Und draußen stirbt ein Vogel (eBook)
464 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-16441-6 (ISBN)
Hasserfüllt beobachtet er die Autorin Rina Kramer bei ihrer Lesung. Jedes Wort von ihr macht ihn wütend. Sie hat ihn bestohlen, hat seine Ideen und Gedanken geraubt. Er reist ihr nach, findet sie in ihrem idyllischen Landhaus in der Toskana und mietet sich bei ihr ein. Wie ein harmloser Urlauber, aber besessen davon, sie zu vernichten.
Rina ahnt nicht, was der eigentümliche Gast plant. Als sie endlich die Gefahr erkennt, ist es bereits zu spät.
Sabine Thiesler, geboren und aufgewachsen in Berlin, studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete einige Jahre als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne und schrieb außerdem erfolgreich Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher fürs Fernsehen (u.a. Das Haus am Watt, Der Mörder und sein Kind, Stich ins Herz und mehrere Folgen für die Reihen Tatort und Polizeiruf 110). Ihr Debütroman »Der Kindersammler« war ein sensationeller Erfolg, und auch all ihre weiteren Thriller standen auf der Bestsellerliste.
1
Nur eine fahle Leselampe beleuchtete Gesicht, Lesepult und Buch. Der übrige Raum lag im Stockdunkeln.
Sie sprach langsam und sehr leise ins Mikrofon. Niemand bewegte sich oder gab irgendeinen Laut von sich. Es war, als hätte das Publikum aufgehört zu atmen.
Er stand hinten, direkt neben der Tür, konnte den Saal überblicken und wusste ganz genau, dass sie ihn nicht sehen konnte. Dass sie ihn noch niemals, auch nicht bei den vorangegangenen Lesungen, gesehen hatte. Durch die Lampe geblendet, konnte sie kein einziges Gesicht der Zuhörer erkennen. Der Raum lag vor ihr in undurchdringlichem Schwarz.
Von dem, was sie las, kannte er jede Zeile, jedes Wort, er setzte in Gedanken Kommata und Punkte. Sie las gut, das musste er ihr lassen, besser hätte er es auch nicht gekonnt, sie wusste, was sie sagte. Anscheinend hatte sie sich lange und intensiv mit dem Text beschäftigt.
Er schloss die Augen, ließ die Worte auf sich wirken und spürte ein leises Vibrieren, als würde ihr die Stimme versagen. Sein Puls beschleunigte sich. Die Geschichte ging ihr offenbar selbst an die Nieren.
Es wurde dunkel. Die Sonne versank hinter den Bergen und machte ihr Unglück endgültig. Lisa wusste, dass er jetzt ganz bestimmt nicht mehr kommen würde. Nicht in der Nacht. Dennoch hörte sie nicht auf zu hoffen.
Immerhin war die Nacht warm. Schwüle Luft lag über dem Haus wie eine dicke Decke, unter der man kaum atmen konnte. Ihr Herz krampfte sich zusammen, wenn sie an den Streit am Nachmittag dachte. Sonst wäre Leo vielleicht nie weggelaufen.
Sie war schuld. Und Ben hatte keine Ahnung davon. Er hatte Leo stundenlang gesucht, hatte nach ihm gerufen, hatte geweint und geschrien, und jetzt wagte sie es nicht mehr, ihm auch nur einen Ton von dem Streit zu erzählen. Der wegen einer absoluten Nichtigkeit begonnen hatte.
Zwei Zuhörerinnen putzten sich die Nase. Er lächelte. Das war wunderbar. In seinen Träumen hatte er sich vorgestellt, dass sie weinten. Ein unglaubliches Glücksgefühl breitete sich in ihm aus. Die eigenen persönlichen Probleme der Zuhörer waren ein Klacks gegenüber dieser Geschichte. Sie sollten an nichts anderes mehr denken.
