Reise in Polen (eBook)

Fischer Klassik PLUS

(Autor)

Marion Brandt (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2016 | 1. Auflage
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403305-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Reise in Polen -  Alfred Döblin
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Alfred Döblins beeindruckendes Reisejournal aus dem Jahr 1924 Nach pogromartigen Ausschreitungen im Jahr 1923 begann sich Döblin mit seiner jüdischen Herkunft zu beschäftigen und interessierte sich wie viele seiner Zeitgenossen für das sogenannte Ostjudentum. 1924 reiste er nach Polen und porträtierte die junge Republik mit ihrem damals noch blühenden jüdischen Leben. Ein bewegendes Zeugnis aus der Zeit vor dem deutschen Überfall auf Polen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Marion Brandt

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ?Berlin Alexanderplatz?. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Alfred Döblin, 1878 in Stettin geboren, arbeitete zunächst als Assistenzarzt und eröffnete 1911 in Berlin eine eigene Praxis. Döblins erster großer Roman erschien im Jahr 1915/16 bei S. Fischer. Sein größter Erfolg war der 1929 ebenfalls bei S. Fischer publizierte Roman ›Berlin Alexanderplatz‹. 1933 emigrierte Döblin nach Frankreich und schließlich in die USA. Nach 1945 lebte er zunächst wieder in Deutschland, zog dann aber 1953 mit seiner Familie nach Paris. Alfred Döblin starb am 26. Juni 1957.

Die Judenstadt von Warschau


Die Juden: Lautlos hat der Verzicht auf Land und Staatlichkeit ihr Volk durchdrungen. – Die Rückwärtsbewegung, sie ist im Gange.

350000 Juden wohnen in Warschau, halb so viel wie in ganz Deutschland. Eine kleine Menge sitzt verstreut über die Stadt, die Masse haust im Nordwesten beieinander. Es ist ein Volk. Wer nur Westeuropa kennt, weiß das nicht. Sie haben ihre eigene Tracht, eigene Sprache, Religion, Gebräuche, ihr uraltes Nationalgefühl und Nationalbewußtsein.

Aus Palästina, ihrem Stammland, wurden sie vor zwei Jahrtausenden geworfen. Dann trieben sie sich in vielen Ländern herum, teils wandernd, teils gejagt, Händler, Kaufleute, Geldleute, geistig immer in enger Berührung mit dem Wirtsvolk, dabei fest an sich haltend. Teile bröckelten ständig ab, im Ganzen blieb das Volk. Und jetzt ist die Masse seiner Menschen größer als vor zwei Jahrtausenden. Man preßte sie von Süden nach Norden, aus Spanien heraus, wo sie zu Hunderttausenden siedelten, aus Frankreich nach Deutschland, in das Polen- und Russenland hinein. Immer warf sich ökonomischer Haß über sie, Abneigung gegen das fremde Volk, Widerwille, Furcht vor ihrem fremden Kult. Dieses Polen nahm sie im dreizehnten Jahrhundert auf.

Sie gerieten in ein Land, das städtearm war, zwischen Bauern und Adel, übernahmen die Funktionen eines Bürgerstandes. Das Privileg eines Herzogs Boleslaw schützte sie, ließ ihnen ihre Rechtsprechung und innere Selbstverwaltung. Das Privileg wurde mehrfach, auch durch Kasimir den Großen, bestätigt, zuletzt durch den Polenkönig Stanislaus August im 18. Jahrhundert. Einen hohen Grad wirklicher Autonomie besaßen sie. Das Wort ging früh um: »Polen, der Himmel des Adels, das Paradies der Juden, die Hölle der Bauern.« Jedes Jahrhundert erlebte dabei seine Judenhetzen. Die neue Nationalzeit nahm ihnen die Privilegien. Die Minoritäten- und Autonomiepolitik tritt jetzt im anderen Kleid auf.

In dieser Stadt Warschau setzten sie sich an in der Abrahamsgasse im Zentrum, waren vom Handel ausgeschlossen nach dem Magdeburger Recht, das Warschau hatte: handeln dürfen nur Städter und Christen. Sie wurden mehrfach aus der Stadt verjagt, lebten auf den Dörfern unter dem Schutz des Adels. Noch auf dem Großen Reichstag 1788 forderten Warschauer Magistratsdeputierte die Verschärfung aller Judenerlasse. Aber sie blieben vom Adel geschützt. »Es gibt gewisse ökonomische Notwendigkeiten, gegen die alle anderen Faktoren nichts ausmachen.« Mit dreieinhalb Millionen Menschen wächst das Volk heute in Polen.

