Die Vermissten (eBook)
288 Seiten
Penguin (Verlag)
978-3-641-19946-3 (ISBN)
Das grünschwarze Wasser leuchtet geheimnisvoll in der untergehenden Sommersonne. Der Abend könnte nicht schöner sein, als Greta, Alex und Tochter Smilla mit dem Boot zur kleinen Insel in der Mitte des Sees fahren. Greta bleibt am Ufer, während die anderen beiden auf Entdeckungstour gehen. Aber sie kommen nicht mehr zurück. Beunruhigt macht sich Greta auf die Suche - doch von Alex und Smilla fehlt jede Spur. In ihrer wachsenden Verzweiflung wendet sie sich an die Polizei. Schnell wird klar, dass Gretas eigene Geschichte ebenso große Rätsel aufwirft wie das Verschwinden ihrer Lieben. Und die Frage: Hat sie etwas damit zu tun?
Caroline Eriksson, 1976 geboren, hat Sozialpsychologie studiert und als Personalberaterin gearbeitet. Der Thriller 'Die Vermissten' hat ihr den internationalen Durchbruch eingebracht. Er erscheint weltweit in über 25 Ländern und wurde in Schweden zum Überraschungsbestseller des Jahres. Caroline Eriksson lebt mit ihrer Familie in Stockholm.
1
Das kleine Motorboot teilt das grünschwarze Wasser mit der Präzision eines Messers. Die Sonne steht tief, der Spätsommerabend neigt sich dem Ende zu. Ich sitze im Bug, schließe die Augen wegen der Wassertropfen, die mir ins Gesicht sprühen, und bekämpfe die Übelkeit, die im Rhythmus der Bootsbewegungen in meinem Körper mitwogt. Wenn er nur ein bisschen langsamer fahren würde, denke ich. Und als könnte er meine Gedanken lesen, drosselt Alex das Tempo. Langsam drehe ich mich zu ihm um. Er sitzt im Bootsheck und lässt die Hand auf der Ruderpinne des Außenbordmotors ruhen. Seine ganze Erscheinung strahlt Maskulinität und Kontrolle aus. Der rasierte Schädel, die markante Kieferpartie und die konzentrierte Falte über der Nasenwurzel. Normalerweise nennt man einen Mann nicht »schön«, aber Alex ist es einfach. Das fand ich schon immer. Und das finde ich heute noch.
Ohne Vorwarnung stellt er den Motor ganz aus. Das Boot sinkt in einer bogenförmigen Bewegung zurück ins Wasser. Smilla gerät auf der Ruderbank zwischen uns ins Schwanken, und ich beuge mich vor und fange sie auf, halte sie am Rücken fest, bis sie das Gleichgewicht wiedergefunden hat. Instinktiv ergreift sie mit ihren kleinen Fingern meine Hand, und mich durchflutet eine warme Welle. Jetzt, da die Luft nicht mehr vom knatternden Motorengeräusch erfüllt ist, bleibt nur noch die Stille. Smillas dünnes flachsblondes Haar kringelt sich im Nacken, keine Handbreit von meinem Gesicht entfernt. Gerade will ich mich vorbeugen und die Nase in den weichen Strähnen vergraben, da streckt Alex die Hände nach den Rudern aus.
»Willst du’s mal versuchen?«
Sofort lässt Smilla mich los und steht eifrig auf.
»Na, komm schon«, meint Alex lächelnd, »dann zeigt dir der Papa, wie man rudert.«
Er hält ihr die Hand hin und stützt sie auf dem kurzen Weg zum Heck des Bootes. Sie setzt sich auf seinen Schoß und streicht ihm zufrieden über die Knie. Alex erklärt ihr, wie sie die Ruder halten muss, dann legt er seine eigenen Hände über ihre und beginnt mit langsamen Bewegungen zu rudern. Smilla gluckst so vergnügt, wie nur sie es kann. Ich starre das kleine Lachgrübchen auf ihrer linken Wange an, bis mein Blick verschwimmt. Da drehe ich mich um zum See und verliere mich in seiner Weite.
