. Was hatte das wohl zu bedeuten? Sie sah den Mann fragend an. »Du und deine Schwester, ihr kommt mit uns. Da könnt ihr euch nützlich machen!« Sein Grinsen wurde noch breiter, und auch die übrigen Soldaten blickten belustigt zu ihnen hinüber. Als Frau Zająci protestierte, packte der Offizier sie bei den Haaren und riss sie grob daran hinunter. Den Geschwistern deutete er an, auf den Laster zu steigen. Marie nahm allen Mut zusammen und versuchte, sich die Worte in der deutschen Sprache, die sie zwar verstand, aber lange nicht gesprochen hatte, notdürftig zurechtzulegen. »Dürfen wir bitte noch unseren Koffer packen?«, fragte sie mit leiser Stimme. Den Mann schien ihre Frage zu amüsieren, denn er zwickte sie in die Wange, während er seinen Kumpanen zuzwinkerte. »Weil du so nett gefragt hast«, sagte er ironisch, um dann in barscherem Ton hinzuzufügen, dass sie sich beeilen sollten. Dabei zog er Frau Zająci bis auf den Boden runter. »Wenn ihr versucht, zu fliehen, dann …« Er machte eine deutliche Handbewegung an ihrer Kehle und lachte laut auf. »Ihr versteht, was ich meine, keine Tricks!« Kreidebleich eilten die Mädchen ins Haus. »Marie, was machen sie mit uns?«, zischte Sarah, die die Sprache der Deutschen nicht gut beherrschte. »Sie nehmen uns mit in die Höhle des Löwen. Wir kommen nach Deutschland zum Arbeiten.« Sarah stiegen Tränen in die Augen. Marie nahm die Hand ihrer kleinen Schwester und drückte sie kurz. »Wir werden tun, was sie von uns verlangen. Vielleicht ist es auf diese Weise sogar sicherer für uns.« Sie versuchte ein Lächeln, um Sarah zu ermutigen. Aber als sie vom Fenster aus auf die Männer vor dem Haus blickte, wusste sie, dass es die Hölle werden würde.

Kapitel 1 - Der Gutshof Sarah Es war Abend geworden. Jetzt wurde es deutlich früher dunkel, doch an diesem Tag blickte Sarah von ihrem Kammerfenster auf einen leuchtenden Oktoberherbsthimmel. Hinter den rotgelben Streifen bildete sich ein dunkles Schwarz. Bald würde es Nacht werden. Für heute war die Arbeit beendet, und sie hatte die Erlaubnis erhalten, sich in das enge Zimmer, das sie mit Marie teilte, zurückzuziehen. Sie warf einen Blick zu ihr hinüber, doch zu ihrem Bedauern schien ihre große Schwester sie gar nicht wahrzunehmen. Seitdem sie nach Berlin auf den Gutshof von Graf Anton von Scharenegger gekommen waren, verhielt Marie sich oft so. Sie starrte vor sich hin und gab ihr selten Antwort. Dabei hatten sie doch nur noch sich. Nach dem tragischen Tod von Mama war es steil bergab gegangen. Nein, eigentlich schon ab dem Zeitpunkt, an dem Papa und Tobi nach Warschau abgeholt worden waren. Für Sarah hatte es sich im ersten Moment wie ein großes Abenteuer angehört, und sie träumte davon, Papa in der Hauptstadt mal zu besuchen. Als sie das Marie gestand, hatte diese sie nur böse angeguckt. »Du hast doch keine Ahnung. Sei froh, solange sie dich in Ruhe lassen«, hatte sie geantwortet. So hatte Sarah angefangen, sich mit ihrer besten Freundin Esra auszumalen, was sie wohl erleben würden, wenn sie von dem Hundertseelendorf weggingen. Sie vermisste Esra und am meisten natürlich Mama. Sie stellte sich vor, wie sie vom Himmel auf sie herabblickte. In ihren Träumen lächelte sie dabei. Ansonsten war das Leben auf dem Gutshof nicht so schlimm, wie sie es sich vorgestellt hatte. Der Graf war zwar ein leidenschaftlicher Nazi, er hatte tatsächlich vor seinem Anwesen die Hakenkreuzflagge gehisst, und im Eingangsbereich hing ein überdimensionales Gemälde mit dem Antlitz des Führers, das