Der Geschmack des Ostens (eBook)
214 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1371-6 (ISBN)
Man ist, was man ißt.
Broiler, Letscho und Bambina: Jutta Voigt sucht nach dem Geschmack des Ostens, in dem sich Kultur und Alltag eines ganzen Landes spiegeln. Die DDR ist untergegangen und mit ihr die Durchreicheküchen der Plattenbauten, die Kübel der Kantinen und die herrschsüchtigen Kellner der HO-Gaststätten. Doch Spreewaldgurken, Hallorenkugeln und Rotkäppchensekt erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit. Subjektiv und voll erfrischender Ironie erinnert Jutta Voigt an Grilletta und Goldbroiler, an Westapfelsinen und Sarotti-Mohr. Als Zeitzeugin und Tischgenossin beschreibt sie das Einkaufsverhalten, herkömmliche Produkte sowie die untergegangene Restaurantkultur zwischen Kap Arkona und Suhl.
Eine Reise durch die Kulinaria der DDR: erhellend und ganz und gar nicht geschmacklos.
Jutta Voigt, geboren in Berlin, Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität, Redakteurin, Essayistin und Kolumnistin bei den Wochenzeitungen Sonntag, Freitag, Wochenpost und Zeit. 2000 erhielt sie den Theodor-Wolff-Preis.
Bei Aufbau sind bisher erschienen: 'Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR', 'Westbesuch. Vom Leben in den Zeiten der Sehnsucht', 'Spätvorstellung. Von den Abenteuern des Älterwerdens', 'Stierblutjahre. Die Boheme des Ostens' und 'Verzweiflung und Verbrechen. Menschen vor Gericht'.
Entrée
Die Kochtöpfe sind noch warm, die Spuren noch frisch. Zwei Jahrzehnte sind alles oder nichts im Weltenlauf, manch ein Geschmack wirkt lange nach. Wie schmeckte die DDR? Nach Gleichheit und Schnitzel mit Mischgemüse? Nach Geborgenheit zwischen Schweinefleisch und Schnaps? Nach Anpassung und Sättigungsbeilage oder nach Chateaubriand und Privilegien? Halbvoll noch sind die Teller vom Essen, das wir stehenließen, weil wir hastig vom Tisch aufstanden und hinausstürzten, die unverhoffte Freiheit zu begrüßen. Adieu, ihr Hackbraten, Würzfleische, Soljankas, ihr Eisbeine und Jungschweinrücken, ihr Jägerschnitzel und Thüringer Klöße. Mach’s gut, Kaßlerrolle, tschüs, Goldbroiler! Nimmermehr Schlangestehen, Schluß mit den Wechselbädern zwischen Verzicht und Völlerei.
Wurde jemals ein Land so komplett und freiwillig verlassen wie die DDR? Ein Untergang mit Mann und Maus und Einverständnis. Der Untergang vor dem Untergang, der Niedergang vor dem Verderben. Schnellkochtöpfe, Emaillekasserollen und Küchenmaschinen wurden auf den Müll der Geschichte geworfen, das Toastbrot aus dem Zentralinstitut für Ernährung in Potsdam-Rehbrücke ebenfalls; die Esser machten sich nicht einmal die Mühe, die Teller abzuwaschen.
In den Küchen von Pompeji hatte man die Knochen verschiedener Tiere als Reste in den Pfannen und in der Kohlenasche gefunden, an die Wand seines Hauses hatte der Gastgeber geschrieben: »Bemüh dich, keine Flecken auf unser Leinentischtuch zu machen!« So schlagen Zeugnisse vom Essen Brücken über Jahrtausende hinweg. Auf der griechischen Insel Santorin besichtigte ich die Überreste einer untergegangenen Stadt, ich sah die Milchkannen mit den Brustwarzen, aus denen man damals trank, ich sah verkohlte Reste von Mehl und gelben Erbsen in unversehrten Tontöpfen. Vor dreitausendfünfhundert Jahren hatte ein Vulkan die Insel gesprengt und im Meer versenkt. Als bleicher Bimsstein das Land bedeckte wie ein Leichentuch, waren seine Bewohner, gewarnt durch ein Erdbeben, längst über alle Berge. Sie haben den schwarzen Himmel nicht mehr gesehen, nicht das tagelange Dunkel und nicht die von der glühenden Asche verbrannten Pflanzen. Keine Toten, nur das Skelett eines Schweins hat man gefunden am alten Ort. Ich konnte die Mauern der untergegangenen Stadt Akrotiri sehen, den Verlauf der schmalen Straßen und die Plätze, auf denen sich die Bewohner am Abend trafen. Sie badeten in Kultbassins und verfügten über Aborte mit Abwasserleitungen. Doch es waren die Essensreste, die mich faszinierten auf der fremden, fernen Insel, die dreieinhalbtausend Jahre alten Gefäße mit Spuren von Gerste darin. Du bist, was du ißt, oder: Sage mir, was du ißt, und ich sage dir, wer du bist. Wer waren sie? Wer waren wir?
