Untenrum frei (eBook)
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-05611-4 (ISBN)
Margarete Stokowski, geboren 1986 in Polen, lebt seit 1988 in Berlin. Sie studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitet als freie Autorin. Ihre Kolumne «Oben und unten» erscheint seit 2015 bei Spiegel Online. 2019 wurde sie für ihre Texte mit dem Kurt-Tucholsky-Preis ausgezeichnet. «Untenrum frei», ihr Debüt, avancierte zu einem Standardwerk des modernen Feminismus.
Margarete Stokowski, geboren 1986 in Polen, lebt seit 1988 in Berlin. Sie studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitet als freie Autorin. Ihre Kolumne «Oben und unten» erscheint seit 2015 bei Spiegel Online. 2019 wurde sie für ihre Texte mit dem Kurt-Tucholsky-Preis ausgezeichnet. «Untenrum frei», ihr Debüt, avancierte zu einem Standardwerk des modernen Feminismus.
Vorwort
Die Schauspielerin Maggie Gyllenhaal wurde für eine Hollywoodrolle abgelehnt, als sie 37 Jahre alt war. Es ging darum, das «love interest» eines 55-jährigen Mannes zu spielen. Gyllenhaal wurde nicht genommen – weil sie zu alt war. «Das hat mich überrascht», sagte sie in einem Interview. «Erst fühlte ich mich schlecht deswegen. Dann hat es mich wütend gemacht, und dann musste ich lachen.»[1]
Dieses Buch ist so ähnlich entstanden: Erst waren die Dinge komisch. Unangenehm. Verletzend. Dann kam die Wut. Heftige Wut auf die Ungerechtigkeit. Und dann das Lachen: Es müsste doch alles nicht so sein. Der ganze alte Scheiß ist längst am Einstürzen.
Wir können untenrum nicht frei sein, wenn wir obenrum nicht frei sind. Und andersrum. Das ist die zentrale These dieses Buches. Es geht um die kleinen, schmutzigen Dinge, über die man lieber nicht redet, weil sie peinlich werden könnten, und um die großen Machtfragen, über die man lieber auch nicht redet, weil vieles so unveränderlich scheint. Es geht darum, wie die Freiheit im Kleinen mit der Freiheit im Großen zusammenhängt, und am Ende wird sich zeigen: Es ist dieselbe. Und es geht außerdem darum, dass Freiheit für eine kleine, unter sich gleichberechtigte Avantgarde nichts wert ist, wenn es die Freiheit einiger weniger ist, die an Deck Gin Tonic trinken, während die Massen im Maschinenraum schuften.
Freiheit ist ein großes Wort. Das ist okay, denn es geht um viel. Zum Beispiel darum, allen Menschen zuzugestehen, dass sie Subjekte sind und Objekte sein können, wenn sie wollen. Das klingt abstrakt und wird am Ende doch mit Grapefruits auf Penissen und Socken in BHs zu tun haben.
Es geht um Freiheit, und trotzdem möchte dieses Buch niemanden befreien. Aus zwei Gründen: Erstens wollen einige Leute gar nicht befreit werden, und zweitens müssen alle, die frei sein möchten, sich letztlich selbst befreien. Natürlich gibt es Frauen, die gern unterwürfig sind und traditionelle Rollen mögen, und es gibt Männer, die sich wirklich, wirklich überhaupt nicht anders denken lassen denn als im Stehen pinkelnde Grillexperten. Aber: Alles ist schöner, wenn es freiwillig ist und bewusst selbst gewählt, und dazu muss man die Alternativen zumindest kennen.
Aber warum überhaupt «befreien»: Wovon denn?
Eine Frau zu sein oder ein Mann zu sein bedeutet Arbeit. Jemand zu sein, der dazwischen oder jenseits davon liegt oder von einem zum anderen wechselt, bedeutet noch mehr Arbeit. Wir stecken viel Energie in die Rollen, die wir spielen, weil wir glauben, dass alles eine Ordnung haben muss und so viel anders auch gar nicht geht. Wir geben uns Mühe, die wir oft kaum bemerken, weil sie so alltäglich geworden ist. Und auch, weil es leichter ist, sich an vorhandene Muster zu halten.