Sarah jeden Tag akribisch abstauben musste, doch sonst war er durchaus erträglich. Die Bediensteten waren zum großen Teil Deutsche, doch außer Marie und Sarah waren noch drei weitere Ostarbeiterinnen auf dem Anwesen tätig. Sarah ließ sich mit Begeisterung den ganzen Gutshof zeigen. Während sie putzte oder Gemüse schälte, spielte sie in Gedanken, dass ihr der Hof gehören würde. Sie war dann eine schicke Gutsherrin, gekleidet in die besten Gewänder. Sie sah sich an einem feingedeckten Tisch mit dem Tafelsilber von den köstlichsten Speisen essen, die ihr von einem Diener gebracht wurden. Dabei unterhielt sie sich damenhaft mit ihrem Gemahl, nicht dem schon leicht ergrauten Anton von Scharenegger, sondern einem hübschen Jüngling, der sie auf Händen trug. Wie gerne hätte sie diese Fantasien mit Esra geteilt, doch ihre Freundin hatten sie nicht mitgenommen. Als die Wagen an jenem grauenvollen Morgen im August kamen, um aus den Häusern Arbeiter für das Reich zu rekrutieren, hatten sie das kleine flache Haus hinter der Biegung wohl einfach übersehen. Vielleicht lag es auch daran, dass der Laster schon bis zur Ladeklappe voll gewesen war. Die meisten jungen Leute des Dorfes waren einkassiert worden. Sarah war die Jüngste. Mit ihnen hatten sie noch Adam, einen handwerklich begabten Siebzehnjährigen, Alex, den heimlichen Schwarm von Esra, Florian, Saszkia, Katharina, die auf einem Auge blind war, und Susanna geholt. Zusätzlich hatten bereits drei unbekannte Jugendliche im Wagen gesessen, die sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrten. Sie alle wurden nach Berlin gebracht. Dort warteten in einem schäbigen Gebäude, von dem Marie sagte, dass es in der Nähe vom Potsdamer Platz sei, schon andere Polen auf ihre Aufenthaltsdokumente und vor allem auf ihre neuen Arbeitsstätten. Niemand rebellierte oder versuchte, seinem Schicksal zu entrinnen. Es hätte auch keinen Zweck gehabt, denn es waren genügend SS-Männer in grauen Uniformen mit geladenen Gewehren um sie herum. Nacheinander wurden sie in ein Nebenzimmer gerufen, von dem aus sie mit verschiedenen Papieren wieder herauskamen. Marie war vor ihr an der Reihe gewesen. Wahrscheinlich waren sie deshalb gemeinsam auf dem Gutshof von Scharenegger gelandet. Als Sarah das Anwesen zum ersten Mal aus der Ferne erblickte, überkam sie ein unangenehmes Gefühl. Sie hielt den Beutel mit den wenigen Habseligkeiten, die ihr geblieben waren, ganz eng an sich gepresst. Darin waren ihre Puppe Mona, eine Mundharmonika und ein Familienfoto vom letzten Frühlingsfest. Ansonsten hatte sie alles daheim gelassen. Sie verstand die Sprache der Deutschen nicht. Die Wörter klangen alle barsch oder bedrohlich. Doch als sie begriff, was ihre Rolle von nun an sein würde, war sie fast erleichtert. Sie war zwar weit weg von zu Hause, ohne ihre Eltern, aber sie hatte Marie, und in dem großen Herrenhaus fühlte sie sich sicher. * * * Marie Gott, wie Marie den hochnäsigen Grafen hasste. Kein Wunder, dass das Nazi-Regime mit so finanzkräftiger Unterstützung der Bevölkerung aufblühen konnte. Der Graf besaß alles, wovon ein normaler Bürger nicht mal zu träumen wagte. Ein kostbar ausgestattetes Anwesen, wunderbare Ländereien, eine stattliche Automobilsammlung, exotische Speisen und Bedienstete, die ihm jeden Wunsch von den Lippen ablasen. Während vielerorts, besonders in den großen Städten, die Menschen hungerten, fehlte es Graf Anton von und zu Scharenegger an nichts. Er hatte weder Frau noch Kinder, jedenfalls hatte Marie