Das Dritte Reich des Traums (eBook)

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2016 | 1. Auflage
173 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74763-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Dritte Reich des Traums - Charlotte Beradt
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Charlotte Beradt, die als Journalistin in Berlin arbeitete, wurde ab 1933 nicht mehr beschäftigt, floh 1939 nach England und 1940 weiter nach New York. Charlotte Beradt sammelte Träume, die zwischen 1933 und 1939 geträumt wurden, und befragte dazu Menschen ihrer Umgebung: Schneiderin, Nachbar, Tante, Milchmann, den befreundeten Unternehmer, den Arzt ... Fünfzig 'von der Diktatur diktierte Träume' hat sie in ihren 1966 erstmals erschienenen Klassiker der Traumdokumentation aufgenommen. Eine erste Auswahl, 1943 in einer amerikanischen Zeitschrift erschienen, begann mit den Sätzen:

'Ich erwachte schweißgebadet, mit zusammengebissenen Zähnen. Wieder, wie in zahllosen Nächten davor, war ich in einem Traum von einem Ort zum nächsten und immer weiter gejagt worden - angeschossen, gefoltert, skalpiert. Aber in dieser Nacht kam mir in den Sinn, daß ich wohl nicht die einzige unter Abertausenden war, die durch die Diktatur zu solchen Träumen verurteilt wurde. Was meine Träume beherrschte, mußte auch ihre beherrschen - atemlose Flucht über Felder, Versteck auf schwindelerregend hohen Türmen, Sichverkriechen in Gräbern, die SS-Männer stets auf den Fersen. Ich begann, andere Leute nach ihren Träumen zu befragen.'



<p>Charlotte Beradt, Journalistin und Autorin, geboren 1907 in Forst (Lausitz), gestorben 1986 in New York. Gab Schriften von Rosa Luxemburg und Paul Levi heraus, veröffentlichte 1969 die Biographie <em>Paul Levi. Ein demokratischer Sozialist in der Weimarer Republik.</em></p>

Charlotte Beradt, Journalistin und Autorin, geboren 1907 in Forst (Lausitz), gestorben 1986 in New York. Gab Schriften von Rosa Luxemburg und Paul Levi heraus, veröffentlichte 1969 die Biographie Paul Levi. Ein demokratischer Sozialist in der Weimarer Republik. Jan Philipp Reemtsma, geboren 1952 in Bonn, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg und geschäftsführender Vorstand der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. 1981 gründete er die Arno-Schmidt-Stiftung, deren Vorstand er bis heute ist. Er ist Mitherausgeber der »Bargfelder Ausgabe« des Gesamtwerkes von Arno Schmidt. Er lebt in Hamburg.

2. Kapitel
Der Umbau der Privatperson oder
»Das wandlose Leben«


I will show you fear in a handful of dust.17

T. ‌S. Eliot

 

Totale Herrschaft wird wahrhaft total in dem Augenblick –
und sie pflegt sich dieser Leistung auch immer gebührend zu rühmen –,
wenn sie das privatgesellschaftliche Leben der ihr Unterworfenen
in das eiserne Band des Terrors spannt.18

Hannah Arendt








Verordnungen, Bestimmungen, Gesetze – Vorgeschriebenes und Vorgedachtes – die augenfälligsten Realitäten des totalen Regimes dringen als erste in die Träume der Regierten; der bürokratische Behörden- und Beamtenapparat ist ein grotesk makabrer Traumheld par excellence.

Ein Arzt, 45jährig, träumte 1934, nach einem im Dritten Reich verbrachten Jahr:

 

»Während ich mich nach der Sprechstunde, etwa gegen neun Uhr abends, mit einem Buch über Matthias Grünewald friedlich auf dem Sofa ausstrecken will, wird mein Zimmer, meine Wohnung plötzlich wandlos. Ich sehe mich entsetzt um, alle Wohnungen, soweit das Auge reicht, haben keine Wände mehr. Ich höre einen Lautsprecher brüllen: ›Laut Erlaß zur Abschaffung von Wänden vom 17. des Monats.‹«

 

Dieser Arzt hatte, tief beeindruckt von seinem Traum, ihn am Morgen von sich aus aufgeschrieben (und daraufhin übrigens geträumt, er werde beschuldigt, Träume aufzuschreiben); er hatte darüber nachgedacht und den Anlaß seines Traums gefunden, der sehr aufschlußreich war. Der zugrundeliegende kleine Tagesvorgang, das persönliche Bezugsmoment, macht in diesem Fall – wie in anderen Fällen – das deutliche Muster des zeitgeschichtlichen Bezugs, das sich im Traum selbst abzeichnet, noch deutlicher:

 

