Eiswelt (eBook)

Roman
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2018 | 1. Auflage
656 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-23357-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eiswelt -  Jasper Fforde
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In einer Welt, die der unseren gar nicht so unähnlich ist, hat die Eiszeit nie aufgehört. Jedes Jahr versinkt während der Wintermonate alles in Eis, Schnee und Dunkelheit. Selbst die Menschen ziehen sich zurück und halten Winterschlaf - außer die Winterkonsuln. Sie wachen über den Schlaf der Menschen, denn draußen in der Dunkelheit treiben heulende Bestien ihr Unwesen. Hier tritt der junge Charlie seine erste Arbeitsstelle an, und sie entwickelt sich schon bald zu einem Albtraum. Denn wenn Charlie diesen Winter überleben will, muss er wach bleiben. Um jeden Preis ...

Jasper Fforde, Jahrgang 1961, ist gebürtiger Londoner und war viele Jahre in der Filmindustrie tätig, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sein erster Roman »Der Fall Jane Eyre« um die Zeitdetektivin Thursday Next war weltweit ein großer Erfolg. Mit »Eiswelt« schlägt Fforde nun ein neues Kapitel in seinem Schreiben auf. Der Autor lebt in seiner Wahlheimat Wales.

Mrs. Tiffen spielte Bouzouki

»… Seit dem Bau von Dormitorien, der Entwicklung von effizienten Maßnahmen zur Gewichtszunahme und der Einführung von Morphenox überleben mehr Menschen als früher die Hibernation, aber dennoch sind Angst und Aberglauben weit verbreitet. Bei der Hib geht es nicht nur darum, den schlimmsten Seiten des Winters aus dem Weg zu gehen, sondern ebenso sehr um Ruhe, Schonung und Erneuerung, und wir tun unser Bestes, um dem öligen Teer des Langschlafes einen warmen und freundlichen Zauber zu verleihen …«

SIEBZEHN WINTER, WINTERKONSUL LANCE JONES

Mrs. Tiffen spielte Bouzouki. Nicht besonders gut allerdings. Und sie beherrschte auch nur eine Melodie: »Help Yourself« von Tom Jones. Sie zupfte die Saiten durchaus meisterlich, ließ aber jegliches Gefühl dabei vermissen, während sie mit leerem Blick aus dem Zugfenster auf das Eis und den Schnee draußen starrte. Sie und ich hatten, seit wir uns vor fünf Stunden das erste Mal begegnet waren, kein vernünftiges Wort gewechselt, und dafür gab es einen einfachen Grund. Mrs. Tiffen war tot, und das schon seit einigen Jahren.

»Es wird ein milder Winter werden«, sagte die grauhaarige Frau, die Mrs. Tiffen und mir gegenübersaß, während der Zug aus dem Hauptbahnhof von Cardiff rollte. »Durchschnittlich niedrige Temperaturen von höchstens minus vierzig Grad, würde ich vermuten.«

»Geradezu mild also«, gab ich zurück, und wir beide lachten, obwohl das gar nicht lustig war – nein, nicht im Geringsten.

Nachdem ich unsere Mitreisende eine Weile studiert hatte, war ich zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei der Frau wahrscheinlich um eine Schauspielerin handelte und sie zu denen gehörte, die mit großem Einsatz die Winterspielzeit-Tradition aufrechterhielten. Zu dieser Zeit war das Publikum zwar klein, aber ausgesprochen dankbar. Bei den Sommeraufführungen musste man sich mit dem verwässerten Respekt zahlreicher Zuschauer zufriedengeben, doch im Winter konnte man sich der Begeisterung einer kleinen, aber dafür umso enthusiastischeren Menge sicher sein.

Der Zug hielt kurz an der Queen Street, dann rumpelte er langsam nordwärts. Zwar hätte er theoretisch schneller fahren können, aber in Wales gilt acht Tage vor bis acht Tage nach dem Winter eine Obergrenze von 75 dB1 für Lärmbelastungen.

1Warum, weiß niemand so genau. Angeblich hat es irgendwas mit dem St.-David’s-Tag zu tun, dem 1. März, wenn man in Wales dem Nationalheiligen, David von Menevia, gedenkt.

»Überwintern Sie schon lange?«, fragte ich, um ein bisschen Konversation zu betreiben.

