Die Herkunft der anderen (eBook)
112 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00183-1 (ISBN)
Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte an der renommierten Cornell University Anglistik und hatte an der Princeton University eine Professur für afroamerikanische Literatur inne. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied», «Beloved», «Jazz» und ihr essayistisches Schaffen. Sie war Mitglied des National Council on the Arts und der American Academy of Arts and Letters. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. mit dem National Book Critics' Circle Award und dem American-Academy-and-Institute-of-Arts-and-Letters Award für Erzählliteratur. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, und 2012 zeichnete Barack Obama sie mit der Presidential Medal of Freedom aus. Toni Morrison starb am 5. August 2019.
Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte an der renommierten Cornell University Anglistik und hatte an der Princeton University eine Professur für afroamerikanische Literatur inne. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied», «Beloved», «Jazz» und ihr essayistisches Schaffen. Sie war Mitglied des National Council on the Arts und der American Academy of Arts and Letters. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. mit dem National Book Critics' Circle Award und dem American-Academy-and-Institute-of-Arts-and-Letters Award für Erzählliteratur. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, und 2012 zeichnete Barack Obama sie mit der Presidential Medal of Freedom aus. Toni Morrison starb am 5. August 2019. Thomas Piltz, geboren 1949 in München, ist freier Fotograf und Übersetzer. Er übertrug unter anderem Werke von Thomas Pynchon, Jonathan Franzen und John Updike ins Deutsche. Ausgezeichnet mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.
Vorwort von Ta-Nehisi Coates
Im Frühjahr 2016 hielt Toni Morrison an der Harvard University eine Reihe von Vorträgen über «die Literatur der Zugehörigkeit». Angesichts von Morrisons umfangreichem Werk ist es keine Überraschung, dass sie ihr Augenmerk auf den Komplex der Rassenzugehörigkeit richtete. Morrisons Vorlesungsreihe kam zu einem günstigen Zeitpunkt. Barack Obama ging in das letzte Jahr seiner zweiten Amtszeit, seine Zustimmungswerte stiegen. Die öffentliche Empörung in Gestalt der Black Lives Matter-Bewegung hatte die brutalen Übergriffe der Polizei zu einem nationalen Thema gemacht, und anders als die meisten Debatten über Rassenfragen blieb diese nicht folgenlos. Eric Holder und Loretta Lynch, die beiden schwarzen Justizminister Obamas, hatten Untersuchungskommissionen zu diversen Polizeibehörden überall im Land entsandt. Aus Ferguson, aus Chicago, aus Baltimore kamen Berichte, die den systemimmanenten Rassismus belegten, von dem immer nur gerüchteweise die Rede gewesen war. Man erwartete, dass diese entschiedene Linie unter Hillary Clinton weiterverfolgt werden würde – der ersten Kandidatin für das Präsidentenamt, die zu dem Zeitpunkt, da Morrison mit ihren Vorlesungen begann, als klare Favoritin gegenüber einem Mitbewerber galt, den die Welt für ein politisches Leichtgewicht hielt. Es sah überall so aus, als würde das Land den Ballast seiner Geschichte abwerfen und endlich einen entschiedenen Schritt auf dem steinigen Weg der moralischen Entwicklung machen.
Doch plötzlich wurde dieser Weg noch viel steiniger.
Die erste Reaktion auf den Wahlsieg von Donald Trump bestand in dem Versuch, zu bagatellisieren, was er über den Rassismus in den USA aussagte. Überall erhoben sich Stimmen, die das Ergebnis als populistischen Protest derjenigen zu erklären versuchten, die von der Wall Street und der New Economy abgehängt worden waren. Von Clinton hieß es, ihr sei die Konzentration auf «Identitätspolitik» zum Verhängnis geworden. Viele dieser Argumente trugen den Keim ihrer Widerlegung bereits in sich. Niemand vermochte je zu begründen, warum gerade jene, die die New Economy am gründlichsten abgehängt hatte – nämlich die schwarze und die hispanischstämmige Arbeiterschaft –, sich nie zu Trumps Anhängern gesellten. Überdies fanden einige der lautesten Kritiker von Clintons «Identitätspolitik» nichts dabei, selbst auf diesem Feld zu wildern. Clintons wichtigsten Konkurrenten, Senator Bernie Sanders, hörte man in der einen Woche seine Verwurzelung in der weißen Arbeiterklasse rühmen, während er seine Parteigenossen in der nächsten drängte, die Identitätspolitik hinter sich zu lassen. Nicht jede Identitätspolitik, so scheint es, ist vor ihren Verfechtern «gleich erschaffen».
