Wer war Alice (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
448 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-16719-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wer war Alice -  T. R. Richmond
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Alice Salmon war erst 25 Jahre alt, als sie eines Morgens leblos im Fluss gefunden wurde. Eigentlich wollte sie am Abend zuvor nur Freunde treffen, stattdessen durchlebte sie die letzten Stunden ihres Lebens. Aber was ist passiert? Ist sie wirklich gestürzt, weil sie zu viel getrunken hat, wie die Polizei vermutet? War es ein tragischer Unfall? Die Nachricht ihres Todes verbreitet sich wie ein Lauffeuer, auch über Facebook und Twitter. Gleich werden Vermutungen angestellt, über sie, ihr Leben und ihren Tod. Auch ihr ehemaliger Professor Jeremy Cooke ist erschüttert. Er macht sich daran, herauszufinden, was in der Nacht tatsächlich geschah, und sammelt alles über Alice. Er schreibt sogar ein Buch über den Fall. Nur warum ist er so engagiert? Was hat er zu verbergen? Was haben ihr Exfreund Luke und ihr Freund Ben mit der Sache zu tun? Und wer war Alice?

T. R. Richmond ist ein preisgekrönter Journalist, der für regionale sowie überregionale Zeitungen, Magazine und Webseiten geschrieben hat. Die Übersetzungsrechte von 'Wer war Alice' wurden in über 20 Länder verkauft.

Brief von Professor Jeremy Cooke
17. Februar 2012

Hallo Larry,

früher glaubte ich, ich würde sehr alt werden. Ich war davon überzeugt, ich würde mal einer von diesen alten Knackern werden, die bei jedem Wetter in Mütze und Mantel die High Street entlangschlurfen. Einer, der die Zeit völlig vergisst, dann plötzlich verblüfft auf seine Uhr schaut und vor sich hin grummelt. Der, wenn er sich beeilen will, aussieht wie ein Aufziehspielzeug, das irgendwie falsch zusammengebaut wurde. Der es nicht merkt, wenn ihm die Nase läuft und wenn er sabbert; der sich mit leeren, wässrigen Augen an Tischen und Stuhllehnen aufstützt, um in einer sich immer schneller drehenden, immer unverständlicheren Welt das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Aber offenbar soll es nicht sein. In meiner Prostata befindet sich ein Knoten, ein harter, kanzeröser Knoten. Ich bin mit dem Arzt durchgegangen, was mich im besten beziehungsweise im schlimmsten Fall erwartet, und während er Wörter aussprach, die ich entweder nicht kannte oder die ich nie mit mir selbst assoziiert hatte, »Biopsie«, »Metastasen«, »Finasterid«, beschloss ich, auf dem Heimweg Blumen für Fliss zu kaufen, einen riesigen Strauß Astern und Iris und Schleierkraut. Vielleicht würde ich einen Braten kochen, einen Schweinebraten, ihr Lieblingsgericht. Sie weiß natürlich Bescheid, aber du bist außer ihr der Einzige. All die Arzttermine in letzter Zeit haben mir noch einmal bewusst gemacht, was ich für ein Glück habe, sie an meiner Seite zu wissen.

Eigentlich wollte ich es mir als Rentner gut gehen lassen, Larry. Mit meiner Baumschere im Garten herumwerkeln, in Winchester in Antiquitätenläden stöbern, mit meiner Kaffeetasse mit der Aufschrift Der griesgrämigste Mann der Welt durchs Haus schlurfen. Eine Zeit lang habe ich davon geträumt, meine Bedenken wegen der Energiekrise über Bord zu werfen und mir einen alten Sportwagen zu kaufen und unter der Motorhaube herumzuschrauben. Ich hätte mir einen Blaumann zugelegt – ich glaube, ich habe noch nie einen besessen – und ölige Fingerabdrücke auf dem Teekessel hinterlassen. Selbst wenn ich, Gott bewahre, in einem Heim gelandet wäre, wo ich mit den anderen Insassen auf an der Wand aufgereihten Stühlen gesessen hätte, als warteten wir auf ein Erschießungskommando, oder an runden Tischen mit den anderen Karten gespielt hätte, mit gemusterter Auslegware unter den Füßen, die die Folgen kleiner »Malheurs« kaschieren sollte – selbst so ein Zustand, reduziert auf Kleinkindniveau, selbst das wäre besser gewesen als das, was ich jetzt vor mir habe: das Nichts.