»Ich habe seit drei Jahrzehnten keinen Sommer mehr gesehen«, antwortete sie lächelnd. »An meinen ersten Auftritt kann ich mich noch gut erinnern: Das war in Hartlepool, im Winter 76, im Don Hector Playhouse. Wir bildeten das Vorprogramm bei der ersten und einzigen Wintertournee der Chuckle Brothers und gaben König Lear. Es war knackevoll – beinahe dreihundert Leute. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen, außer bei der Bonzo Dog Band oder Val Doonican, aber danach wurde die Winterspielzeit zu einer Art Markenzeichen für sie, wie früher für Mott The Hoople und Richard Stilgoe oder heute für Paul Daniels und Take That.«

Nur wenige Sommerkünstler wagten eine Tour in der Kälte – der Winter erwies sich oft als harter Zuchtmeister. Was dabei alles passieren konnte, zeigte beispielsweise die Konzertreise, die Showaddywaddy 1974 durch Wales unternahmen: Erst wurde die Band in ihrem Hotel in Aberystwyth von Nachtwandlern belagert, die vor Hunger halb wahnsinnig waren, danach verloren sie die halbe Besetzung in einem Eissturm. Die nächsten zwei Monate wurde ihr Manager von »Lucky« Ned Farnesworth gefangen gehalten und erst gegen ein Lösegeld wieder freigelassen, drei Roadies verloren durch Erfrierungen ihre Füße, und der Bassist wurde angeblich vom Wintervolk geholt. Dessen ungeachtet waren die überlebenden Mitglieder der Auffassung, es sei eine ihrer erfolgreichsten Tourneen überhaupt gewesen.

»Mir war gar nicht klar gewesen, wie stark sich die Stille auf die Psyche auswirkt«, sagte meine Begleitung und unterbrach damit meinen Gedankengang, »und wie es sich anfühlt, wenn die Einsamkeit körperliche Schmerzen verursacht. Einmal habe ich sieben Wochen lang keine Seele zu Gesicht bekommen, als ich wegen der ausgedehnten Kältewelle 78 im Ledbury Playhouse gestrandet war. Es war kälter als eine Gronk-Zitze, und vier Wochen lang tobte ein Blizzard. Selbst die Schurken verkrochen sich, und die Nachtwandler froren im Wandeln ein. Als dann milderes Wetter einsetzte, hielt die Starre sie aufrecht – sie fielen erst um, als sie bis zu den Wadenbeinen aufgetaut waren. Jenen, die nicht wirklich die Berufung in sich fühlen, kann das Fehlen anderer menschlicher Wesen schon schwer zu schaffen machen.« Sie hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Aber wissen Sie, irgendwie liebe ich es trotzdem. Man gelangt zu so einem Gefühl von … Klarheit

Langzeitüberwinterer waren dafür bekannt, solche Ansichten zu äußern – eine dunkle Vorliebe für die Tristesse und die feste Überzeugung, dass die Einsamkeit sehr förderlich für die Entwicklung philosophischer Gedankengänge war. Oft genug kam es allerdings auch vor, dass gerade jene, die so wortreich die Vorzüge des Winters priesen, ebendies bis zu genau dem Augenblick taten, da sie einen überaus entschuldigenden Schrieb hinterließen, sich splitternackt auszogen und nach draußen in die Minustemperaturen spazierten. Man sprach in diesem Fall vom »Kalten Ausweg«.

»Hummer«, sagte Mrs. Tiffen zusammenhangslos, während sie weiter ihre Bouzouki spielte. Wieder »Help Yourself«, zum ungefähr zweihundertsten Mal.

Aus dem tiefen Abgrund der Hibernation zurückzukehren barg stets ein gewisses Risiko. Wenn man den minimalen synaptischen Austausch unterbrach, der die Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen garantierte, erlitt man einen neuronalen Kollaps und starb den Schlaftod. Wenn man keine Fette mehr im Körper hatte, die zu verwendbarem Zucker verstoffwechselt werden konnten, starb man den Schlaftod. Wenn die Temperatur zu schnell sank, starb man den Schlaftod. Ungezieferbefall, eine Ansammlung von Kohlendioxid, Knochenschwund durch Kalziummangel, eine bereits vor der Hibernation ausgebrochene Krankheit oder ein Dutzend anderer Komplikationen – Schlaftod.

