Unsere leeren Herzen (eBook)

Über Literatur
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2017 | 1. Auflage
208 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31720-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unsere leeren Herzen -  Thomas Hettche
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Warum erzählen? Thomas Hettches Essays sind ebenso genaue Diagnosen unserer krisengeschüttelten, entzauberten Moderne wie mutige Bestandsaufnahmen seines eigenen Bewusstseins und Denkens. Eine Frage bestimmt das Schreiben dieses Autors: Welche Tröstung kann Literatur für unsere leeren Herzen heute noch bieten?»Unsere leeren Herzen« setzt nach »Fahrtenbuch« und »Totenberg« Thomas Hettches essayistisch-erzählerischen Erkundungen fort, mit denen er, neben dem hochgerühmten Romanwerk, seine intellektuelle Autobiografie fortschreibt.Ohne kulturpessimistische Larmoyanz, aber im Wissen, dass sich metaphysische Sinnfragen in unseren fundamental bedrohten westlichen Gesellschaften immer dringlicher stellen, befragt Thomas Hettche in seinen Essays leidenschaftlich die Literatur nach ihrem Sinn und ihrer Zukunft. Gegen den naiven Glauben einer Abbildbarkeit der Welt, der unsere Gegenwart beherrscht und das Glücks- wie das Erkenntnisversprechen der Literatur verrät, spürt Hettche in »Unsere leeren Herzen« den Quellen eines anderen Realismus, ja einer anderen Moderne nach. Über Thomas Mann, E. T. A. Hoffmann, Marcel Proust, Rainer Maria Rilke, Wilhelm Raabe, Ernst Jünger, Karl Ove Knausgård, Thomas Brasch, Franz Fühmann, Peter Kurzeck, Georg Lukács, Wolfgang Koeppen, Immanuel Kant, Ovid, Robert Louis Stevenson, Paulus Böhmer, David Bowie, Michel Houellebecq u.v.a.

Thomas Hettche wurde in einem Dorf am Rande des Vogelsbergs geboren und lebt in Berlin. Seine Essays und Romane, darunter »Der Fall Arbogast« (2001), »Die Liebe der Väter« (2010), »Totenberg« (2012) und »Pfaueninsel« (2014) wurden in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Premio Grinzane Cavour, dem Wilhelm-Raabe-Preis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Josef-Breitbach-Preis. Sein letzter Roman »Herzfaden« (2020) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Thomas Hettche wurde in einem Dorf am Rande des Vogelsbergs geboren und lebt in Berlin. Seine Essays und Romane, darunter »Der Fall Arbogast« (2001), »Die Liebe der Väter« (2010), »Totenberg« (2012) und »Pfaueninsel« (2014) wurden in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Premio Grinzane Cavour, dem Wilhelm-Raabe-Preis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Josef-Breitbach-Preis. Sein letzter Roman »Herzfaden« (2020) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Realismus


Wir leben inmitten einer Revolution, deren Tragweite einzuschätzen uns deshalb so schwerfällt, weil wir auf die Wahrnehmung katastrophaler Umstürze eingerichtet sind, nicht auf langsame Veränderungen. Ereignete sich der Umbruch unserer Gegenwart in einer uns gemäßen Taktung, dann sähen wir: Massen stürmen durch die Straßen, Brände brechen aus, Fenster zersplittern, Türen werden aus den Angeln gehoben, Explosionen sind zu hören. Keine Zeit, die Zerstörung zu betrauern. Alles hängt davon ab, schnell zu verstehen, welche neuen Sichtachsen und Perspektiven sich dadurch ergeben, daß die Paläste unserer Vergangenheit zusammenstürzen. Benommen steige ich die trümmerübersäten Stufen zum Literaturmuseum hinauf, an dem ich mich – wo sonst? – gerade befinde.

Katastrophe ist immer Gegenwart. Was ihr als erstes zum Opfer fällt, ist Historie und Wissenschaft, es zerklirren die Sammlungsschränke der Archive, und die Exponate rollen über den Boden, es wird wieder freigesetzt, was für alle Zeiten geordnet schien, und erneut muß sich erweisen, was wozu taugt. Manches kann man essen, manches verheizen. Manches kann man lesen, als wäre es gerade eben erst geschrieben. Ich gehe die zerbrochenen Vitrinen entlang und trete vorsichtig auf die knirschenden Glasscherben unter meinen Füßen, während man draußen nach dem Fleisch der Giraffen aus dem aufgelassenen Zoo schreit. Schließlich bleibe ich stehen, greife durch das zersplitterte Glas und ziehe probeweise Wilhelm Raabe hervor. Muß ihn erst losnesteln von den Nadeln, mit denen die Literaturgeschichte ihn angeheftet hat neben den Erläuterungstafeln zum Realismus, dicht bei den Häuten von Keller, Fontane und Freytag. Ich schüttle den staubigen Balg, schüttle ihn auf wie ein Kissen, und im Nu gewinnt er Volumen. Ich stelle ihn auf seine Füße, und siehe da: Er lebt.