Alex behauptet, dass er »sicher einen offiziellen Namen hat, irgendwo in einem Register«, dass ihn hier in der Gegend aber niemand anders nennt als Maran – den Nachtmahr. Doch bei dieser Auskunft belässt er es nicht. Er erzählt Geschichten über den See, eine schlimmer als die andere, und wozu dieses Gewässer angeblich fähig sein soll. Schauermärchen, dass das Wasser seit Langem verhext sei und dass seine Bösartigkeit in die Menschen sickere, ihre Sinne verwirre und sie schreckliche Taten begehen lasse. Erwachsene und Kinder sind in dieser Gegend schon spurlos verschwunden, Blut ist vergossen worden. Das behaupten zumindest die Sagen. Ein klagendes, unheimliches Echo hallt übers Wasser und reißt mich aus meinen Überlegungen. Ich wende mich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist, und ahne aus dem Augenwinkel, dass Alex und Smilla dasselbe tun. Da erklingt es wieder. Ein tiefer, knarrender Laut, der sich zu einem heiser heulenden Schrei steigert. Irgendetwas flattert, und ein Stückchen vor uns bewegt sich ein dunkler Schatten auf die Wasseroberfläche zu. Im nächsten Augenblick ist er verschwunden, offenbar vom See verschluckt. Ohne das geringste Platschen oder Wasserkräuseln. Alex legt einen Arm um Smilla und deutet mit dem anderen auf die Stelle.
»Das war ein Seetaucher«, erklärt er. »Ein Vogel aus der Urzeit, sagen manche Leute. Wahrscheinlich wegen diesem Geräusch, das finden viele unheimlich.«
Er wendet sich zu mir, aber ich sehe Smilla an und weiche seinem Blick aus. Lange und konzentriert späht Smilla zu der Stelle, wo der Seetaucher verschwunden ist. Schließlich dreht sie sich zu Alex um und fragt besorgt, ob der Vogel nicht bald zum Atmen hochkommen muss. Er lacht, streicht ihr übers Haar und meint, dass der Seetaucher mehrere Minuten unter Wasser bleiben könne. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Außerdem, so fügt er hinzu, taucht er selten an derselben Stelle wieder auf, an der er verschwunden ist. Alex ergreift erneut die Ruder und rudert das letzte Stück allein. Smilla sitzt in der Mitte des Bootes und hat mir den Rücken zugewandt. Ich studiere ihr Profil schräg von hinten, die weiche Rundung ihrer Wange, während sie den Blick weiter suchend über die Wasseroberfläche schweifen lässt. Der Gedanke an den Vogel lässt sie nicht los, wo er jetzt sein mag und wie er so lange unter Wasser bleiben kann. Ich hebe die Hand, um ihr beruhigend über den schmalen Rücken zu streichen. Genau in diesem Moment rutscht Smilla ein Stück zur Seite und dreht den Kopf weg, sodass ich ihr Gesicht nicht mehr sehen kann. Alex lächelt sie an, und ich merke, dass sie zurücklächelt. Vertrauensvoll. Zuversichtlich. Wenn Papa sagt, dass der Vogel zurechtkommt, dann ist das auch so.
Jetzt sind es nur noch gut zehn Meter bis zur Insel. Der kleinen Insel mitten im Maransee. Dorthin sind wir unterwegs. Ich starre ins Wasser, versuche, es mit dem Blick zu durchdringen. Allmählich kann ich den Grund unter uns erahnen, er ist zugewuchert mit sachte wogenden Wasserpflanzen. Es wird immer flacher. Das Seegras steigt nach oben und greift nach dem Rumpf wie schleimig grüne Finger. Lange Schilfhalme erheben sich neben dem Boot und neigen sich über unsere Köpfe. Als wir im flachen Wasser angekommen sind, steht Alex auf und geht an Smilla und mir vorbei. Das Boot schwankt. Ich klammere mich an den Bootsrand und mache die Augen zu, bis es wieder still daliegt.
Alex schlingt ein Tau um den nächsten Baumstamm und macht das Boot sorgfältig fest. Dann streckt er die Hand aus, und Smilla knöpft sich in dem Moment die Schwimmweste auf, als sie sich an mir vorbeidrängelt. Dabei steigt sie mir auf den einen Fuß und rammt mir versehentlich den Ellenbogen in die rechte Brust. Ich stöhne laut auf, aber sie merkt es nicht. Oder sie merkt es, kümmert sich aber nicht darum. Sie ist so erpicht darauf, zu ihrem Papa zu kommen, dass alles andere unwichtig ist. Dass Alex Smillas große Liebe hier auf Erden ist, würde niemand anzweifeln, der die beiden zusammen sieht. Als wir vorhin vom Wochenendhäuschen zum Bootssteg gingen, lief beziehungsweise hüpfte sie natürlich an Alex’ Seite. Die Sonnenstrahlen fielen schräg durch das Blattwerk der Büsche am Rand des schmalen Waldwegs und mischten sich mit Smillas begeistertem Geplauder. Bald würden Papa und sie auf einer Insel an Land gehen. Wie richtige Piraten. Smilla war nämlich eine Piratenprinzessin, und Papa könnte doch vielleicht der Piratenkönig sein, oder? Smilla lachte und zog Alex an der Hand, sie konnte gar nicht schnell genug zum See kommen. Ich ging mit ein paar Schritten Abstand hinter den beiden her.