Im Jahr 1986 aß jeder DDR-Bürger 96 Kilo Fleisch, 43 Kilo Zucker, 15,7 Kilo Butter und 307 Eier, als Verbraucher waren wir Weltspitze. Wir waren Vielfraße. Wir aßen aus Lust und Frust, aus Begeisterung und Verzweiflung, aus Langeweile und der chronischen Angst, nicht genug zu kriegen. Reich sei nicht derjenige, der viel besitzt, reich sei derjenige, der viel begehrt, besagt eine ambivalente Sentenz – wir waren Nimmersatte. Wir wollten alles. Viel essen, viel trinken, niedrige Preise, billige Wohnungen. Immer Arbeit, aber nicht mehr als unbedingt notwendig, viel Freizeit und jederzeit Bananen, Milka-Schokolade und Jacobs Krönung. Dazu Freiheit, Gleichheit, Früchtejoghurt. Wir haben gegessen, weil es billig war und weil man sanft wurde vom vielen Essen. Wir haben mit dem Frust nach der Speckseite geworfen. Betäubung, Rückführung in den Zustand des Nuckelns an der Mutterbrust bis zum Eindösen. Wir gaben unser Geld für Lebensmittel aus, weil wir anderes nur mit viel Warten und Mühe oder gar nicht kriegten, Videos, Autos, Geschirrspüler; die Kaufkraft war immer höher als das Warenangebot. Weil wir nicht nach Mallorca konnten und nicht an den Gardasee, haben die Hungrigsten von uns an so manchem lauen Grillabend in Lauben, Datschen und auf Balkons jeder drei Bratwürste und zwei Scheiben Schweinekamm verzehrt und dazu dreihundert Gramm sowjetischen Wodka getrunken oder den polnischen mit dem Grashalm, Zubrowka, so wurden wir satt und zufrieden. Zeit zum Essen hatten wir ja, Zeitwohlstand war eine der schönsten Nebenwirkungen des Staates DDR, wir nahmen ihn mit großer Selbstverständlichkeit entgegen.
Ein ehemaliger Maurer erinnert sich begeistert an Nachtschichten, während deren er riesige Eisbeine mit Sauerkohl verzehrte, Bauarbeiterversorgung nannte sich die Völlerei. »Was haben wir für Kaßlerrollen gegessen, und was haben wir gelacht!« ist der Kernsatz ostalgischen Bedauerns eines Drehbuchautors, der nicht glücklich wurde im Westen. Neulich habe ich in einem frisch eröffneten rheinischen Lokal das erste Mal nach der Zeitenwende wieder Kaßler gegessen, es schmeckte, als sei ich zu Besuch in dem verschwundenen Land, in dem ich geboren wurde.
Die deutsche Küche der DDR war abgeschirmt gegen Einflüsse von außen, es sei denn, es handelte sich um Pilze aus Polen, eine Suppe aus Rußland oder Buletten vom Balkan, die unsere an Nahrhaftigkeit noch übertrafen. Die kalorienschwere DDR-Küche machte uns zu braven Bürgern, beschäftigt mit Ranschaffen und Verdauen. Ein voller Bauch rebelliert nicht gern – das wußten Partei und Regierung. Sie wußten auch, daß vom Essen ihre Macht abhing, Sein oder Nichtsein, satt oder weg. Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zum Essen, bitte sehr – es macht ihn ein Geschwätz nicht satt, das schafft kein Essen her. Die Versorgung, ihre Lücken und Mängel, ihre Engpässe und Ausfälle waren vierzig Jahre lang Dauerthema in den Sitzungen von ZK und Politbüro, wo man über Versorgungslücken beim Würfelzucker sprach wie über Weltereignisse. Da gab es die Brot-Krise und die Kaffee-Krise und die Fleisch-Krise und die Südfrüchte-Krise, die Butter-Krise und die Milch-Krise, die Fisch-Kartoffel-Kakao-und-Zwiebel-Krise. Die »planmäßige Verbesserung der Versorgung der DDR-Bevölkerung mit Speisen und Getränken« ließ sich so lange Zeit, bis die Zeit abgelaufen war. »Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben« – »Hoffentlich nicht!« schrieb jemand unter die Losung. Dieses Land ist an seinen Vorzügen zugrunde gegangen, sagt eine Freundin immer, das ist nicht von der Hand zu weisen.