Vorgegebene Rollen vereinfachen vieles. Aber sie beschränken eben auch. Wie Leitplanken. Es ist leichter, auf der Autobahn zu bleiben, wenn links und rechts stählerne Schutzplanken stehen und dahinter sowieso nur Gras wächst. Was soll man im Gras? Man kommt da schlechter voran. Aber vielleicht wäre es schön dort. Vor allem, wenn wir lebendig ankommen und nicht durch die Leitplanke durchmüssen. Und nein, keine Angst, der Feminismus wird niemandem die Autobahnen wegnehmen.
Wir sind – und das ist eine weitere These dieses Buches – scheinbar von unglaublich viel Sex umgeben, von Nacktheit und Brüsten und Pornos und Plakaten mit Sexspielzeug: Aber das ist kein Sex. Es ist ein diffuses Versprechen einer Möglichkeit, die mit tatsächlichem Sex nur sehr wenig gemeinsam hat. Dem steht eine immer noch große Unsicherheit gegenüber, mit der siebzehnjährige Jungs in Internetforen schreiben: «Beim ersten Mal habe ich die Befürchtung nicht das richtige Loch zu finden. Wie kann ich das am besten erkennen, wohin mit dem Penis?»
Ja, wohin mit dem Penis? Diese Frage werde ich nicht beantworten, aber vielleicht ein paar andere.
Dieses Buch ist kein Manifest, weil es einen ganzen Haufen Fragen und Meinungen enthält, die als Anfang, aber nicht als Ende einer Diskussion dienen können. Es ist keine Autobiographie, weil ich mich nicht ausziehen will, oder eher: weil ich mich zwar gern ausziehe, aber darüber brauche ich kein Buch zu schreiben. Aus diesem Buch wird man nicht erfahren, ob oder wie ich als Feministin im 21. Jahrhundert Teile meines Körpers enthaare; man wird nur erfahren, dass mir egal ist, wer es bei sich tut. Wir müssen über Schönheitsnormen reden, weil sie uns einengen. Wir dürfen uns aber nicht so weit von ihnen ablenken lassen, dass wir aus den Augen verlieren, worum es im Feminismus eigentlich geht: um Macht und Autonomie.
Man wird aus diesem Buch auch nicht erfahren, ob ich mich beim Sex lieber im Bett oder auf dem Küchentisch befinde, aber man wird erfahren, dass ich weder das eine noch das andere für emanzipiert oder langweilig halte, sondern denke, dass die Qualität des Liebemachens auch davon abhängt, wer den Küchentisch am nächsten Morgen decken wird und wer die Bettwäsche wechselt.
Ich werde also eine Geschichte erzählen. Dabei werde ich mein eigenes Versuchskaninchen sein. Denn ich glaube, dass Sex und Macht so grundlegende Themen sind, dass wir viel über sie erfahren können, wenn wir unser eigenes Leben betrachten.
Ich werde Dinge erlebt haben, und ich werde mir Dinge ausgedacht haben, und es ist schwer zu sagen, was davon persönlicher ist. Alle Geschichten in diesem Buch sind passiert, aber Umstände, Namen und persönliche Informationen sind geändert, um die Anonymität und Würde von Beteiligten zu wahren.
Marcel Proust hat geschrieben:
«Toren bilden sich ein, die großen Dimensionen sozialer Erscheinungen seien eine ausgezeichnete Gelegenheit, tiefer in die menschliche Seele einzudringen; sie sollten einsehen, dass sie vielmehr durch Eindringen in eine Individualität die Möglichkeit bekommen, solche Erscheinungen zu verstehen.»[2]
Genau das werden wir tun: in die Individualität eindringen und gucken, was wir da finden. Und dann damit wieder hochsehen, in die «großen Dimensionen sozialer Erscheinungen».
Es wird um Sex gehen und um Macht, aber auch um Angst, Scham und Gewohnheit, um Spaß und Tabus. Und natürlich auch um Liebe. Und um Arbeit und Arbeit aus Liebe.