nichts dergleichen gesehen, und sie beobachtete alles ganz genau. Dafür schien er einen Hang zu einem deutschen Dienstmädchen zu haben, und auch sie war dem Grafen recht zugetan. Um trotzdem etwas Gesellschaft und Leben in das imposante Haus zu bringen, lud er regelmäßig zu musikalisch untermalten Gesellschaftsabenden ein. Marie und die anderen Ostarbeiterinnen wurden dann auf ihre Zimmer geschickt, denn die eingeladenen Gäste, die in Scharen kamen, sollten von arischen Hausmädchen bedient werden. Marie fragte sich manchmal, wieso der Graf sich überhaupt mit Ostarbeiterinnen abgab, und kam zu dem Schluss, dass manche Arbeiten wohl unter der Würde arischer Bediensteter waren. Hätte Anton von Scharenegger gewusst, dass Marie und Sarah jüdische Wurzeln hatten, hätte er sie wohl nicht auf dem Anwesen haben wollen. So aber verbrachten sie ihre Tage damit, den Boden zu bohnern, die Möbel zu polieren, das Bad zu schrubben und die Küche des edlen Herrn blitzblank zu halten. Marie war entschlossen, ihr Geheimnis zu wahren. Deshalb hatte sie seit ihrer Ankunft nur das Nötigste gesagt, denn durch Schweigen würde sie sich nicht verraten. Auf dem Amt, von dem aus sie verteilt worden waren, hatte sie das letzte Mal deutsch gesprochen. Das hatte ihr geholfen, einen guten Arbeitsplatz zusammen mit Sarah zu bekommen. Doch nun wollte sie lieber verbergen, dass sie die Sprache des Feindes beherrschte. Nicht, dass es ihr bis jetzt viel gebracht hatte, denn im Volksempfänger spielten nur zwei Sender, die täglich die Weisheit und Tapferkeit des Führers und seines deutschen Volkes anpriesen. Auch in der morgendlichen Zeitung, die Marie sich des Öfteren in die Schürze wickelte, sobald sie vom Grafen ausgelesen war und er sie achtlos auf dem Tisch liegen ließ, fand Marie kein Wort der Kritik oder des Zweifels am Endsieg. Sie traute dem Inhalt der Schmierblätter nicht, aber sie hatte auch keine anderen Informationen. Die Dienstmädchen, inklusive Sarah, schienen von dem Grafen zutiefst beeindruckt zu sein. Als er für sie an Weihnachten einen Schokoladenkuchen backen ließ, wären manche der jungen Damen vor Dankbarkeit beinahe in Tränen ausgebrochen. Marie verweigerte ihr Stück. Sie wollte von Menschen wie Anton Scharenegger nichts annehmen. Im Gegenteil! Bei ihren Diensttätigkeiten, die das Wischen der gesamten Böden und das Wienern der Treppen umfassten, sah sie sich unauffällig das Anwesen an. Dabei spähte sie nach einem Fluchtweg. Bis jetzt war sie noch erfolglos darin gewesen, einen guten Plan zu fassen, aber vielleicht hatte sie Glück und würde im Frühling bei der Gartenarbeit helfen dürfen. Sie träumte davon, die Außenanlage des Gutshofes zu erforschen, um eine Lücke in den Mauern des Anwesens zu finden, durch die sie sich mit Sarah absetzen konnte. Sie hielt die Augen offen, um verschwinden zu können, wenn sie in Bedrängnis gerieten. Deshalb machte sie ihre Arbeit fleißig, auch wenn die Knie schmerzten und der Rücken weh tat. Mit Schaudern überlegte sie, ob man ihre Ausweise oder ihre Herkunft noch einmal genau überprüfen würde. Dann wären Sarah und sie geliefert. Hingebungsvoll arbeitete Marie so, dass sie sich auf keinen Fall etwas zuschulden kommen ließ, denn je zuverlässiger sie erschien, desto weniger würde man sie beobachten. Abends, wenn sie bei Kerzenschein in ihrer Kammer lag, durchforstete sie heimlich die Zeitungsartikel auf Hinweise über den Kriegsverlauf. Das Lesen, das ihr am Anfang Probleme bereitet hatte, fiel ihr jetzt schon viel leichter. Sie