Sämtliche Werke in zwanzig Bänden (eBook)

Elfter Band: Jakob von Gunten. Ein Tagebuch

(Autor)

Jochen Greven (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
192 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74548-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sämtliche Werke in zwanzig Bänden -  Robert Walser
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Jakob von Gunten ist der Entwicklungsroman einer verhinderten Entwicklung. Das, was Jakob für das Leben ausrüsten soll, entzieht ihn dem Leben. Das Prinzip Hoffnungslosigkeit ist das Prinzip dieses Erziehungsromans...Hier stimmt zum erstenmal einer der Gegenwart zu, wie sie ist: und wir erkennen so scharf wie noch nie, wie furchtbar sie ist. Martin Walser



<p>Robert Walser wurde am 15. April 1878 in Biel geboren. Er starb am 25. Dezember 1956 auf einem Spaziergang im Schnee. Heute ist Walser durch seine Romane, seine feuilletonistische Prosa, seine Gedichte und seine Dramolette als einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts anerkannt. Nach seiner Schulzeit absolvierte er eine Banklehre und arbeitete als Commis in verschiedenen Banken und Versicherungen in Zürich. Seine ersten Gedichte, die 1898 erschienen, ließen ihn rasch zu einem Geheimtip werden und verschafften ihm den Zugang zu literarischen Kreisen. Nach Erscheinen seines ersten Buches <em>Fritz Kochers Aufsätze</em> folgte er 1905 seinem Bruder Karl nach Berlin, der dort als Maler und Bühnenbildner den Durchbruch erzielt hatte. In rascher Folge publizierte Walser nun seine drei Romane <em>Geschwister Tanner</em> (1907), <em>Der Gehülfe</em> (1908) und <em>Jakob von Gunten</em> (1909). Infolge einer psychischen Krise geriet Walser Anfang 1929 gegen seinen Willen in die Psychiatrie, deren Rahmen er nie mehr verlassen konnte. 1933 von der Berner Klinik Waldau nach Herisau verlegt, gab er das Schreiben vollständig auf und lebte dort noch 24 Jahre als vergessener anonymer Patient. Sein Werk erscheint seit 1978 im Suhrkamp Verlag, seit 2018 auch in der neuen kommentierten Berner Ausgabe.</p>

Robert Walser wurde am 15. April 1878 in Biel geboren. Er starb am 25. Dezember 1956 auf einem Spaziergang im Schnee. Nach seiner Schulzeit absolvierte er eine Banklehre und arbeitete als Commis in verschiedenen Banken und Versicherungen in Zürich. Seine ersten Gedichte, die 1898 erschienen, ließen ihn rasch zu einem Geheimtip werden und verschafften ihm den Zugang zu literarischen Kreisen. Nach Erscheinen seines ersten Buches Fritz Kochers Aufsätze folgte er 1905 seinem Bruder Karl nach Berlin, der dort als Maler und Bühnenbildner den Durchbruch erzielt hatte. In rascher Folge publizierte Walser nun seine drei Romane Geschwister Tanner (1907), Der Gehülfe (1908) und Jakob von Gunten (1909). Infolge einer psychischen Krise geriet Walser Anfang 1929 gegen seinen Willen in die Psychiatrie, deren Rahmen er nie mehr verlassen konnte. 1933 von der Berner Klinik Waldau nach Herisau verlegt, gab er das Schreiben vollständig auf und lebte dort noch 24 Jahre als vergessener anonymer Patient.

Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein. Der Unterricht, den wir genießen, besteht hauptsächlich darin, uns Geduld und Gehorsam einzuprägen, zwei Eigenschaften, die wenig oder gar keinen Erfolg versprechen. Innere Erfolge, ja. Doch was hat man von solchen? Geben einem innere Errungenschaften zu essen? Ich möchte gern reich sein, in Droschken fahren und Gelder verschwenden. Ich habe mit Kraus, meinem Schulkameraden, darüber gesprochen, doch er hat nur verächtlich die Achsel gezuckt und mich nicht eines einzigen Wortes gewürdigt. Kraus besitzt Grundsätze, er sitzt fest im Sattel, er reitet auf der Zufriedenheit, und das ist ein Gaul, den Personen, die galoppieren wollen, nicht besteigen mögen. Seit ich hier im Institut Benjamenta bin, habe ich es bereits fertiggebracht, mir zum Rätsel zu werden. Auch mich hat eine ganz merkwürdige, vorher nie gekannte Zufriedenheit angesteckt. Ich gehorche leidlich gut, nicht so gut wie Kraus, der es meisterlich versteht, den Befehlen Hals über Kopf dienstfertig entgegenzustürzen. In einem Punkt gleichen wir Schüler, Kraus, Schacht, Schilinski, Fuchs, der lange Peter, ich usw., uns alle, nämlich in der vollkommenen Armut und Abhängigkeit. Klein sind wir, klein bis hinunter zur Nichtswürdigkeit. Wer eine Mark Taschengeld hat, wird als ein bevorzugter Prinz angesehen. Wer, wie ich, Zigaretten raucht, der erregt ob der Verschwendung, die er treibt, Besorgnis. Wir tragen Uniformen. Nun, dieses Uniformtragen erniedrigt und erhebt uns gleichzeitig. Wir sehen wie unfreie Leute aus, und das ist möglicherweise eine Schmach, aber wir sehen auch hübsch darin aus, und das entfernt uns von der tiefen Schande derjenigen Menschen, die in höchsteigenen, aber zerrissenen und schmutzigen Kleidern dahergehen. Mir zum Beispiel ist das Tragen der Uniform sehr angenehm, weil ich nie recht wußte, was ich anziehen sollte. Aber auch in dieser Beziehung bin ich mir vorläufig noch ein Rätsel. Vielleicht steckt ein ganz, ganz gemeiner Mensch in mir. Vielleicht aber besitze ich aristokratische Adern. Ich weiß es nicht. Aber das Eine weiß ich bestimmt: Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein. Ich werde als alter Mann junge, selbstbewußte, schlecht erzogene Grobiane bedienen müssen, oder ich werde betteln, oder ich werde zugrunde gehen.

