Die weiße Garde (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
544 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31682-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die weiße Garde -  Michail Bulgakow
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Bulgakows großer Roman über den ukrainischen Bürgerkrieg und die Wirren der russischen Revolution - ein Meisterwerk der Moderne neu übersetzt von Alexander Nitzberg Kiew 1918, es ist Winter, das Ende des Ersten Weltkrieges ist nah. Doch für die Geschwister Turbin fängt der Krieg gerade erst an: Gnadenlos rollen zahlreiche verfeindete Truppen über die große Stadt hinweg und lassen dabei niemanden unbeschadet davonkommen. 'Lebt hin ... in Frieden' - der letzte Wunsch der sterbenden Mutter Turbin könnte kaum erschütternder enttäuscht werden. Die Schrecken des russischen Bürgerkriegs stellen den Familienzusammenhalt ihrer Kinder auf eine harte Zerreißprobe. Jelena muss nicht nur um ihren Ehemann, sondern auch um ihre Brüder Nikolka und Alexej bangen, die sich als Fahnenjunker und Militärarzt der Freiwilligenarmee anschließen. Im Kreuzfeuer der unermüdlichen Gefechte zwischen den Anhängern des untergegangenen Zarentums und den verhassten Bolschewiken, zwischen der weißen Garde und der roten Armee müssen die Geschwister sich entscheiden, auf welcher Seite sie stehen - auch, wenn sie damit die familiäre Eintracht, ihre persönlichen Prinzipien und sogar ihr Leben aufs Spiel setzen. Nach Meister und Margarita, Das hündische Herz und Die verfluchten Eier hat Alexander Nitzberg nun endlich auch Bulgakows großen Zeitroman ins Deutsche übertragen. Die weiße Garde besticht jedoch nicht durch das Skurrile, das Satirische, sondern überzeugt mit brutalem Realismus und radikal modernem Stil. Ein großes Sprachkunstwerk, das in Nitzbergs Übersetzung zu einem völlig neuen Erlebnis wird. 'Nitzberg ist einem modernen Übersetzungsideal verpflichtet: da geht es nicht darum, den Text zu glätten, sondern authentisch zu bleiben und dem Autor gerecht zu werden.' ORF

Michail Bulgakow (1891-1940) wurde erst lange nach seinem Tod berühmt. Seine wichtigsten Werke durften zu Lebzeiten nicht erscheinen. Der Weltklassiker Meister und Margarita, an dem er die letzten zwölf Jahre vor seinem Tod geschrieben hatte, erschien, zudem in zensierter Fassung, in der UDSSR erst 1968. Die weiße Garde war Bulgakows erster Roman und diente als Grundlage für sein Theaterstück Die Tage der Geschwister Turbin - zu dessen größten Bewunderern Stalin gehört haben soll, der es sich angeblich 15 Mal ansah. Bei Galiani Berlin erschienen von Bulgakow - neu übersetzt von Alexander Nitzberg - Meister und Margarita (2012), Das hündische Herz (2013), Die verfluchten Eier (2014) und Die weiße Garde (2018).

Michail Bulgakow (1891–1940) wurde erst lange nach seinem Tod berühmt. Seine wichtigsten Werke durften zu Lebzeiten nicht erscheinen. Der Weltklassiker Meister und Margarita, an dem er die letzten zwölf Jahre vor seinem Tod geschrieben hatte, erschien, zudem in zensierter Fassung, in der UDSSR erst 1968. Die weiße Garde war Bulgakows erster Roman und diente als Grundlage für sein Theaterstück Die Tage der Geschwister Turbin – zu dessen größten Bewunderern Stalin gehört haben soll, der es sich angeblich 15 Mal ansah. Bei Galiani Berlin erschienen von Bulgakow - neu übersetzt von Alexander Nitzberg - Meister und Margarita (2012), Das hündische Herz (2013), Die verfluchten Eier (2014) und Die weiße Garde (2018). Alexander Nitzberg gehört zu den wichtigsten Übersetzern u.a. aus dem Russischen. Er hat mit seinen Gedichten und Übertragungen russischer und englischer Klassiker wie Daniil Charms und Edmund Spenser auf sich aufmerksam gemacht und sorgte zuletzt mit seinen Neuübersetzungen von Bulgakows Meister und Margarita und Das hündische Herz sowie Sawinkows Das fahle Pferd und Das schwarze Pferd für Furore. 2019 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für literarisches Übersetzen. Zuletzt erschien Bulgakows Die weiße Garde in einer Neuübersetzung Nitzbergs bei Galiani Berlin (2018).