»Die Erinnerung ist von einer Fleckigkeit, als sei der Film in die Entwicklerflüssigkeit nicht eingetaucht, sondern nur mit ihr besprenkelt worden«, schrieb John Updike. Marcel Proust erfuhr, wie der Geschmack jenes muschelähnlichen, ovalen Sandtörtchens, Petite Madeleine genannt, in ihm die Kindheit wiederauferstehen ließ und ein Glücksgefühl ihn durchströmte: »Aber wenn von einer früheren Vergangenheit nichts existiert nach dem Ableben der Personen, dem Untergang der Dinge, so werden allein, zerbrechlicher, aber lebendiger, immateriell und doch haltbar, beständig und treu Geruch und Geschmack noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen …«
Sich an den Geschmack von gestern zu erinnern bedeutet, sich an einen Tisch zu setzen mit denen, die wir waren und nicht mehr sein wollten, ein Resteessen mit der Vergangenheit.
Der Geschmack des Ostens. Manchen von uns liegt er auf der Zunge wie angebrannter Brei, andere jagen ihm nach wie Peter Schlemihl seinem verkauften Schatten. Sie kramen in den Regalen der Discountkette Netto nach Hansa-Keks und Bambina-Schokolade, kochen Makkaroni mit gebratener Jagdwurst und Tomatensauce und mischen sich in der Kneipe ein Herrengedeck zusammen. Es ist das Aroma ihrer Kindheit, ihrer Jugend, ihrer besten Jahre, das sie da riechen und schmecken. Erste Küsse, Parteiverfahren, Weltfestspiele – der Osten hatte einen bitteren Beigeschmack und hinterließ doch eine Spur von Restsüße.
Mein Debüt als Essensteilnehmerin fand kurz vor Gründung der DDR statt, bis dahin war das Hungern Thema, nicht das Essen. Das erste Kuchenbrötchen meines Lebens aus dem ersten HO-Laden im Herbst 1948 gleich neben dem Haus, in dem ich wohnte, öffnete mir die Tür zum Paradies des Wohlgeschmacks. Es war mit »Auszugmehl 405, Hartweizen« aus der Sowjetunion gebacken und kostete eine Mark fünfzig. Es war weiß, weich und süß, es schmeckte nach Neuanfang und Weltfrieden. Der Laden ist schmal gewesen, dunkel und lang, er hatte vergitterte Fenster. In der Erinnerung schiebt sich über das unvergessene Kuchenbrötchen der HO dieses Ding von McDonald’s, obwohl ich das nur ein einziges Mal gegessen habe. Irgendwas ist ähnlich an den Gebäcken, vielleicht die mutterbrustähnliche Form, das leicht Unbestimmte in Geschmack und Konsistenz.
Das Kuchenbrötchen muß 1950 ähnlich populär gewesen sein wie heute der Hamburger. »Ganz Berlin lechzt nach den süßen Kuchenbrötchen der HO-Läden des Ostsektors«, schrieb im Dezember 1949 Herr F. aus Berlin-Wedding an seinen Freund in Hameln. Ein Kuchenbrötchen-Lied wurde gereimt, ein Marsch-Foxtrott zum Ruhme der HO:
Ich versprach auch Vatern, keinen Tag zu schwänzen
Nur die Arbeit, sagt er, bringt uns was ins Haus,
Denn je reicher im HO die Fenster glänzen,
Um so reicher sieht’s bei uns zu Hause aus.
Kiekt euch meine Wangen an – so frische, rote!
Jetzt kapier ich, was ich damals nicht verstand.
Merkste nun? Vom kleinen, süßen Kuchenbrote
Zogen Glück und Wohlstand übers ganze Land.
Wunderbar würde das Leben werden, süß wie ein Kuchenbrötchen. Keiner sollte mehr hungern und frieren, keiner obdachlos, keiner arbeitslos sein. Und alle sollten sich satt essen. »In Paris oder in New York gibt es heute Restaurants ›Zum Epikur‹ – gemeint ist...
Erscheint lt. Verlag | 17.4.2017 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Sachbuch/Ratgeber ► Essen / Trinken ► Allgemeines / Lexika / Tabellen | |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Alltag • Bericht • Broiler • DDR • Deutsche Demokratische Republik • Erfahrungen • Erinnerungen • Essen • Gaststätte • Geschichte • Gesellschaft • HO • Humor • Journalismus • Jutta Voigt • Kultur • Letscho • Reportage • Soljanka • Voigt |
ISBN-10 | 3-8412-1371-5 / 3841213715 |
ISBN-13 | 978-3-8412-1371-6 / 9783841213716 |
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Größe: 5,4 MB
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