Aber ich sollte mich nicht beklagen: Ich werde trotzdem mehr als doppelt so alt wie Alice. Eine bemerkenswerte Feststellung, die festgehalten werden sollte, oder nicht, Larry? Ich dachte immer, der Tod sei etwas, das anderen zustößt, wie ein Streit in der Öffentlichkeit oder ein Konkurs. In den Millionen Jahren der Evolution ist es uns nicht gelungen, die Unentrinnbarkeit dieses speziellen menschlichen Defekts zu beheben, nicht wahr?

»Klingt irgendwie nach Übertragung«, sagte Fliss leise, als ich ihr von meinem Vorhaben erzählte, »Informationen über eine verstorbene Exstudentin zusammenzutragen«.

Auf jeden Fall ist es eine gute Ablenkung, es füllt die Löcher, die sich sonst mit Angst füllen würden. Und ich werde regelrecht überschwemmt von Alice’ Vergangenheit, die sich darbietet in Gestalt von Fotos, E-Mails, SMS, Twitter-Meldungen, Anekdoten, sogar unausgegorenen Theorien, darunter eine, nach der sie heroinsüchtig war. Wenn man sich vorstellt, dass wir früher nichts weiter waren als ein paar offizielle Dokumente, auf Papier gedruckt und objektiv: Geburtsurkunde, Führerschein, Heiratsurkunde, Totenschein. Heute sind wir an tausend Orten: in Einzelteile zerlegt und doch vollständig, flüchtig und doch endgültig, digital und doch gegenständlich. Dieses gigantische Informationsarchiv da draußen. Gott, man kann überhaupt keine Geheimnisse mehr haben. Wir beide wären niemals unter dem Radar durchgeschlüpft, wenn wir vierzig Jahre später das Licht der Welt erblickt hätten, alter Junge, glaub’s mir.

Ein paar Leute haben mich sogar persönlich aufgesucht. Sie haben in ihrem Gedächtnis oder in ihren Hosentaschen gekramt, woraufhin ich instinktiv mein Notizheft oder mein Diktafon gezückt habe. Ich bin allmählich fast zwanghaft darauf versessen, jedes Detail zu erfassen.

»Sind Sie der Alice-Typ?«, fragte mich heute Morgen eine junge Frau, ein Spitzname, der mir nicht übel gefiel. Sie hielt mir ihr Handy vor die Nase wie eine Bittstellerin. »Es ist nur eine SMS, aber die letzte, die ich von ihr bekommen habe.«

Während ich das Material durchging, das ich bereits gesammelt hatte, dachte ich: Was ist das eigentlich? Dieses Foto, das eine Schulfreundin von Alice mir überlassen hatte, es zeigt Alice in einem Zeltlager, wo sie ihren Dienst für den Duke-of-Edinburgh-Award ableistet. Oder dieses Foto von ihr auf einem Ausflug zum Pfarrhaus der Geschwister Brontë – »Die armen Bewohner von Haworth wussten nicht, wie ihnen geschah« stand in der begleitenden E-Mail. Oder dieser Brief von einem Paar, das neben ihr wohnte, als sie noch klein war; darin heißt es: »Wir haben sie über den Zaun hinweg immer auf dem Trampolin springen sehen.«

»Klingt ein bisschen wie ein verspäteter Nachruf«, bemerkte Fliss.

»Genau das ist es«, sagte ich und stellte mir vor, wie dürftig mein eigener ausfallen wird: ein paar Absätze in der Universitätszeitschrift, ein paar Zeilen in einer Tageszeitung.

Ich sterbe, Larry. So, jetzt ist es raus. Es hat eine Weile gedauert, aber jetzt kann ich es aussprechen. Nicht in dem Sinne »Wir müssen alle sterben«, das Lieblingsthema der Philosophie-Erstsemester, nein, ganz konkret, buchstäblich. Nicht sofort. Weihnachten werde ich noch erleben, das nächste und übernächste wahrscheinlich auch noch. Das ist mal wieder typisch, nicht wahr? Ich kann noch nicht mal auf dramatische Weise sterben.