»Der Blockwart war gekommen mit der Frage, warum ich nicht geflaggt habe. Ich hatte ihn beruhigt und ihm einen Schnaps eingegossen, aber gedacht: in meinen vier Wänden … in meinen vier Wänden. – Ich habe keineswegs ein Buch über Grünewald gelesen, besitze gar kein Buch über Grünewald, habe aber offenbar den Isenheimer Altar,19 wie es oft geschieht, als Symbol für das reinste Deutschtum benutzt. Alle meine Traumzutaten und Extempores sind politisch, obwohl ich kein politischer Mensch bin.«

 

»Das wandlose Leben« kann nicht nur als Überschrift für dieses Kapitel dienen – die Traumformulierung des Arztes weitet die Zwangslage des einzelnen, der sich nicht kollektivieren lassen will, so vorbildlich ins Allgemeine aus, daß sie ebenso einer wissenschaftlichen Arbeit wie einem Roman über die menschliche Existenz unter dem Totalitarismus als Titel dienen könnte.

Und der Arzt sah nicht nur die condition humaine in der totalen Welt ganz richtig, er hat auch im Traum die einzige Rückzugsmöglichkeit aus dem »wandlosen Leben«, die einzige wahre Möglichkeit der »inneren Emigration« genauso klar gesehen, wenn er träumte:

 

»Ich lebe auf dem Meeresgrund, um unsichtbar zu bleiben, nachdem die Wohnungen öffentlich geworden sind.«

 

Eine Frau, gegen dreißig, ohne Beruf, verwöhnt, liberal, kultiviert, hatte schon 1933 einen Traum, in dem sie, wie der Arzt, eine existentielle Aussage über die totalitäre Welt machte. Sie träumte:

 

»Eine Tafel ist als Ersatz für die verbotenen Straßenschilder an jeder Ecke aufgestellt und verkündet in weißen Buchstaben auf schwarzem Grunde zwanzig Worte, die auszusprechen dem Volk verboten ist. Als erstes das Wort ›Lord‹ – das habe ich wohl aus Vorsicht auf englisch, nicht auf deutsch geträumt. Die nachfolgenden habe ich vergessen oder wahrscheinlich überhaupt nicht geträumt, außer dem letzten: das war ›Ich‹.«

»Das hätte man«, setzte sie der Erzählung des Traums spontan hinzu, »in alter Zeit wohl eine Vision genannt.«

 

In der Tat: Vision bedeutet Sehen, und der leere Raum zwischen Gottlosigkeit und Ichlosigkeit, den die totalen Regierungen des zwanzigsten Jahrhunderts als ihr Kraftfeld benutzen, ist unheimlich scharf gesehen in dieser radikalen Sprachregelung, deren erstes Gebot lautet: Du sollst den Namen des Herrn nicht aussprechen, und deren letztes »Ich« zu sagen verbietet. Parabolisch verhüllt werden Grundfragen der Dialektik zwischen Individuum und Zwangsstaat enthüllt. Dazu kommen die Details, die den Traum ausstatten: die Tafel, die die Träumerin aufstellt wie Geßlers Hut20 anstelle der verbotenen Straßenschilder, mit deren Entfernung sie die Direktionslosigkeit des Menschen auf dem Wege von der Person zur Funktion charakterisiert. Und durch die einfache Methode, statt »Gott« das ihr ganz ungeläufige Wort »Lord« auf ihre Verbotstafel hinzuträumen, erreicht sie, daß gleichzeitig alles Ausgezeichnete, Hochstehende, Edle mitverboten ist.

Diese Frau, bei der, wie sie selbst lachend kommentierte, »Ich« groß geschrieben wurde, hat in den Monaten April bis September 1933 einen Zyklus von Träumen dieser Art produziert, keine Variationen desselben Traums wie der Fabrikbesitzer, sondern ganz verschiedene Bearbeitungen desselben Grundthemas. Sie, eine typische Privatperson, bewährte sich im Traum wie Heraklits Sibylle,21 die »mit ihrer Stimme durch tausend Jahre«22 reicht – sie reichte in ihren Träumen weniger Monate weit durch das tausendjährige Reich: sie spürte Strömungen, erkannte Zusammenhänge, verdeutlichte Undeutliches und pendelte so träumend zwischen dem einfach entlarvten Alltag und den Geheimnissen, die unter der sichtbaren Schicht lagen. Kurz, sie destillierte im Traum die Essenz einer Entwicklung, die zu öffentlichen Katastrophen und zum Verlust ihrer persönlichen Welt führen mußte, und drückte das alles mittels eines Hin und Her zwischen Tragödie und Farce, Realismus und Surrealismus höchst artikuliert aus. Die objektive Richtigkeit ihrer Traumcharaktere und Handlungen, ihrer Details und Nuancen hat sich erwiesen.