3.


Zu dieser nächtlichen Stunde herrschte in der unteren Wohnung des Hausbesitzers Wassilij Iwanowitsch Lissowitsch vollkommene Stille, die nur eine Maus im kleinen Speisezimmer von Zeit zu Zeit störte. Die Maus knabberte, knabberte, hartnäckig, eifrig, im Schrank eine ranzige Käsescheibe und vermaledeite dabei die Knauserigkeit der Ingenieursgemahlin Wanda Michajlowna. Die vermaledeite knöcherige und überaus argwöhnische Wanda schlief fest im Finstern des Schlafgemachs in der kühlen und feuchten Wohnung. Der Ingenieur selbst war noch hellwach und befand sich in seinem vollgestopften, mit Büchern gefüllten und infolgedessen höchst gemütlichen Kämmerlein mit dicht zugezogenen Gardinen. Die Stehlampe, welche da eine altägyptische Göttin mit grünem geblümtem Sonnenschirm darstellte, färbte den Raum zart und geheimnisvoll, und auch der Ingenieur war geheimnisvoll in seinem tiefen ledernen Sessel. Das Geheimnisvolle und Zweideutige der vagen Zeit drückte sich darin aus, dass jener Mann im Sessel mitnichten Wassilij Iwanowitsch Lissowitsch war, sondern … Wassilissa[70]. Das heißt, er selbst nannte sich Lissowitsch, viele Menschen, die ihm begegneten, sprachen ihn an mit Wassilij Iwanowitsch, aber nur direkt an den Kopf geworfen. Hinter seinem Rücken, in der dritten Person, nannte man ihn einzig Wassilissa. Das passierte, weil der Hausbesitzer seit dem Januar 1918, als in der Stadt nun ganz offensichtlich Wundersames zu geschehen begann, seine einst lesbare Handschrift änderte, und so schrieb er, statt des präzisen W. Lissowitsch, aus Angst vor etwaiger zukünftiger Rechenschaft, in Amtspapieren, Bescheinigungen, Ausweisen, Verordnungen und auf Kärtchen nur noch Wass. Liss.[71]

Nikolka, dem Wassilij Iwanowitsch am 18. Januar 1918 Kärtchen für Zucker ausgestellt hatte, bekam am Kreschtschatik, anstelle des Zuckers, einen schlimmen Schlag mit einem Stein in den Rücken und musste zwei Tage lang Blut röcheln.[72] (Das Geschoss zerplatzte gleich über der Zuckerschlange, die aus lauter furchtlosen Menschen bestand.) Zu Hause, sich an der Wand abstützend und immer wieder grün anlaufend, zwang er sich dennoch ein Lächeln ab, um Jelena nicht unnötig zu erschrecken, spuckte einen Napf voll Blutflecke, und Jelenas Aufschrei:

– Oh, mein Gott! Was ist denn das?!–

beantwortete er mit:

– Wassilissa und ihr gottverdammter Zucker! – Dann wurde er bleich und brach zusammen. Nikolka erhob sich zwei Tage später, aber Wassilij Iwanowitsch Lissowitsch war von da an verschwunden. Erst der Hof von Numero 13 und daraufhin die ganze Stadt riefen den Ingenieur Wassilissa, und allein der Besitzer des weiblichen Namens stellte sich vor als Vorsitzender des Hauskomitees Lissowitsch.

