64 -  Hideo Yokoyama

64 (eBook)

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2018 | 1. Auflage
768 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-104-3 (ISBN)
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Im Januar 1989 wird in Tokio ein siebenjähriges Mädchen entführt. Fünf lange Tage versuchen die verzweifelten Eltern alles, um die Forderungen des Entführers zu erfüllen. Doch alle Bemühungen sind vergebens. Der Entführer entkommt unerkannt mit dem Lösegeld, kurz darauf wird die Leiche des Mädchens gefunden. Die Ermittlungen der Polizei laufen ins Leere. Der Fall geht unter dem Aktenzeichen 64 als ungelöstes Drama in die Kriminalgeschichte Japans ein. Vierzehn Jahre später verschwindet die Tochter von Yoshinobu Mikami, dem Pressesprecher eines kleinen Polizeireviers. Mikami, selbst Gefangener eines übermächtigen Verwaltungsapparats, stößt kurz darauf auf ein geheimes Memo zu Fall 64. Getrieben von einer dunklen Ahnung beginnt er, auf eigene Faust zu ermitteln - und öffnet eine Tür, die besser für immer verschlossen geblieben wäre.

Hideo Yokoyama, geboren 1957 in Tokio, arbeitete als investigativer Journalist und gilt als der japanische Stieg Larsson. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und schrieb zehn Jahre an 64, wobei er einen Schlaganfall erlitt. 64 eroberte Platz 1 der japanischen Best- sellerliste und wurde als bester japanischer Kriminalroman des Jahres 2013 ausgezeichnet. In der Folge wurde 64 auch in Großbritannien und in den USA zu einer Sensation.

Hideo Yokoyama, geboren 1957 in Tokio, arbeitete als investigativer Journalist und gilt als der japanische Stieg Larsson. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und schrieb zehn Jahre an 64, wobei er einen Schlaganfall erlitt. 64 eroberte Platz 1 der japanischen Best- sellerliste und wurde als bester japanischer Kriminalroman des Jahres 2013 ausgezeichnet. In der Folge wurde 64 auch in Großbritannien und in den USA zu einer Sensation.

1


Schneeflocken taumelten durch das Dämmerlicht.

Der Mann stieg auf steifen Beinen aus dem Taxi. Ein Kriminaltechniker im Uniformmantel wartete schon vor dem Eingang des Polizeireviers. Er geleitete den Mann hinein, vorbei an dem Großraumbüro, in dem die diensthabenden Beamten saßen, und weiter einen spärlich beleuchteten Korridor entlang zu einer Seitentür, die auf den Personalparkplatz hinausführte.

Das Leichenschauhaus stand für sich am äußersten Rand des Geländes, ein fensterloser Bau mit Blechdach. Das leise Surren der Lüftungsanlage zeigte an, dass jemand darin lag. Der Beamte schloss die Tür auf und trat zur Seite. Mit einem achtungsvollen Blick gab er dem Mann zu verstehen, dass er draußen warten würde.

Jetzt habe ich zu beten vergessen …

Yoshinobu Mikami drückte die Tür auf. Sie quietschte in den Angeln. Seine Augen und seine Nase registrierten Lysol. Durch den Stoff seines Mantels gruben sich ihm Minakos Fingerspitzen in den Ellbogen. Grelles Licht gleißte von der Decke herab. Der hüfthohe Untersuchungstisch war mit blauem Vinyl bespannt, unter einem weißen Laken zeichnete sich ein menschlicher Körper ab. Mikami zuckte innerlich zurück bei dem Anblick: zu klein für einen Erwachsenen, aber ganz klar kein Kind mehr.

Ayumi …

Er schluckte das Wort hinunter, als könnte der bloße Klang ihres Namens den Leichnam zu dem seiner Tochter machen.

Vorsichtig zog er das Laken weg.

Haare. Stirn. Die geschlossenen Augen. Nase, Lippen … Kinn.

Das bleiche Gesicht des toten Mädchens lag vor ihnen. Im selben Moment begann die eisige Luft wieder zu zirkulieren, Minakos Stirn berührte seine Schulter. Ihr Griff um seinen Ellbogen lockerte sich.

Mikami starrte zur Decke hinauf und atmete tief aus. Es bestand keine Notwendigkeit, die Tote näher in Augenschein zu nehmen. Die Anfahrt von Präfektur D – mit Shinkansen und Taxi – hatte vier Stunden gedauert, aber die Besichtigung der Leiche war eine Sache von Sekunden. Ein junges Mädchen, ertrunken, Selbstmord. Sie hatten auf den Anruf hin keine Zeit verloren. Das Mädchen, sagte man ihnen, sei kurz nach Mittag in einem See entdeckt worden.