hatte in der Schule zwei Jahre deutsche Literatur gehabt und Vater hatte sie angehalten, die großen deutschen Dichter Goethe und Schiller zu studieren. Aber die Zeitungssprache unterschied sich von der literarischen Sprache sehr. Trotzdem gab sie nicht auf. Immer wieder quälte sie sich durch alle gefundenen Artikel. Das, was sie zwischen den Zeilen herausfinden konnte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Vor Weihnachten hatten die Zeitungen bereits groß den Sieg über Moskau gefeiert, und es klang so, als wäre die Zarenstadt schon eingenommen. Für den Fall, dass Deutschland diesen irrsinnigen Krieg gewinnen würde, hatte Marie sich vorgenommen, das Versprechen an ihre Mutter zu brechen. Sie wollte nicht unter einer dauerhaften Nazi-Herrschaft leben, soviel war sicher! »Wenn die Hakenkreuzfahne auf dem Roten Platz gehisst wird, bringe ich mich um«, sprach sie im Nachtgebet zum Himmel. Sie schöpfte etwas Hoffnung, als sie erfuhr, dass die Deutschen an Moskau gescheitert waren. Die Nachrichten aus ihrem Heimatland waren dafür Anfang des neuen Jahres umso erdrückender. Die Deutschen schränkten die Juden im Warschauer Ghetto immer mehr ein. Auf Verlassen des zugewiesenen Viertels stand seit Neuestem die Todesstrafe, und durch den Dreck, der in den übervölkerten Straßen entstand, breiteten sich immer mehr Seuchen aus. In Deutschland selbst begann man damit, die Juden in verschiedene Sammellager zu deportieren. Marie ballte die Fäuste, als sie las, dass diese rassisch minderwertigen Menschen in den sogenannten neuen Arbeitsstätten redlich arbeiten sollten und somit dem Reich dienen dürften. Im innenpolitischen Teil wurde der Endsieg propagiert und das Volk angehalten, »für dieses übergeordnete Ziel mit aller Kraft den Führer zu unterstützen«. Marie blickte auf das Datum des Artikels. Es war der 15.02.1942. Angewidert zerknüllte sie das Papier und versteckte das Knäuel in ihrem Kissenbezug. Von dort würde es am Morgen in ihre Schürze wandern und bei der nächsten Gelegenheit die Flammen des Kamins füttern. Marie fragte sich, wie sie die Zeitung verschwinden lassen konnte, wenn es wärmer werden würde und der Ofen nicht mehr angeschürt wurde. Sarah hatte am Anfang nach der Bedeutung der Zeitungsberichte gefragt, doch Marie wollte ihrer Schwester die grauenhaften Nachrichten ersparen. »Da steht eh nur erlogenes Zeug drin«, sagte sie belanglos. »Dafür liest du aber recht viel darin rum«, hatte Sarah erwidert. Schlaues Mädchen. »Ich will einfach die Sprache üben, der Inhalt interessiert mich nicht. Wenn wir irgendwann von hier wegwollen, dann ist es nützlich, dass ich lesen kann!« »Von hier weg? Wieso willst du von hier weg? Wir haben ein gutes Heim, so lange, bis der Krieg vorbei ist, und dann kehren wir zurück zu Papa.« Dummes Mädchen. »Und wenn die Deutschen am Ende gewinnen? Sarah, sie hassen jeden, der kein arisches Blut in den Adern hat! Über kurz oder lang werden sie uns auch in irgendein Ghetto oder ein Arbeitslager bringen. Wir werden schuften müssen, bis wir umfallen. Das ist kein Leben!« »Der Graf ist gut zu uns. Er hat uns den Kuchen geschenkt …« Marie unterbrach sie barsch: »Du bist genauso kurzsichtig wie die anderen Mädchen! Du kannst ja dableiben, aber ich werde nicht für diesen Führer-Anbeter rackern, bis man mich irgendwo anders hinbringt. Sonst wäre ich nicht mehr wert als ein dummes Schaf, das nicht begreift, dass es zur Schlachtbank kommt!