Sich zur Genüge überzeugt habend, dass die Straße nun endgültig still ist und keine vereinzelten Kufen mehr knirschen, sehr besorgt auf das Sirren aus dem Schlafzimmer horchend, schlich Wassilissa nun zur Diele, sehr besorgt befühlte er daselbst die Schlösser, die Kette, die Schraube, den Haken und kehrte zurück ins Kämmerlein. Der Schublade seines massiven Tisches entnahm er vier glänzende Sicherheitsnadeln. Danach ging er auf Zehenspitzen irgendwohin, in die Finsternis, und brachte ein Betttuch und einen Plaid. Horchte noch einmal und legte sogar den Zeigefinger an die Lippen. Zog den Anzug aus und die Ärmel hoch, holte vom Bord eine Dose Kleister, einen sorgsam zum Rohr zusammengerollten Fetzen Tapete und eine Schere. Dann schmiegte er sich an die Fensterscheibe und studierte unter dem Schild seiner Hand voller Aufmerksamkeit die Straße. Das linke Fenster verhängte er bis zur Hälfte mit dem Betttuch, das rechte verhüllte er mit dem Plaid und benutzte hierfür die vier Sicherheitsnadeln. Behutsam half er nach mit der Hand, damit sich nicht etwa ein Schlitz bildet. Packte einen Stuhl, stellte sich darauf, und tastete mit den Fingern nach irgendetwas über den Büchern, dort auf dem obersten Regal, machte mit einem schmalen Messer einen vertikalen Schnitt in der Wand, dann, im rechten Winkel zur Seite, schob er das Messer unter den Spalt und erschloss ein sehr ordentliches in der Größe von zwei Ziegelsteinen gearbeitetes Zwischenfach – im Zuge der vergangenen Nacht hatte er es dort selbst erzeugt. Den Deckel, eine dünne Zinkplatte, stieß er auf, stieg wieder ab, beschaute schüchtern die Fensterscheiben, strich mit der Hand über den Stoff. Aus dem Inneren der unteren Schublade, geöffnet von einer doppelten schnarrenden Drehung des Schlüssels, erblickte die Welt ein ordentlich überkreuz verschnürtes und versiegeltes Päckchen in Zeitungspapier. Das setzte Wassilissa im Geheimfach bei und legte erneut den Deckel vor. Schnippelte und stückelte auf dem roten Filz des Tisches sich noch lange die Streifen zurecht, bis sie seiner Vorstellung entsprachen. Bepinselt mit Kleister, verklebten sie die winzigen Freiräume meisterlich:[73] Halbstrauß an Halbstrauß, Viereck an Viereck. Als der Ingenieur vom Stuhl herabstieg, stellte er fest: Dort an der Wand blieb keine Spur von einem Geheimfach. Wassilissa rieb sich inspiriert die Hände, zerknüllte sofort und verbrannte im Ofen die Tapetenreste, verstreute die Asche und versteckte den Kleister.

Auf der schwarzen und menschenleeren Straße stieg eine wölfische zerlumpte graue Gestalt vollkommen lautlos vom Akazienzweig[74], auf welchem sie eine halbe Stunde gesessen hatte, scharf geplagt vom Frost, aber gefräßig durch den verräterischen Spalt über dem oberen Rand der Decke die Arbeit des Ingenieurs begutachtend, dem das Verhängnis gerade auch wegen des Verhängens des grün gefärbten Fensters gefolgt war. Dann sprang die Gestalt stahlfedernhaft in den Schnee, schritt fort die Straße hinauf, stürzte ein mit ihrer wölfischen Gangart in die Gassen, und der Sturm und das Dunkel und die Schneeberge fraßen sie auf und verwehten all ihre Spuren.

Tiefste Nacht. Wassilissa im Sessel. In dem grünen Düster, wirkt er da nicht wie der leibhaftige Taras Bulba[75]? Der Schnauzer nach unten, flauschig – zum Teufel, was denn für eine Wassilissa! – ja, ein richtiges Mannsbild ist das. In den Schubladen ein sanftes Scheppern, und vor Wassilissa, auf dem roten Filz, stapeln sich schmale Papierschnipsel – grünliches Spielkartenmuster.