Als er Rina zum ersten Mal begegnete, hatte er sie sich jünger vorgestellt. Vermutlich war das Foto in den Büchern mehr als zehn Jahre alt. Erneut schloss er die Augen. Die Stille im Saal war fast unheimlich. Niemand räusperte sich, niemand hustete, kramte in irgendeiner Tasche herum oder knisterte mit einer Bonbontüte. Man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können. Die Zuhörer hatten die Welt vergessen und waren vollkommen gefangen von dem, was Rina Kramer ihnen vorlas.
Nie würde sie darüber hinwegkommen, dass sie es gewesen war, die »Verschwinde!« und »Geh mir aus den Augen!« gebrüllt hatte.
Diesen entsetzten Ausdruck im Gesicht ihres Kindes würde sie nie mehr vergessen. Danach hatte sich Leo einfach umgedreht und war weggelaufen. Aus dem Haus, aus ihrem Leben und vielleicht in den Tod.
Jetzt horchte sie in die Nacht und betete, wie sie noch nie gebetet hatte, aber da war nur Stille. Unendliche, brutale Stille.
In diesem Moment klingelte ein Handy. Das Geräusch fuhr ihm wie ein Stich ins Herz und erschien ihm so laut und durchdringend wie der Feueralarm in einer Grundschule.
Hör auf!, schrie er innerlich, hör endlich auf!, und presste mit aller Kraft beide Hände auf die Ohren.
Welches verdammte Arschloch hatte bei so einer Lesung sein Handy nicht ausgeschaltet?
Er beobachtete jeden Einzelnen im Publikum. Irgendjemand musste ja nach seinem Handy suchen, um es mit zitternden Händen und beschämt zum Schweigen zu bringen.
Aber nichts passierte.
»Was ist hier los?«, schrie er laut und wunderte sich, wie schrill seine Stimme in dem stillen Saal klang. »Welcher Idiot hat sein verdammtes Handy angelassen und ist jetzt noch nicht mal in der Lage oder zu feige, es auszuschalten?«
Eine Frau zuckte zusammen. Sie trug ein beigefarbenes Chanel-Kostüm, eine geschmackvolle Goldkette, kurze, dauergewellte Haare, sah aus wie eine Gymnasiallehrerin für Latein und Geschichte und knipste nun hektisch ihr Handy aus.
»Entschuldigung«, hauchte sie. »Tut mir wirklich leid.«
Er wurde fast ohnmächtig vor Hass. So viel Kaltschnäuzigkeit brachte ihn um den Verstand.
Was für eine dumme Schlampe. Er konnte es nicht fassen.
Aber Rina Kramer meisterte die Situation. Sie sah ins Dunkel und atmete tief ein. Ihm war klar, dass sie versuchte, ihre Konzentration zurückzugewinnen.
Dann las sie leise weiter.
Mein Leben ist zu Ende, dachte Lisa, ich halte es nicht aus, ohne Leo und mit dieser Schuld bin ich nichts, bin ich zerstört. Ihr Mann würde sie hassen. In ihrem Leben gab es niemanden mehr.
Ben stand auf und zog sich die Jacke an. Er war wahnsinnig, er wollte sogar in der Nacht nach draußen und weitersuchen. Sie konnte es verstehen, aber jetzt hatte sie Angst um beide.
Die Frau mit dem verdammten Handy hatte alles kaputt gemacht. Zauber und Atmosphäre der Geschichte waren dahin. Er konnte seine Wut kaum unterdrücken, schaukelte von einem Bein auf das andere und massierte seine Fingerknöchel. Hörte gar nicht mehr zu. Die Worte plätscherten an ihm vorbei.
Jetzt las sie die gesamte Passage von der Nacht, in der sie auf das Kind warteten, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Jedes Wort kannte er auswendig. Es war die stärkste Szene des Buches. Einfach großartig.
Er schloss die Augen und vergaß endlich die Frau mit dem Handy. Ließ sich fallen und hörte nur noch die Geschichte.
Nun kam die Stelle, wo das Käuzchen schrie, Lisa jede Hoffnung aufgab, Leo jemals lebend wiederzusehen, und angstgeschüttelt nur noch darauf wartete, dass ihr Mann irgendwann wiederkam.