Wir Eleven oder Zöglinge haben eigentlich sehr wenig zu tun, man gibt uns fast gar keine Aufgaben. Wir lernen die Vorschriften, die hier herrschen, auswendig. Oder wir lesen in dem Buch «Was bezweckt Benjamenta’s Knabenschule?» Kraus studiert außerdem noch Französisch, ganz für sich, denn fremde Sprachen oder irgend etwas derartiges gibt es gar nicht auf unserem Stundenplan. Es gibt nur eine einzige Stunde, und die wiederholt sich immer. «Wie hat sich der Knabe zu benehmen?» Um diese Frage herum dreht sich im Grunde genommen der ganze Unterricht. Kenntnisse werden uns keine beigebracht. Es fehlt eben, wie ich schon sagte, an Lehrkräften, das heißt die Herren Erzieher und Lehrer schlafen, oder sie sind tot, oder nur scheintot, oder sie sind versteinert, gleichviel, jedenfalls hat man gar nichts von ihnen. An Stelle der Lehrer, die aus irgendwelchen sonderbaren Gründen tatsächlich totähnlich daliegen und schlummern, unterrichtet und beherrscht uns eine junge Dame, die Schwester des Herrn Institutvorstehers, Fräulein Lisa Benjamenta. Sie kommt mit einem kleinen weißen Stab in der Hand in die Schulstube und Schulstunde. Wir stehen alle von den Plätzen auf, wenn sie erscheint. Hat die Lehrerin Platz genommen, so dürfen auch wir uns setzen. Sie klopft mit dem Stab dreimal kurz und gebieterisch hintereinander auf die Tischkante, und der Unterricht beginnt. Welch ein Unterricht! Doch ich würde lügen, wenn ich ihn kurios fände. Nein, ich finde das, was Fräulein Benjamenta uns lehrt, beherzigenswert. Es ist wenig, und wir wiederholen immer, aber vielleicht steckt ein Geheimnis hinter all diesen Nichtigkeiten und Lächerlichkeiten. Lächerlich? Uns Knaben vom Institut Benjamenta ist niemals lächerlich zumut. Unsere Gesichter und unsere Manieren sind sehr ernsthaft. Sogar Schilinski, der doch noch ein vollkommenes Kind ist, lacht sehr selten. Kraus lacht nie, oder wenn es ihn hinreißt, dann nur ganz kurz, und dann ist er zornig, daß er sich zu einem so vorschriftswidrigen Ton hat hinreißen lassen. Im allgemeinen mögen wir Schüler nicht lachen, das heißt wir können eben kaum noch. Die dazu erforderliche Lustigkeit und Lässigkeit fehlt uns. Irre ich mich? Weiß Gott, manchmal will mir mein ganzer hiesiger Aufenthalt wie ein unverständlicher Traum vorkommen.