Allerdings führte nicht jeder neuronale Kollaps unweigerlich zum Exitus. Manche Menschen, wie Mrs. Tiffen, die auf Morphenox gewesen war – es traf immer die Morphenox-Verwender – wachten wieder auf und verfügten über gerade noch genügend rudimentäre Erinnerungen, um selbstständig gehen und essen zu können. Und während die meisten Leute diese Nachtwandler als gruselige, hirntote Winterwesen betrachteten, die Hobbys wie unverständliches Brabbeln und Kannibalismus pflegten, sahen wir sie als Menschen, die bei der Rückkehr vom dunklen Abgrund der Hibernation fast alles dort zurückgelassen hatten. Normalerweise wurden sie zusammengetrieben, bevor alle erwachten, erst umgewidmet und später ausgeschlachtet, aber hin und wieder stieß man dennoch auf Nachzügler, denen es gelungen war, durch die Maschen des Netzes zu schlüpfen. Billy DeFroid hatte einmal drei Wochen nach dem Frühlingserwachen einen Nachtwandler entdeckt, der sich am Stacheldraht im Obstgarten hinter dem St. Granata verfangen hatte. Er meldete ihn den Behörden, aber erst, nachdem er ihm die Armbanduhr abgenommen hatte, die er, wie ich glaubte, bis zu seinem Tod trug.

»Neun senkrecht«, las die Schauspielerin und musste etwas lauter sprechen, um sich über Mrs. Tiffens Bouzouki Gehör zu verschaffen, »Klempner-Werkzeug mit besonderem Griff

»Ich bin nicht gut in Kreuzworträtseln«, antwortete ich ebenso laut und setzte dann hinzu: »Ich hoffe, die Bouzouki stört Sie nicht zu sehr?«

Die Schauspielerin lächelte. »Es geht. Zumindest sorgt sie dafür, dass sich keine Schwachköpfe in dieses Abteil verirren.«

Da hatte sie recht. Heute war Schlummeranfang minus Eins, der letzte volle Tag vor dem offiziellen Winterbeginn. Der Zug wimmelte von Eingemotteten und Überwinterern, die – je nach sozialem Status – auf dem Weg zu ihrem Dormitorium oder zur Arbeit waren. Zwar hatten schon mehrere andere Passagiere unser Abteil betreten, sich jedoch nach einem längeren Blick auf Mrs. Tiffens glasige Nachtwandler-Augen schnell wieder verabschiedet.

»Eigentlich mag ich Tom Jones sogar ziemlich gern«, setzte die Schauspielerin jetzt hinzu. »Spielt sie vielleicht auch ›Delilah‹ oder ›She’s A Lady‹?«

»Wäre ja schön«, sagte ich, »allein der Abwechslung halber. Tut sie aber leider nicht.«

Der Zug folgte dem zugefrorenen Fluss an Castell Coch vorbei weiter nach Norden, und als die dicken weißen Dampfwolken aus dem Schornstein der Lokomotive am Fenster vorbeidrifteten, konnte ich überall bereits Zeichen der beginnenden Winterruhe erkennen – Fensterläden wurden geschlossen und verrammelt, Fahrzeuge mit mehreren Lagen gewachsten Sackleinens abgedeckt, Flutschleusen geölt und auf Automatik eingestellt. Es war auf gewisse, kribblig-gefährliche Weise aufregend. Ursprünglich hatte ich mich vor dem Überwintern gegruselt, aber allmählich wich die Beklommenheit neugieriger Abenteuerlust. Vielleicht würde die sich im Laufe der Zeit sogar noch in Begeisterung verwandeln, aber einstweilen hatte ich ein höheres Ziel im Sinn: Überleben. Ein Drittel...

Erscheint lt. Verlag 12.11.2018
Übersetzer Kirsten Borchardt
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Early Riser
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Alternativwelt • Dystopie • "Early Riser" • eBooks • Einzelroman • Fantastik • Fantasy • Großbritannien • Jane-Eyre-Romane • Kurd Laßwitz Preis 2019
ISBN-10 3-641-23357-7 / 3641233577
ISBN-13 978-3-641-23357-0 / 9783641233570
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