Jetzt blicke ich zu ihnen auf. Dort stehen sie nebeneinander, Smilla lehnt sich an Alex und hat ihre kleinen weichen Arme um seine Beine geschlungen. Eine unzertrennliche Einheit. Vater und Tochter. Die beiden an Land, ich noch im Boot. Jetzt streckt Alex mir die Hand hin und hebt auffordernd die Augenbrauen. Ich zögere, und das merkt er.
»Jetzt komm schon. Es war doch als Familienausflug gedacht, Schatz.«
Er grinst. Meine Augen wandern zu Smilla, unsere Blicke treffen sich. Ihr kleines Kinn ist irgendwie besonders, ihre Art, es entschlossen vorzuschieben.
»Geht ruhig ohne mich«, sage ich mit brüchiger Stimme. »Ich warte hier.«
Alex unternimmt noch einen halbherzigen Versuch, mich zum Mitkommen zu bewegen, aber als ich erneut nur den Kopf schüttle, zuckt er mit den Schultern und wendet sich Smilla zu. Er reißt die Augen auf und macht eine Grimasse, woraufhin ihre Augen vor lauter Erwartung zu leuchten beginnen.
»Nehmt euch in Acht, ihr Inselbewohner, hier kommen Piratenpapa und die Piratenprinzessin Smilla!«, ruft Alex. Dabei hebt er Smilla hoch, wirft sie sich über die Schulter, dass sie vor Vergnügen quiekt, und läuft dann mit ihr die Böschung hoch. Die Insel ist auf der einen Seite steiler als auf der anderen, und wir haben an der steilen Seite angelegt. Aber Alex lässt sich von der Steigung nicht ausbremsen. Ich kann die Milchsäure in seinen Beinmuskeln geradezu spüren. Und das schwindelerregende Gefühl in Smillas Bauch, während sie so über seiner Schulter hängt und mitwippt. Dann erreichen sie den höchsten Punkt und verschwinden aus meinem Blickfeld.
Ich bleibe sitzen und lausche dem Klang ihrer Stimmen, die sich allmählich in der Ferne verlieren. Nach einer Weile beuge ich mich vor und massiere mir vorsichtig das steife, schmerzende Kreuz. Aus irgendeinem Grund bücke ich mich noch ein Stück weiter, lehne mich über die Reling. Das Wasser unter dem Boot ist jetzt beinahe glatt, der See hat sich meinen Blicken verschlossen. Ich kann nicht mehr sehen, was sich unter seiner Oberfläche verbirgt. Das Einzige, was von unten zurückstarrt, sind die zersplitterten Konturen meines eigenen Spiegelbilds. Und dann lasse ich sie einfach kommen, die Erinnerungen an die Ereignisse von gestern Abend und heute Nacht. Jedes Wort, jede Bewegung lasse ich Revue passieren, und dabei fixiere ich die ganze Zeit die Reflexion meiner eigenen Augen, die dort unter mir auf dem Wasser schwimmt. Bei jedem Fragment, das ich dem Ablauf der Geschehnisse hinzufüge, sehe ich, wie sich der Blick im Wasser weiter verfinstert. Unwillkürlich fasse ich mir an den Hals. Das geht eine Weile so. Ein paar Minuten. Eine Ewigkeit.
Dann blinzle ich, und es fühlt sich an, als würde ich aus einem Dämmerschlaf erwachen, als hätte ich jegliches Zeitgefühl verloren....
Erscheint lt. Verlag | 8.8.2016 |
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Übersetzer | Wibke Kuhn |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | De Försvunna |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | belinda bauer • Bestseller aus Schweden • Boot • eBooks • Girl on the train • Gone Girl • Insel • Melanie Raabe • psychologische Spannung • Psychothriller • Scandi-Crime • Schweden • Schwedenkrimi • Spannung • Spannungsroman • spiegel bestseller • Suche • Thriller • unzuverlässige Erzählerin • Verschwinden |
ISBN-10 | 3-641-19946-8 / 3641199468 |
ISBN-13 | 978-3-641-19946-3 / 9783641199463 |
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