Der jüngste und kleinste unter uns Zöglingen ist Heinrich. Man ist diesem jungen Menschen gegenüber unwillkürlich zärtlich gesinnt, ohne dabei etwas zu denken. Er steht vor den Schaufenstern der Kaufleute still, innig in den Anblick der Waren und Leckerbissen versunken. Dann tritt er gewöhnlich ein und kauft sich etwas Süßes für einen Sechser. Heinrich ist noch ganz Kind, aber er spricht und benimmt sich schon wie ein erwachsener Mensch von guter Führung. Sein Haar ist immer ganz tadellos gekämmt und gescheitelt, was gerade mich zur Anerkennung hinreißen muß, da ich in diesem wichtigen Punkt sehr liederlich bin. Seine Stimme ist so dünn wie ein zartes Vogelgezwitscher. Man muß unbewußt den Arm um seine Schulter legen, wenn man mit ihm spazieren geht oder mit ihm spricht. Er hat die Haltung eines Obersten und ist so klein. Er besitzt keinen Charakter, denn er weiß noch gar nicht, was das ist. Gewiß hat er noch nie über das Leben nachgedacht, und wozu? Er ist sehr artig, dienstfertig und höflich, aber ohne Bewußtsein. Ja, er ist wie ein Vogel. Das Trauliche gelangt an ihm überall zum Vorschein. Ein Vogel gibt einem die Hand, wenn er sie gibt, ein Vogel geht so und steht so. Alles ist unschuldig, friedfertig und glücklich an Heinrich. Er will Page werden, sagt er. Doch er sagt es ganz ohne unfeines Schmachten, und in der Tat, der Pagenberuf ist für ihn das durchaus Richtige und Angemessene. Die Zierlichkeit des Benehmens und Empfindens strebt irgendwohin, und siehe, sie trifft das Rechte. Was wird er für Erfahrungen machen? Werden sich an diesen Knaben überhaupt Erfahrungen und Erkenntnisse heranwagen? Werden die rohen Enttäuschungen sich nicht genieren, ihn zu beunruhigen, ihn, den Überzarten? Übrigens merke ich, daß er ein wenig kalt ist, es ist nichts Stürmisches und Herausforderndes an ihm. Vielleicht wird er vieles, vieles, das ihn niederschlagen könnte, gar nicht bemerken, und vieles, das ihm seine Sorglosigkeit nehmen könnte, gar nicht fühlen. Wer weiß, ob ich recht habe. Aber ich stelle jedenfalls sehr, sehr gern solche Beobachtungen an. Heinrich ist bis zu einer gewissen Grenze verständnislos. Das ist sein Glück, und man muß es ihm gönnen. Wenn er ein Prinz wäre, ich würde der erste sein, der das Knie vor ihm beugte und ihm huldigte. Schade.

Wie dumm ich mich doch benommen habe, als ich hier ankam. Ich entrüstete mich in erster Linie über die Ärmlichkeit des Treppenhauses. Nun ja, es ist eben der Treppenaufgang eines gewöhnlichen großstädtischen Hinterhauses. Dann klingelte ich, und ein affenähnliches Wesen öffnete mir die Türe. Es war Kraus. Aber damals hielt ich ihn einfach für einen Affen, während ich ihn heute, um des rein persönlichen Wesens willen, das ihn ziert, hoch schätze. Ich fragte, ob Herr Benjamenta zu sprechen sei. Kraus sagte: «Jawohl, mein Herr », und machte eine tiefe, dumme Verbeugung vor mir. Diese Verbeugung jagte mir einen unheimlichen Schrecken ein, denn ich sagte mir sogleich, daß da irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugehen müsse. Und von da an hielt ich die Schule Benjamenta für Schwindel. Ich trat zum Vorsteher herein. Wie muß ich lachen, wenn ich an die nun folgende Szene denke! Herr Benjamenta fragte mich, was ich wolle. Ich erklärte ihm schüchtern, daß ich wünsche, sein Schüler zu werden. Darauf schwieg er und las Zeitungen. Das Bureau, der Herr Vorsteher, der vorausgegangene Affe, die Türe, die Art, zu schweigen und Zeitungen zu studieren, alles, alles kam mir im höchsten Grad verdächtig, verderbenversprechend vor. Plötzlich wurde ich nach meinem Namen gefragt und nach meiner Herkunft. Jetzt hielt ich mich für verloren, denn ich fühlte mit einemmal, daß ich da nicht mehr loskäme. Stotternd gab ich Auskunft, ich wagte sogar zu betonen, daß ich aus einem sehr guten Hause stamme. Ich sagte unter anderem, mein Vater sei Großrat, und ich sei ihm davongelaufen, weil ich gefürchtet hätte, von seiner Vortrefflichkeit erstickt zu werden. Wieder schwieg der Vorsteher eine Weile. Meine Furcht, betrogen zu werden, stieg aufs höchste. Ich dachte sogar an geheime Ermordung, stückweises Erdrosseln. Da fragte mich der Vorsteher mit seiner Gebieterstimme, ob ich Geld bei mir hätte, und ich bejahte. «So gib es her. Rasch!» befahl er, und merkwürdig, ich gehorchte augenblicklich, obschon mich der Jammer schüttelte. Ich zweifelte nicht mehr daran, einem Räuber und Schwindler in die Hände gefallen zu sein, und trotzdem legte ich das Schulgeld gehorsam hin. Wie lächerlich mir meine damaligen Empfindungen jetzt doch vorkommen. Man strich das Geld ein und schwieg wieder. Da fand ich den Heldenmut, schüchtern um eine Quittung zu ersuchen, doch man gab mir folgendes zur Antwort: «Schlingel wie du erhalten keine Quittungen.» Ich war einer Ohnmacht nahe, der Vorsteher klingelte. Sofort stürzte der dumme Affe Kraus herein. Der dumme Affe? O gar nicht. Kraus ist ein lieber, lieber Mensch. Ich...

Erscheint lt. Verlag 8.5.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ausbildung • Belletristische Darstellung • Diener • ST 1111 • ST1111 • suhrkamp taschenbuch 1111
ISBN-10 3-518-74548-4 / 3518745484
ISBN-13 978-3-518-74548-9 / 9783518745489
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