Und? Kann er uns von Nutzen sein in unserer Zeitlupenkatastrophe? Raabe, der geboren wurde, als Goethe noch lebte, und im selben Jahr starb, als Rilkes Malte Laurids Brigge erschien?

Es ähnelt seine Epoche in vielem der unseren, 1848 gleicht 1968, bald nach dem großen Aufbruch war die politische Utopie ausgeträumt. Der Fortschritt, den man erkämpft hatte, führte zu einem ökonomischen und gesellschaftlichen Umbau, den man so nicht gewollt hatte und der schnell auch das Feld der Literatur erreichte: Verlage, Zeitschriften – Westermanns Monatshefte, Die Gartenlaube –, Feuilletons, Lesevereine, Büchereien, günstige Volksausgaben der Klassiker in der Reclamschen Groschenbibliothek, wie Raabe spottete, alles boomte! Das Ergebnis aber war keineswegs größere Bildung, sondern die Ausbildung eines Massengeschmacks, der nach immer neuem Lesefutter verlangte. Die erste Generation von Autoren konnte eine ökonomische Existenz als freie Schriftsteller führen. Unterhalt gegen Unterhaltung nannte Wilhelm Raabe das, der dazugehörte. Früh erfolgreich, kam er zeitweise aus der Mode, setzte sich dann jedoch durch, auch ökonomisch.

Daß er heute weitgehend vergessen ist, hat mit einer einschneidenden Neubewertung der Literatur seiner Zeit zu tun. Bezeichnend, wie sich etwa Georg Lukács in einem Aufsatz von 1909 darüber mokierte, Mörike sei Pfarrer, Storm Richter gewesen und Keller Staatsschreiber, es sei in ihren Leben also all das geordnet, woraus für andere die unlösbare Tragik des Verhältnisses von Kunst und Leben entstand. Dieses vermeintliche Philistertum war in den sozialen Erschütterungen des neuen Jahrhunderts plötzlich démodé, lieber schwärmte man für den Furor Flauberts, die Christusgestalt Dostojewski, den heiligen Trinker Poe, entdeckte Hölderlin, Büchner und Kleist wieder, das Brennen der Kerze an beiden Enden. Und dabei ist es geblieben. Die Genieästhetik der Goethezeit im jeweils neuen Gewand ist noch immer das Paradigma, innerhalb dessen wir Literatur lesen und bewerten.

Heute scheint dies zweifelhafter denn je. Zum einen gibt es die bürgerliche Welt, gegen die sich die verschiedenen Avantgarden richteten, nicht mehr. Durch ihre geschleiften Bastionen bricht zur Zeit die Technik und räumt ab, was noch übrig war. Zum andern haftete jener Vorliebe für die Tragik des Künstlers immer schon etwas Vampirhaftes an, als ob sein Leid vorrangig dazu diene, die eigene Fühllosigkeit zu sublimieren, was sich noch verstärkt im digitalen Raum, den die aktuelle Revolution errichtet. Wobei die jeweiligen Leiden der Künstler, über die ihre Werke einzig diskutiert werden, wie Moden wechseln. Zur Zeit importiert man das Leid gern und besieht sich Folterspuren an Leib und Seele, die in anderen Kulturkreisen zugefügt werden. Voyeurismus, notdürftig gerechtfertigt durch das Pathos des aufklärerischen, kritischen Diskurses seit nunmehr über hundert Jahren.

Das Dispositiv dieses Diskurses, der unser Denken bestimmt, ist ein großes Nicht mehr. Doch glauben wir sie tatsächlich noch, diese ewige Auflösungsgeschichte, so lange erzählt, und immer, als wäre es ein böses Märchen, zu einem nie eingetretenen guten Ende hin? Auflösung der Tradition, Auflösung der künstlerischen Formen, Auflösung der bürgerlichen Öffentlichkeit – und all das bejaht im Zeichen der Avantgarde? Hilft uns das in einer Zeit, in der es längst nicht mehr darum gehen kann, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, die in den Erschütterungen der Gegenwart gerade dabei sind einzustürzen? Könnte nicht vielleicht jenes große Nicht mehr genauso gut wieder ein Noch nicht sein? Zumindest in der Literatur? Haben wir uns nicht viel zu sehr daran gewöhnt, immer nur als Verfallsgeschichte zu sehen, was doch mit Fug und Recht auch ein Werdendes genannt werden könnte? Raabes Schreiben, hieße das, verstanden als utopisches Projekt.