Noten der Staatskasse

50 Karbowanzen[76]

Äquivalent für Kreditscheine.

Auf dem Muster ein Bauer mit schlaff hängendem Schnauzer, ausgerüstet mit einer Schaufel, und eine Bäuerin mit einer Sichel. Auf der Rückseite in einem Oval vergrößerte rötliche Gesichter des Bauern und der Bäuerin mit der Sichel. Und auch hier der Schnauzer nach unten auf die ukrainische Art.[77] Über allem die warnende Aufschrift:

Jede Fälschung wird mit Zuchthaus bestraft.

Selbstsichere Unterschrift:

Direktor der Staatskasse Lebidj-Jurtschik.[78]

Der ehern-berittene Alexander II.[79] im gusseisernen Seifenschaumgezottel seines Backenbarts, in einer Kolonne Berittener, schielte gereizt auf das Meisterwerk Lebidj-Jurtschiks und zugleich voll Zärtlichkeit auf die Lampenprinzessin. Von der Wand aus betrachtete die Schnipsel verschreckt ein Träger des Stanislaus-Ordens[80], Staatsdiener und Vorfahre Wassilissas, gemalt in Öl. Im grünlichen Lichtschein erglänzten weich die Buchrücken von Gontscharow, Dostojewski, und in einer kraftstrotzenden Kolonne der schwarzgoldene berittene Gardist Brockhaus-Efron.[81] Also: Die reinste Augenweide.

Das fünfprozentige Wertpapier ist sicher versteckt hinter der Tapete. Zusammen mit 15 Katharinkas, 9 Peter-, 10 Nikolaus-I-Noten,[82] dazu drei Brillantringe, eine Brosche, ein Anna-[83] und zwei Stanislaus-Orden.

Dann, im Geheimfach Nr. 2 – 20 Katharinkas, 10 Peter-Noten, 25 silberne Löffel, eine goldene Taschenuhr mit Kettchen, drei Zigarettenetuis (»Dem lieben Kollegen«, und das obwohl Wassilissa Nichtraucher war), 50 Zehner in Gold, ein paar Salzstreuer, eine Kassette mit Silberbesteck für sechs Personen und ein silbernes Sieb (das große Geheimfach in der Holzscheune, zwei Schritt von der Tür, geradeaus, ein Schritt nach links, ein Schritt von der Kreidemarkierung auf einem Holzscheit in der Wand. Alles in Von-Einem-Gebäckschachteln,[84] gewickelt in Wachstuch, die Nähte geharzt, zwei Arschin[85] in die Tiefe).

Das dritte Geheimfach – der Dachboden: Drei Viertel vom Rohr Richtung Nordosten[86], unterhalb eines Balkens im Lehm: Eine Zuckerzange, 183 goldene Zehner, 25000 in Wertpapieren.

Lebidj-Jurtschik ist nur für laufende Kosten.

Wassilissa blickte sich um, das tat er jedes Mal, wenn er Geld zählte, und begann, das Muster zu bespeicheln. Sein Gesicht ward himmlisch verklärt. Dann plötzlich lief es fahl an.

– Verflucht, ’ne Blüte, verflucht, ’ne Blüte –, murrte er verärgert und schüttelte den Kopf, – was ein Jammer!

Die blauen Augen Wassilissas offenbarten die Trauer des Lamms an der Schlachtbank. In dem dritten Zehnerpack – einer, in dem vierten – zwei, in dem sechsten – zwei, in dem neunten...

Erscheint lt. Verlag 4.10.2018
Übersetzer Alexander Nitzberg
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alexander Nitzberg • Boris Sawinkow • Bürgerkrieg • Das fahle Pferd • Das hündische Herz • Das schwarze Pferd • Die verfluchten Eier • Kiew • Krieg • Meister und Margarita • Michail Bulgakow • Neuübersetzung • Russischer Bürgerkrieg • Russland • Stalin
ISBN-10 3-462-31682-6 / 3462316826
ISBN-13 978-3-462-31682-7 / 9783462316827
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