Ihr dunkelbraunes Haar war noch feucht. Fünfzehn oder sechzehn, viel älter konnte sie nicht sein. Sie hatte nicht lange im Wasser gelegen. Der Körper war nicht aufgedunsen, die Linie von Stirn und Wangen bis hinab zu den kindlichen Lippen ebenmäßig, so unversehrt wie bei einer Lebenden.

Welch bittere Ironie, dachte er. Was hätte Ayumi nicht darum gegeben, so anmutige Züge zu haben wie dieses Mädchen. Selbst jetzt noch, drei Monate später, konnte Mikami nicht ruhigen Bluts an den Tag zurückdenken.

Aus Ayumis Zimmer im oberen Stock war ein Krachen gekommen. Ein wilder Laut, als versuchte jemand, ein Loch in den Boden zu stampfen. Ihr Spiegel lag in Scherben. Sie selbst kauerte in der hintersten Zimmerecke, alle Lichter ausgeknipst, und schlug sich ins Gesicht, krallte sich die Nägel ins Fleisch, wie um Stücke herauszufetzen. Ich hasse mein Gesicht. Ich will sterben.

Mikami sah auf das tote Mädchen hinab und schlang die Hände ineinander. Auch sie hatte sicherlich Eltern. Sie würden hierherkommen, vielleicht heute Abend, vielleicht morgen, und sich mit der schrecklichen Wahrheit konfrontiert finden.

»Gehen wir.«

Seine Stimme klang heiser. Eine Rauheit saß ihm in der Kehle.

Minakos Blick war leer, sie machte nicht einmal den Versuch, zu nicken. Ihre geweiteten Pupillen glichen Perlen aus Glas, kein Gedanke, kein Gefühl spiegelte sich darin. Dies war nicht das erste Mal für sie beide – in den vergangenen drei Monaten waren sie schon zu zwei Toten in Ayumis Alter gerufen worden.

Draußen war der Schnee in Graupel übergegangen. Drei Gestalten, weißliche Atemwolken vor dem Gesicht, standen auf dem dunklen Parkplatz.

»Was für eine Erleichterung.«

Der blasse, gutmütige Revierleiter hielt ihm mit zaghaftem Lächeln seine Karte hin. Obwohl nicht im Dienst, war er voll uniformiert. Das Gleiche galt für den Chef der Kriminalabteilung und seinen Stellvertreter, die links und rechts von ihm Aufstellung genommen hatten. Mikami verstand es als Respektsbezeugung für den Fall, dass er das Mädchen als seine Tochter identifiziert hätte.

Er verbeugte sich tief vor ihnen. »Danke, dass Sie mich so rasch verständigt haben.«

»Keine Ursache.« Wir von der Polizei müssen zusammenhalten. Unter Auslassung sonstiger Förmlichkeiten zeigte der Revierleiter zu dem Gebäude hinüber und sagte: »Kommen Sie herein, Sie sollten sich ein wenig aufwärmen.«

Mikami spürte ein Stupsen hinten an seinem Mantel. Er drehte sich um und begegnete Minakos beschwörendem Blick. Sie wollte so schnell wie möglich von hier weg. Ihm ging es nicht anders.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber wir sollten uns auf den Weg machen. Wir müssen unseren Zug erreichen.«

»Nein, nein, Sie müssen bleiben. Wir haben Ihnen ein Hotelzimmer reserviert.«

»Wir wissen Ihre Fürsorge zu schätzen, aber wir können wirklich nicht länger bleiben. Ich muss morgen arbeiten.«

Der Blick des Revierleiters wanderte hinab zu Mikamis Karte in seinen Händen.

Hauptkommissar Yoshinobu Mikami. Pressedirektor. Polizeiverwaltung, Präsidium Präfektur D.

Mit einem Seufzer sah er wieder auf.

»Sich mit der Presse herumzuschlagen ist bestimmt nicht ganz einfach.«

»Nicht immer, nein«, sagte Mikami ausweichend. Nur zu deutlich standen ihm die erbosten Gesichter der Reporter vor Augen, die er in seinem Büro zurückgelassen hatte. Sie waren mitten in einer hitzigen Diskussion über das Format der Pressekommuniqués gewesen, als der Anruf wegen des ertrunkenen Mädchens gekommen war. Er hatte sich ohne ein Wort erhoben und den Raum verlassen und sich dadurch den Zorn der Reporter zugezogen, die über seine familiäre Situation nicht im Bilde waren: Wir sind noch nicht fertig. Sie können hier nicht einfach abhauen, Mikami!