« Daraufhin hatte Sarah sich beleidigt umgedreht, ihre Puppe Mona im Arm festgehalten und angefangen, stur vor sich hin zu summen. An einem anderen Abend waren sie im Zimmer gewesen, während der Graf unten einen seiner Empfänge abhielt, und Sarah hatte die Mundharmonika ausgepackt. Sie begann, darauf eine polnische Heimatschnulze zu spielen. Die Melodie von Oh, wie ist dieses Land so wunderbar und von Gott beseelt. »Sarah, sei leise! Warum in aller Welt hast du dieses Ding überhaupt mitgenommen?« Doch Sarah, immer noch sauer auf Marie, spielte umso penetranter. »Bald werden sie kommen und uns rügen. Wir dürfen hier nicht auffallen!« Sarah dudelte unbehelligt weiter. Marie funkelte ihre Schwester böse an. Das half. Sarah setzte ihr Instrument ab und raunzte: »Das hört doch heute eh niemand. Lausch mal, wie laut die Musik da unten ist. Ich will jetzt meine Mundharmonika spielen, das stimmt mich fröhlicher. Ich kann dein verbittertes Gesicht nicht mehr ertragen, Marie!« Das hatte ihr einen gewaltigen Stich versetzt. Deshalb blieb sie still, auch, als Sarah wieder anfing, auf dem Instrument zu dudeln. Sie spielte noch bis tief in die Nacht, während Marie sich ein Kissen über die Ohren hielt. Wenn sie ehrlich war, wollte sie die Lieder nicht hören, weil diese sie an eine bessere Zeit erinnerten. Drei Tage später kam Sarah nach getaner Arbeit mit einem glühenden Grinsen im Gesicht auf das Zimmer. Es war seit Langem das erste Mal, dass Marie sie so fröhlich gesehen hatte. »Was ist los? Hast du wieder einen Kuchen gekriegt?«, fragte sie missmutig. Sarah schüttelte freudestrahlend den Kopf. »Kennst du den Kammerdiener des Grafen?« »Diesen schielenden Brillenträger, der immer um ihn herumschlängelt?« »Er heißt Herr Lehner«, sagte Sarah ein wenig beleidigt. »Gut, dann halt Herr Lehner. Was ist mit ihm?« »Er hat mich spielen gehört, vor drei Tagen auf der Mundharmonika.« Marie verstand nicht. Sarah rang sichtlich nach Worten. »Naja, er fand es gut. Er hat gefragt, ob ich noch mehr Instrumente spielen kann.« Marie konnte fühlen, wie ihr Gesicht brannte. Der Zorn zog ihre Brauen finster zusammen, und sie spürte, wie sich eine tiefe Falte in ihre Stirn grub. »Was hast du ihm gesagt?«, fragte sie zwischen zusammengepressten Zähnen. Sarah entglitt das Lächeln. »Na, die Wahrheit natürlich. Ich habe erzählt, dass ich daheim Geige gespielt habe und du Klarinette«, gestand sie. Marie atmete schwer. »Sarah, warum um alles in der Welt kannst du nicht einfach mal deine Klappe halten?« »Vielleicht hat er mich gar nicht richtig verstanden«, antwortete Sarah hoffnungsvoll. Marie fragte sich, wieso der Kammerdiener sie überhaupt angesprochen hatte. Bestimmt hatte er den Auftrag bekommen, mehr über die Geschwister rauszufinden und wusste nun, dass die Mädchen keinesfalls armselige Bauerstöchter sein konnten. Er würde eine Verbindung herstellen. Von dem Heimatdorf der beiden zu dem einzigen Mann, der seiner Familie in dem ärmlichen Kaff eine fundierte Musikerziehung angedeihen lassen konnte. Wenn er klug war. »Sarah. Ich fürchte, wir sind in Schwierigkeiten.«

Erscheinungsdatum
Verlagsort Deutschland
Sprache deutsch
Maße 215 x 139 mm
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Beziehungen • Deutschland • Flucht • Frauenroman • Freiheit • Historischer Roman • Liebe • Schicksal • Schwestern • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-96111-756-X / 396111756X
ISBN-13 978-3-96111-756-7 / 9783961117567
Zustand Neuware
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
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