Die Herkunft der anderen, das aus ihrer Vorlesungsreihe in Harvard hervorgegangene Buch von Toni Morrison, befasst sich nicht direkt mit dem Aufstieg von Donald Trump. Aber es ist unmöglich, ihre Überlegungen zur Frage der Zugehörigkeit, der Auswahl derjenigen, die sich unter dem Schutzschirm der Gesellschaft willkommen fühlen dürfen, ohne ein Bewusstsein unserer aktuellen Situation zu lesen. Morrison führt ihre Untersuchung auf dem Feld der Geschichte, widmet sich somit der ältesten und wirkmächtigsten Form von Identitätspolitik, die Amerika kennt – dem Rassismus. Es sind Vorträge über die Erschaffung des Fremden und die Errichtung von Zäunen, ein Versuch, mit den Werkzeugen von Literaturkritik, Geschichtswissenschaft und persönlicher Erinnerung zu verstehen, wie und warum es dazu kommen konnte, dass wir diese Zäune mit Hautpigmenten in Verbindung bringen.
Morrisons Buch steht in einer im Lauf des vergangenen Jahrhunderts angewachsenen Reihe von Arbeiten, die überzeugende Argumente für die These zusammengetragen haben, dass der weiße Rassismus unüberwindlich ist. Zu ihren Verbündeten gehören Sven Beckert und Edward Baptist, die auf das Gewaltpotenzial dieses Rassismus und auf die Profite hingewiesen haben, die sich mit ihm erzielen lassen; James McPherson und Eric Foner, die gezeigt haben, wie dieser Rassismus zu einem Bürgerkrieg führte und danach die Bemühungen des Landes um eine neue Ordnung unterhöhlte; Beryl Satter und Ira Katznelson, die beschrieben haben, wie der Rassismus den New Deal korrumpierte; sowie Kahlil Gibran Muhammad und Bruce Western, die gezeigt haben, wie dieser Rassismus unsere Gegenwart zu einer Ära massenhafter Inhaftierung werden ließ.
Am engsten ist Morrisons Buch jedoch wahrscheinlich mit Racecraft verwandt, der 2012 erschienenen Studie von Barbara und Karen Fields, in der argumentiert wird, dass die Amerikaner das Verbrechen des Rassismus, der überall im Land lebendig ist, mit dem Konzept der «Rasse» zu bekämpfen versucht haben, dem jedes Leben fehlt. Wenn wir von «Rasse» als einem Komplementärbegriff zu «Rassismus» sprechen, schreiben wir ihr eine reale Existenz in der natürlichen Welt zu, deren vorhersehbare Folge der Rassismus ist. Obwohl zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten überzeugend dargelegt haben, dass es sich genau umgekehrt verhält, dass erst der Rassismus das Konstrukt Rasse hervorbringt, haben die Amerikaner dies noch immer nicht verstanden. Und so reden wir von «Rassentrennung», vom «Rassenproblem», von einer «Kluft zwischen den Rassen», von «Rassenprofilen» oder «Rassenvielfalt», als hätten alle diese Konzepte ein Fundament außerhalb unserer eigenen Erfindung. Die Folgen darf man nicht unterschätzen: Wenn «Rasse» ein Werk der Gene oder Götter oder beider ist, können wir es uns leichten Herzens verzeihen, das Problem nie wirklich bearbeitet zu haben.