»Sind Sie schon lange für die Medienarbeit zuständig?« Der Revierleiter fragte es teilnahmsvoll. In den Bezirksdirektionen nahm es der Vizepräsident oder -direktor mit der Presse auf, in den kleineren, ländlichen Inspektionen war es der Chef selbst, der sich den Reportern stellte.

»Erst seit dem Frühjahr. Wobei ich vor Jahren schon einmal kurz zur Pressestelle abgeordnet war.«

»Waren Sie denn von Anfang an in der Verwaltung?«

»Nein. Ich habe lange dem Kriminaluntersuchungsamt angehört.« Selbst in dieser Situation konnte er es nicht ganz ohne Stolz sagen.

Der Revierleiter nickte unsicher. Auch in den Regionalpräsidien kam es wahrscheinlich nicht oft vor, dass ein Kriminalbeamter zum Pressedirektor mutierte.

»Ich könnte mir vorstellen, so vertraut, wie Sie mit der Ermittlungsarbeit sein müssen, hört die Presse vielleicht sogar auf Sie.«

»Das möchte ich hoffen.«

»Hier haben wir auf dem Gebiet nämlich öfter Probleme, wissen Sie. Es gibt … gewisse Reporter, die schreiben, was sie wollen, egal, ob wahr oder nicht.«

Der Revierleiter schaute grimmig und gab dann, immer noch finster blickend, ein Signal in Richtung Garage. Bestürzt sah Mikami an dem schwarzen Dienstwagen des Mannes die Scheinwerfer aufflammen. Das Taxi, das er zu warten gebeten hatte, war nirgends zu sehen. Wieder spürte er das Stupsen in seinem Rücken, aber er wollte den bemühten Revierleiter ungern vor den Kopf stoßen, indem er ein neues Taxi bestellte.

Es war schon dunkel, als sie zum Bahnhof fuhren.

»Da, das ist der See«, sagte der Revierleiter vom Beifahrersitz her in beklommenem Ton, und auf der rechten Seite erschien ein noch tieferes Stück Schwärze. »Das Internet kann schon grauenvoll sein. Es gibt diese grässliche Website, ›Die Top Ten der Selbstmord-Orte‹ oder so ähnlich, da ist dieser See aufgeführt. Mit einem schaurigen Namen auch noch – ›See der Verheißung‹, wenn mich nicht alles täuscht.«

»See der Verheißung?«

»Weil er aus dem richtigen Blickwinkel wie ein Herz geformt ist. Die Website behauptet, wer sich hineinwirft, findet im nächsten Leben die wahre Liebe; das Mädchen heute war schon die Vierte. Eine ist den ganzen Weg von Tokio hergekommen. Die Presse musste unbedingt einen Bericht darüber bringen, und jetzt haben wir das Fernsehen am Hals.«

»Grauenhaft.«

»Allerdings. Es ist eine Schande, diese Geschäftemacherei mit dem Selbstmord. Wenn wir mehr Zeit hätten, Mikami, hätte ich mir von Ihnen gern ein paar Tipps geholt, wie man mit so etwas am besten umgeht.«

Und so sprach der Revierleiter immer weiter, wie um nur ja kein Schweigen aufkommen zu lassen. Mikami für seinen Teil fühlte sich nicht in der Stimmung für angeregte Diskussionen. So dankbar er dem Mann für sein Taktgefühl war, fielen seine Antworten doch immer knapper aus.

Sie hatten sich geirrt. Es war nicht Ayumi. Seine Gedanken waren dennoch nicht weniger düster als auf der Herfahrt. Zu beten, es möge nicht ihre Tochter sein. Das hieß im Klartext doch, zu beten, dass es die Tochter anderer Leute war.

Minako saß reglos neben ihm. Er konnte ihre Schulter an seinem Arm spüren. Sie fühlte sich unnatürlich zerbrechlich an.

Eine Kreuzung. Der Wagen bog ab. Direkt vor ihnen lag der hell erleuchtete Bahnhof. Der Vorplatz war großzügig und offen, mit einem einsamen Denkmal da und dort und nahezu menschenleer. Der Bau, so hatte Mikami sagen hören, war ein politisches Statussymbol; nach den tatsächlichen Fahrgastzahlen hatte dabei niemand gefragt.

»Sie brauchen nicht auszusteigen, da werden Sie ja nur nass«, sagte Mikami rasch. Er hatte seine Tür schon halb...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2018
Übersetzer Nikolaus Stingl, Sabine Roth
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte David Peace • Entführer • Entführt • Entführung • Japan • Japanisch • Japan Krimi • Krimi • Krimi Bestseller • Polizeithriller • Thriller • Tokio • ungelöst • verfilmt • Vierundsechzig
ISBN-10 3-03792-104-8 / 3037921048
ISBN-13 978-3-03792-104-3 / 9783037921043
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