Ihr zweiter Traum, gleich nach dem von Gott und Ich, handelte vom Teufel und Menschen. Er lautete:

 

»Ich sitze, sehr schön angezogen und frisiert, in einem neuen Kleid in einer Loge im Opernhaus, das riesig ist, viele viele Ränge, genieße viele bewundernde Blicke. Man gibt meine Lieblingsoper, ›Die Zauberflöte‹. Nach der Stelle ›Das ist der Teufel sicherlich‹23 kommt ein Trupp Polizei hereinmarschiert, laut knallende Schritte, direkt auf mich zu. Sie haben durch eine Maschine festgestellt, daß ich bei ›Teufel‹ an Hitler gedacht habe. Ich sehe mich hilfeflehend unter all den festlich gekleideten Leuten um. Stumm und ausdruckslos sehen sie vor sich hin, kein Gesicht zeigt auch nur Mitleid. Doch, der alte Herr in der Nebenloge sieht fein und gütig aus, aber als ich ihm in die Augen sehen will, spuckt er mich an.«

 

Auch diese Träumerin weiß, wie der Fabrikbesitzer, von der öffentlichen Demütigung als Mittel der Politik. Ein anderes leitendes Motiv ihres Traums mit den vielen Motiven ist die »Umwelt«. Sie stellt diesen abstrakten Begriff sehr kunstvoll dar durch die konkrete Szenerie der runden Riesenränge eines Opernhauses, gefüllt mit Mitmenschen, die »stumm und ausdruckslos« vor sich hinsehen, wenn dem anderen etwas zustößt, und akzentuiert durch jemanden, von dem man es seinem Äußeren nach am wenigsten vermuten kann und der die junge, eitle, geschmückte Frau anspuckt. Was sie »Stummheit und Ausdruckslosigkeit« der Gesichter nennt, hatte der Fabrikbesitzer »Leere« genannt. (In einem Traum Theodor Haeckers aus dem Jahre 1940 kommen die »unbeweglichen Gesichter«, mit denen seine Freunde herumstehen, gleich zweimal vor.)24 Ganz verschiedene Menschen gebrauchen also zur Darstellung eines verborgenen Umweltphänomens, die durch Druck erzeugte, den öffentlichen Raum erstickende Atmosphäre der totalen Gleichgültigkeit, denselben Kode.

Auf die Frage, ob sie eine Vorstellung von der Gedankenkontrollmaschine habe, antwortete die Träumerin: »Ja, sie war elektrisch, ein Gewirr von Drähten …« Sie hat diese Maschine als Symbol der körperlichen und geistigen Beherrschung, der überall lauernden Möglichkeiten, des Automatismus der Vorgänge erfunden zu einer Zeit, wo sie weder Kenntnis von fernwirkenden elektronischen Geräten, von Folterungen durch Elektrizität haben konnte noch von der Orwellschen Überwachungsapparatur, denn es war ja noch fünfzehn Jahre vor Erscheinen von »1984«.25

Ihren dritten Traum träumte sie, nachdem die Berichte über die Bücherverbrennungen sie erschüttert hatten (besonders die Radioreportage darüber, in der die Worte »Wagenladung« und »Scheiterhaufen« sich oft wiederholten):

 

»Ich weiß, alle Bücher werden abgeholt und verbrannt. Aber von meinem ›Don Carlos‹,26 dem alten zerlesenen Band aus der Schule, mit den Bleistiftstrichen, will ich mich nicht trennen, ich verstecke ihn unter dem Bett unseres Dienstmädchens. Aber als die SA-Leute zur Abholung kommen, gehen sie mit ihren knallenden Schritten direkt auf das Mädchenzimmer zu [die knallenden Schritte und das direkte Draufzukommen sind Requisiten aus dem vorigen Traum – wir werden ihnen in manchen anderen Träumen begegnen],27 holen ihn unter dem Bett hervor und werfen ihn auf den Leiterwagen, der zum Scheiterhaufen fährt.

Da entdecke ich, daß es gar nicht mein alter ›Don Carlos‹ war, den ich versteckt hatte, sondern irgendein Atlas. Trotzdem stehe ich schuldbeladen da...

Erscheint lt. Verlag 11.9.2016
Nachwort Jan Philipp Reemtsma
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bibliothek Suhrkamp 1496 • BS 1496 • BS1496 • Flucht • Journalistin • Klassiker • Nationalsozialismus • Traumdeutung
ISBN-10 3-518-74763-0 / 3518747630
ISBN-13 978-3-518-74763-6 / 9783518747636
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