Morrison bezieht den weniger tröstlichen Standpunkt, dass «Rasse» nur ganz am Rande mit den Genen zu tun hat. Von dieser Prämisse ausgehend, hilft sie uns, zu verstehen, wie ein Konzept, das so wenig tragfähig ist, einen so starken Einfluss auf Millionen von Menschen gewinnen konnte. Der Schlüssel, so ihr Argument, ist das Bedürfnis, sich sein Selbstbild als Mensch zu erhalten, während man unmenschliche Taten begeht. Sie sieht sich die Aufzeichnungen des Plantagenbesitzers Thomas Thistlewood an, der in seinem Tagebuch die regelmäßigen Vergewaltigungen seiner Sklavinnen so leichthin registriert wie das Scheren der Schafe. «Zwischen seine sexuellen Aktivitäten eingefügt finden sich Notizen über Landwirtschaft, Haushaltsarbeiten, Besucher, Krankheiten usw.», zitiert Morrison, und es läuft uns kalt den Rücken hinunter. Welcher Art war die psychische Kraftanstrengung, die Thistlewood erbringen musste, bis er verhärtet genug war, um zu vergewaltigen? Es ist die psychische Anstrengung, den Nebenmenschen zu etwas anderem zu machen – sich selbst davon zu überzeugen, dass es eine irgendwie natur- und gottgegebene Trennlinie gibt zwischen dem Sklavenhalter und den Versklavten. Nach einer Schilderung der brutalen Prügelstrafen, die die versklavte Mary Prince von ihrer Herrin erdulden musste, schreibt Morrison:
Die Notwendigkeit, die Sklaven zu einer fremden Art zu erklären, scheint ein verzweifelter Versuch zu sein, sich seiner eigenen Normalität zu versichern. Der Drang, einen Unterschied zu machen zwischen denen, die zur Menschenrasse gehören, und jenen anderen, die eindeutig nichtmenschlich sind, ist so machtvoll, dass der Lichtkegel vom Objekt der Erniedrigung auf deren Urheber schwenkt. Selbst wenn man den Sklaven ein gewisses Maß an Übertreibung zugutehält, lässt einen die Empfindsamkeit der Sklavenhalter schaudern. Es ist, als riefen sie: «Ich bin keine Bestie! Ich bin keine Bestie! Ich quäle die Hilflosen nur, um zu zeigen, dass ich kein Schwächling bin.» Mitgefühl mit einem Fremden zu zeigen bringt die Gefahr mit sich, selbst zum Fremden zu werden. Es bedeutet den Verlust der so geschätzten, so sorgsam bewahrten Distinktion, wenn man seinen durch Rasse definierten Rang aufs Spiel setzt.
Morrison spricht von Sklavenhaltern und Sklaven, aber ihr Hinweis auf die Bedeutung des Rangs gilt heute genauso. In den vergangenen Jahren sind wir mit einer nicht endenden Reihe von Videos konfrontiert worden, in denen zu sehen war, wie amerikanische Polizisten schwarze Mitbürger wegen relativ harmloser Vergehen oder sogar völlig grundlos verprügeln, würgen, mit Elektroschockern traktieren oder niederschießen. Die afroamerikanische Gemeinde und auch viele andere Amerikaner waren entsetzt. Aber die Formeln der Rechtfertigung klingen vertraut wie eh und je. Der Polizist Darren Wilson gab, nachdem er Michael Brown getötet hatte, zu Protokoll, dass sich Brown, als auf ihn geschossen wurde, «aufzublähen» schien – eine Aussage, die Brown einen Zug ins Übermenschliche verleiht, ihn dadurch aber auch aus dem Bereich des Menschlichen ausgrenzt. Dass hier ein nicht mehr menschliches Wesen getötet worden war, zeigte sich auch daran, dass man Browns Leiche im Hochsommer auf dem heißen Beton schmoren ließ. Brown zu einer Art Ungeheuer zu machen bedeutet, einen Mord zu rechtfertigen und es einer Gruppe von Polizisten, die – laut dem Untersuchungsbericht des Justizministeriums – kaum mehr als eine Gangsterbande waren, zu erlauben, sich im Recht und im Vollbesitz ihrer Menschlichkeit zu fühlen.
Rassistische Entmenschlichung ist nicht nur symbolisch – sie umreißt die Grenzen der Macht. «Rasse», schreibt die Historikerin Nell Painter, «ist ein Konzept, kein Fakt». In Amerika gehört es zum Konzept von Rasse, dass weiße Haut automatisch das Risiko verringert, wie Michael Brown, Walter Scott oder Eric Garner sterben zu müssen. Und der Tod ist nichts weiter als das extremste Beispiel dessen, was es bedeutet,...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2018 |
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Übersetzer | Thomas Piltz |
Vorwort | Ta-Nehisi Coates |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Albert Camus • das Fremde • Ernest Hemingway • Flannery O'Connor • Gesellschaft • Harriet Becher-Stowe • Identität • Literatur • Literaturnobelpreis • Literaturnobelpreisträger • Nobelpreis für Literatur • Nobelpreis Literatur • Nobelpreisträger Literatur • Rasse • Rassismus • Thomas Thislewood • USA • William Faulkner |
ISBN-10 | 3-644-00183-9 / 3644001839 |
ISBN-13 | 978-3-644-00183-1 / 9783644001831 |
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