»Ich will dich nicht verlieren«, flüsterte sie, »dich nicht auch noch. Auch wenn wir Leo niemals wiederfinden, bleib bei mir, Ben. Bitte, hilf mir. Ich bin so allein.«
Ben stand Stunden später vom Regen völlig durchnässt in der Küche, machte aber keine Anstalten, die Jacke auszuziehen und sich abzutrocknen, reagierte nicht, sagte kein Wort, sondern sah nur stumm aus dem Fenster und starrte in die Nacht.
Sie wusste, dass er nie darüber hinwegkommen und niemals mehr einen Weg zu ihr finden würde.
Rina Kramer blickte auf, atmete tief und deutlich aus, lächelte ein wenig und klappte das Buch zu.
Das war ein Zeichen, das jeder verstand. Die Lesung war beendet.
Niemand rührte sich. Totenstille. Es rückte noch nicht einmal jemand seinen Stuhl zurecht.
Doch nach unendlich langen Sekunden begann jemand zu klatschen. Dann drei, dann zehn, dann fünfzehn Personen, und schließlich gab es donnernden Applaus.
Die Bibliothekarin schaltete das Licht an, und langsam wurde der Saal hell.
Er setzte sich schnell auf den frei gewordenen Stuhl und bemühte sich, hinter dem Rücken seines Vordermannes zu verschwinden.
»Aaaahh!«, sagte Rina. »Danke. Ich danke Ihnen sehr. Das ist wundervoll. Und jetzt sehe ich Sie wenigstens alle und weiß, vor wem ich gelesen habe.« Sie lächelte. »Ich hoffe, meine Lesung hat Ihnen trotz der kurzen Störung gefallen, und ich habe Sie ein bisschen neugierig auf das Buch gemacht. Wenn wir uns jetzt noch etwas unterhalten möchten: herzlich gerne. Ich bin hier, ich habe Zeit, und Sie können mich fragen, was Sie mich immer schon einmal fragen wollten. Und ich verspreche: Ich beantworte alles!«
Niemand rührte sich, denn niemand traute sich, eine Frage zu stellen.
»Nur zu!«, ermunterte Rina die Zuhörer erneut, die zwar immer noch schwiegen, aber auch keine Anstalten machten zu gehen.
»Wir möchten Frau Kramer für diese wunderbare, intensive Lesung herzlich danken«, sagte die Bibliothekarin mit so leiser, zittriger Stimme, dass man sie kaum verstand, obwohl sie in ein Mikrofon sprach.
Was für eine verlogene Tante, dachte er, du hast doch gar nicht richtig zugehört. Ihm wurde schlecht.
Nach einer Pause fragte er mit leiser, aber klarer Stimme: »Woher nehmen Sie eigentlich die Ideen für all Ihre Romane?«
Rina hatte nicht mitbekommen, wer gefragt hatte, aber antwortete sofort. »Es sind eigentlich Kleinigkeiten, die mir auffallen und die zu einer Idee werden. Ein einsames Haus im Wald, ein außergewöhnlicher Charakter oder auch eine Situation. Eine kurze Zeitungsnotiz oder etwas, das man über sieben Ecken von einem Freund erfährt. Wichtig ist, dass mich das Thema tief berührt. Manchmal überlege ich: Wovor hast du Angst? Und dann fallen mir Situationen ein. Und aus der Situation, die mir am wichtigsten ist und die mich am meisten interessiert, versuche ich eine Geschichte zu entwickeln, mit der ich mich dann sehr lange und eigentlich täglich beschäftige.
Man muss über das schreiben, was einem selbst wehtut. Und dass das eigene Kind verschwindet – etwas Schlimmeres kann einem im...
Erscheint lt. Verlag | 11.1.2016 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | eBooks • Einsamkeit • Kindesentführung • Pfarrer • Psychothriller • Schriftstellerin • Spiegelbestseller-Autorin • Stalker • Thriller • Toskana • Verfolgte Frau |
ISBN-10 | 3-641-16441-9 / 3641164419 |
ISBN-13 | 978-3-641-16441-6 / 9783641164416 |
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Größe: 3,3 MB
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