Die einzelnen Kapitel in diesem Buch sind in sich geschlossene Essays, man sollte sie einzeln lesen können, aber hintereinandergereiht ergeben sie eine Geschichte.
Das erste Kapitel zeigt, wie sich schon in unserer Kindheit Muster einschleichen können, die uns einschränken und die wir wieder loswerden müssen, sobald wir eingesehen haben, dass das Leben kein Disneyfilm ist.
Das zweite Kapitel handelt von Schönheit und von Arbeit am Körper und auch vom Rubbeln daran.
Im dritten Kapitel geht es um Sex und das Wissen davon, was guter Sex wäre, und um Zeitschriften, die uns der Sache nicht näher bringen.
Was es mit der sexuellen Revolution auf sich hat, ist die Frage des vierten Kapitels. Sind wir so frei und locker, wie wir denken?[*]
Im fünften Kapitel wird gefragt, ob feministische Weltherrschaft eine Option ist, und die Antwort ist: natürlich nicht, weil Weltherrschaft generell keine Option ist. Es geht um Gender Studies und fair bezahlte Arbeit und die Verbindung von Feminismus und Anarchismus mit einem gemeinsamen Ziel: Abschaffung von Herrschaft.
Das sechste Kapitel empfiehlt, eine eigene Poesie des «Fuck you» zu entwickeln, um sich seltener verarschen zu lassen; sei es bei Mythen über Sex oder bei der Frage nach «korrekter» Sprache.
Im letzten Kapitel geht es um die Liebe und was die eigentlich mit alldem zu tun hat: viel. Denn letztlich machen wir in politischen Bewegungen dasselbe wie in Beziehungen und beim Kinderkriegen: Wir schließen uns zusammen und werden dadurch mehr.
Wir müssten das alles nicht «Feminismus» nennen. Wir könnten auch sagen, es geht eben irgendwie um Sex und Macht und das ganze Drumherum. «Jenseits von Grabenkämpfen», wie es so schön heißt. Und es müsste gar nicht schlecht sein, das Wort «Feminismus» da rauszulassen. Als Simone de Beauvoir Das andere Geschlecht schrieb, hat sie sich auch noch nicht «Feministin» genannt. («In der Debatte über den Feminismus ist genug Tinte geflossen», so stand es auf der ersten Seite, 1949 – tja nun.) Man kann Frauen – und dem Feminismus – unglaubliche Dienste erweisen, ohne sich Feministin zu nennen. Man kann ihnen auch sehr schaden, obwohl man sich so nennt. Es ist kompliziert.
Der Begriff «Feminismus» schreckt heute immer noch viele Leute ab. Sie denken an hysterische Hexen, die alle Männer kastrieren wollen, oder lieber gleich töten, um dann anschließend hämisch lachend ums Lagerfeuer zu tanzen und BH für BH hineinzuwerfen. Oder sie denken an gestörte Ziegen, die von ihren Vätern, Brüdern oder Lovern verletzt und versetzt wurden und sich jetzt an ihnen rächen wollen, indem sie eine hinterhältige Ideologie verbreiten, in der Frauen die besseren Menschen sind, kein Mädchen mehr mit Barbies spielen darf und Nagellack verboten ist. Oder an gierige, faule Gören, die Fördergelder und Vorstandsposten kriegen wollen, obwohl sie ihr Sozialpädagogikstudium abgebrochen haben, weil sie lieber Plüschmuschis stricken wollten, und jetzt nicht wissen, von was sie die Miete zahlen sollen.
Wenn Sie von diesem Buch nur das Vorwort lesen und es danach weglegen, nehmen Sie wenigstens das mit: Alle diese Vorstellungen sind falsch....
Erscheint lt. Verlag | 8.9.2016 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Bestseller • Feminismus • Feministische Literatur • Frauen • Frauenrechte • Gender • Geschlechterverhältnisse • Identität • Körper • Mädchen • Matriarchat • Misogynie • Patriarchat • Politik • Pubertät • Queer • Scham • Sexismus • Sexualität • Ungerechtigkeit • Wahrnehmung |
ISBN-10 | 3-644-05611-0 / 3644056110 |
ISBN-13 | 978-3-644-05611-4 / 9783644056114 |
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