Noch immer steht er vor mir in den knirschenden Scherben des Sammlungsschrankes, in denen er eingesperrt hing, befreit durch die Katastrophe unserer Gegenwart, die lärmend draußen tobt. Zögernd betrachte ich ihn. Weshalb gerade Raabe?

Zunächst, weil er den Dichterhabitus konsequent verschmähte. Er schien ihm im neuen massenmedialen System der Literaturproduktion überlebt, heftig polemisierte er gegen die Literatur-Unsterblichkeitsansprüche der Kollegen und setzte sein Selbstverständnis als Handwerker dagegen, inklusive Dienstjubiläen und Eintritt in den Ruhestand. Man hat das als Philistertum denunziert. Tatsächlich aber ist Raabes Weigerung, über sich selbst Auskunft zu geben, atemberaubend aktuell. Er verzichtete auf ein Schicksal, das ihn im Zusammenklang mit seinen Werken interessant gemacht hätte, weil, wie er die Aufgabe des Schriftstellers begriff, er keines mehr haben konnte. Sein Lebensradius, von der Arbeit bestimmt, war klein, seine Tagebücher sind unergiebig, es gibt keine Leitartikel und Bekenntnistexte von ihm. Was er über sich zu sagen hatte, hat er in seiner Literatur gesagt.

In einer lakonischen Notiz von 1871 heißt es, er hoffe, es beginne nach abgeschlossenem Frieden eine sehr günstige Zeit für die »Romanschreiber«. Diese Hoffnung bringt eine ästhetische Haltung zum Ausdruck, die nicht das Leid der Menschen bejaht, weil es bessere Kunst hervorbringe. Stattdessen wünscht Raabe den Menschen Frieden und also die Freiheit von äußerlichen Nöten, die es braucht, Literatur um ihrer selbst willen lesen zu können. Darauf richtete sich sein permanentes Nachdenken über die Wirkung seiner Texte. Raabe nahm den ganz unterschiedlichen Bildungshintergrund seiner großen Leserschaft stets ernster als jene, die wie Storm ihr Heil in der Kanonisierung suchten. Raabes Weg war ein anderer. Seine Romane sollten, vor allem die späteren, ebenso eine naive wie eine komplexe Lektüre ermöglichen, darauf richtete sich sein ganzer Ehrgeiz. Daß nur wenige es merken werden, nämlich die Komplexität der Struktur, rühmte er stolz an seinem Stopfkuchen.

Sein ganz konkretes Erzählen, das thematisch provinziell, biedermeierlich anmutet, löst sich bei genauerem Hinsehen stets auf, indem Raabe seine Geschichten durch vielfältige Perspektivwechsel und durch ein Zitatgewebe, aus dem die Romanräume geschichtet zu sein scheinen, immer wieder brach. Wobei gerade die überschaubaren Räume ihm seine charakteristische Beweglichkeit in der Zeit ermöglichten, sein Springen vor und zurück im Erzählen, als wäre die Geschichte der Faden, der die verschiedenen Bedeutungsebenen wie Stoffe miteinander vernäht, Schicht um Schicht, dabei eine Unzahl von Anspielungen, Bezügen, Zitaten aller Gattungen und Textformen einarbeitend, von literarischen Texten über Märchen und Zeitungsmeldungen bis zu zeitgenössisch trivialen Kriminal- und Kolonialgeschichten.

Die Raabeforschung liest derlei gemeinhin als Zerstücklung, Fragment oder Bruch und schlägt den Autor wahlweise mit Jean Paul der Romantik oder mit Bachtin einer subversiven Literatur des Grotesken zu. Ich halte dies für zutiefst ideologisch: Einzig der Perspektive des Nicht mehr wird Modernität zuerkannt. Es ist offensichtlich, wie sehr sich dieser Schriftsteller, statt um die Gestaltung eines Zerbrechenden, um ein sich Fügendes bemüht hat, nicht um Auflösung, sondern um Vermittlung. Raabes Kunst liegt gerade darin, den Eindruck zu erwecken, als gäbe es keine Hierarchisierung all dieser Binnengeschichten und Zitate, sondern alles wäre immer schon da, Teil eines allgemeinen Erzählraums, dem der Leser wie der Roman, den er gerade liest, gleichermaßen und gleichberechtigt angehören. Ganz so, als machte er auf diese Weise den Ort seiner Romane, die als...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2017
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Essay-Sammlung • intellektuelle Autobiografie • Leinenband • Literatur-Geschichte • Literatur-Theorie • Marcel Proust • Pfaueninsel • Thomas Mann • Totenberg • Wilhelm Raabe
ISBN-10 3-462-31720-2 / 3462317202
ISBN-13 978-3-462-31720-6 / 9783462317206
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