Ich frage mich, wie er genau sein wird, der Moment des Ablebens. Wo wird es passieren? Wie wird es sich anfühlen? Die Ehefrau am Sterbebett, die einem die Hand hält – das ist wahrscheinlich die bereinigte TV-Version. Vielleicht werde ich gar nichts davon mitbekommen. Oder, schlimmer, ich werde es mitbekommen, aber es wird vieldeutig und verworren sein: irgendein komplizierter Übergang … ja, wohin? Auch so ein Rätsel, das wir neunmalklugen Wissenschaftler nicht lösen konnten. Ich habe nicht die Absicht, still und würdevoll in die Nacht zu entschwinden, Larry. Es ist Zeit, ehrlich zu sein, reinen Tisch zu machen. In Bezug auf Alice, auf mich, auf alles.

Ich weiß nicht, wie es an deiner Universität zugeht, aber einige Kollegen hier sind ziemlich hochnäsig. »Na, macht das Salmon-Projekt Fortschritte?«, fragte mich heute Morgen einer, ohne seine Verachtung zu verbergen. Aber die können mich alle mal, ich habe mich mein Leben lang um die Anerkennung meiner Kollegen bemüht, obwohl die nur darauf aus sind, einem die Ideen zu stehlen oder sich über deren Schwächen zu erheben. Gott, wie konnte ich jemals die Gesellschaft dieser Leute genießen? Sie sind wie Füchse, die sich gegenseitig am Arsch schnüffeln.

Ich bezweifle, dass hiesige Nachrichten, so tragisch sie auch sein mögen, in deinem Teil der Welt große Beachtung finden, aber es ist durchaus möglich, dass dir Teile dieser Geschichte zu Ohren gekommen sind. Die Medien schlachten die Sache hemmungslos aus, und die wissen nicht mal die Hälfte. Zumindest bisher. Verzeih mir, wenn ich in meiner Schilderung irgendwelche Fakten übersehe, ich werde mich bemühen, nach bestem Wissen und Gewissen zu berichten. Man soll der Geschichte vertrauen, nicht dem Erzähler, hat D. H. Lawrence gesagt – also, du wirst Geduld mit mir haben müssen, denn meine Detailgenauigkeit ist nicht mehr, was sie einmal war. Ich habe dich noch nie belogen, jedenfalls nicht bewusst, aber ich fürchte, ich werde in den nächsten Wochen und Monaten in Versuchung kommen. Trotzdem werde ich standhaft bleiben und selbst die weniger schmeichelhaften Einzelheiten nicht verschweigen, und davon gibt es wahrlich genug. Unwahrheiten, Treulosigkeiten, fixe Ideen, Ausflüchte – wo soll ich anfangen?

In Anbetracht des Zeitpunkts, an dem ich Alice das letzte Mal gesehen habe, muss ich vorsichtig sein, aber es ist kein Grund, um aufzuhören. Zweifellos kann mein Porträt von Alice nicht Anspruch auf Vollständigkeit erheben; hier kommt einem unweigerlich der japanische Ausdruck »kintsugi« in den Sinn – das Zelebrieren der Bruchstellen, die Vorstellung, dass die wieder zusammengesetzte Version eines Gegenstandes Teil von dessen Geschichte wird. Auch das gilt es dabei zu bedenken. Und was Schwanengesänge angeht, es gibt weiß Gott schlimmere.

Und dann heute Morgen diese junge Frau in meinem Büro, die ihr Handy in den Händen hielt, als handelte es sich um ein wertvolles antikes Kunstobjekt. Megan hieß sie, ein hübsches Ding und PR-Fachfrau. »Ich habe sie geliebt«, sagte sie.

Ich konnte nicht anders als mir vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, ihre Hände – rot lackierte Fingernägel – auf mir zu spüren, auf meiner trockenen, blassen Haut. »Und jetzt?«, fragte ich. »Lieben Sie sie jetzt nicht mehr?« Seltsam, wie wir uns mit den Tempi herumplagen. Liebte. Liebe. Kannte. Kenne. Wollte. Will. Freunde von uns – ich bezeichne sie als »Freunde«, obwohl der Kontakt schon lange abgebrochen ist – haben einen ihrer Söhne verloren, als der ein Teenager war. Eine Frage, mit der sie überhaupt nicht umgehen konnten – oder...

Erscheint lt. Verlag 29.2.2016
Übersetzer Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel What she left
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte eBooks • Facebook • Gone Girl • Psychothriller • Soziale Medien • Spiegelbestseller • Thriller
ISBN-10 3-641-16719-1 / 3641167191
ISBN-13 978-3-641-16719-6 / 9783641167196
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