Die Nalewkistraße läuft im Nordwesten Warschaus im gleichen Zuge mit der Marschallstraße und der Krakauer Vorstadt. Die breite Nalewki ist die Hauptader der Judenstadt. Nach links und rechts laufen von ihr lange Straßen ab mit neuen Querstraßen und Gassen. Und alles gefüllt und wimmelnd von Juden. Elektrische durchfahren die Nalewkistraße. Ihre Häuser haben Fronten wie die meisten Häuser Warschaus, bröcklig, unsauber. Höfe tauchen in alle Häuser hinein. Ich gehe auf einen; er ist viereckig und wie ein Markt von lauten Menschen, Juden, meist im Kaftan, erfüllt. In den Quergebäuden Möbelgeschäfte, Fellgeschäfte. Und wie ich ein Quergebäude durchgehe, stehe ich wieder auf einem wimmelnden Hof, voller Kisten, mit Pferdegespannen; von jüdischen Lastträgern wird auf- und abgeladen. Große Geschäftshäuser beherbergt diese Nalewki. Bunte Firmenschilder zeigen zu Dutzenden an: Felle, Pelze, Kostüme, Hüte, Koffer. In Läden und oberen Stockwerken Geschäfte. Nach der Stadt zu, im Südteil an der Dluga, offene große moderne Läden: Parfümerien, Stempel, Manufaktur. Ich lese sonderbare Namen: Waiselfisch, Klopferd, Blumenkranz, Brandwajn, Farsztandig, Goldkopf, Gelbfisch, Gutbesztand. Man hat den Menschen des geächteten Volkes Spottnamen angehängt. Ich lese weiter: Goldluft, Goldwasser, Feldgras, Oksenberg. Jüdische Frauen gehen in der Menge; sie tragen schwarze Perücken, einen kleinen schwarzen Schleier darüber, vorn eine Art Blume. Einen schwarzen Schal haben sie um. Merkwürdig ein großer modern gekleideter junger Mann mit seiner eleganten Schwester; stolz geht er und trägt eine Judenkappe auf dem Kopf. Auf dem Pflaster Familien im Gespräch: zwei jüngere Männer in sauberen Kaftanen mit ihren modern gekleideten polnisch pikant geschminkten Frauen. Ein Knabe in Matrosentracht dabei, »Torpedo« steht auf seiner Mütze. Ein polnischer Schutzmann leitet auf dem Damm den Wagenverkehr. Dieses Nebeneinander zweier Völker. Junge Mädchen schlendern Arm in Arm her, sehen wenig jüdisch aus, lachen, sprechen jiddisch, tragen sich bis auf die feinen Strümpfe polnisch. Aufrecht spazieren sie. Die Schultern der Männer sind schlaff, die Rücken krumm, der Gang schleppend.

Vormittags. Die auffällige Masse alter weißbärtiger Männer. Viele schmutzige, zerrissene Kaftane. Aus blassen und gelben bärtigen Gesichtern blicken sie. Heftiges Geschäftsleben auf Trottoir und Damm; es lehnen auch viele an den Mauern mit ganz ruhigem, stumpfem Ausdruck. Nebeneinander hocken fünf ganz zerlumpte Männer vor einem Hausflur, Stricke um den Leib gebunden: Träger. Jiddische Zeitungen werden ausgerufen. Aus den großen tiefen Läden steigen Männer, schleppen Säcke. Wie grausig zerlumpt sie sind, Stiefel mit hängenden Sohlen, Ärmel ausgerissen, Nähte geplatzt. Ein Junge führt einen Mann mit weißen toten Augen; sie betteln. Eine alte schmierige Frau drängt sich an die Passanten heran, hält die Hand hin. Vor einem amtlichen Papierosykasten am Straßenbord hocken drei ältere Juden, plaudern, rauchen. Wie viele herumstehen, sich umblicken, warten, warten, warten. Öfter kommt ein Windstoß; dann fliegen ihre langen schwarzen Mäntel auf, die weißen rituellen Schaufäden werden sichtbar. Ein kleiner dicker Mann steht mit einem mächtigen geknoteten Strick um den Leib vor einem Schaufenster, schwarzbärtig, mit gelehrtem Gesicht. Sein fettiger Kaftan und seine Hosen sind ein Fetzen. Manche wandern in kleinen langsamen Trupps.

Die gewaltigen Stofflager. Ich lese die Namen: Sejdenstrumpf, Butterfaß, Tuchwarger, Spiegelglas. Dann Jakob Natur, Israel Gesundheit. Alle dutzend Häuser ein jüdischer Obsthändler; Früchte unter einem Glaskasten. Ein Mann trägt durch die Masse einen Pack Stöcke unter einem Arm. Die wehenden langen Bärte, schwarz und viele rötlichblond. Vorwiegt ein schmächtiger langnasiger Typus. Im dunklen Hintergrund der Läden sitzen immer mehrere, manchmal auf Tischen, essen, debattieren. Karren mit Tuchballen werden gefahren. Ich lese die Namen Amethyst, Diamant, Safir, Goldwasser, Mülstein. Es kommen knallrote Gesichter mit fuchsroten Bärten, breitschultrige Männer. Die Gesiastraße kreuzt die Nalewki, ist schmal, sehr lang, von der Straßenbahn durchfahren. Juden in Droschken mit Kaftan fahren um die Ecke, elegante Damen neben ihnen; Droschken, die Säcke transportieren.

Und da wandert zwischen den andern eine große Erscheinung: ein hochgewachsener Mann in langem Seidenkaftan, mit weißem wallenden zweizipfligen Bart. Einen großen runden Hut hat er auf. Seine Augen blicken stier geradeaus. Er hat einen strengen stolzen Ausdruck. Ein kleiner sauberer Mann neben ihm. Das ist ein Rabbi. Er geht; sie beachten ihn im Handelshaufen nicht. Und nicht weit hinter ihm zieht ein katholisches Begräbnis die Straße herauf. Vorauf rechts und links hohe Laternen mit brennenden Lichtern; hinter dem Wagen Trauernde, einfache Leute, barhäuptig, zuletzt eine einzelne Droschke mit Frauen. Welche verrunzelten Gesichter ich um mich sehe. Sie schnäuzen sich ohne Taschentuch mit der Hand an der Nase, wischen sich am Kaftan ab.

Die Dzikastraße. Das kleine Goldwarengeschäft: ein blühendes Judenfräulein steht an der Tür, die üppigen roten Haare gelockt. In einer Gänseschlachterei arbeitet im Schaufenster eine derbe kleine Frau bis an die Ellbogen in Blut, nimmt eine Gans aus. Tapezierer, Bäcker, Metzger, Tandgeschäfte. Ein fliegender Buchhändler mit jiddischen Schriften. Haufen von Kindern: mir fällt ihr slawischer Typus auf; die jüdischen Züge treten erst später hervor. Langsam schlürft einer mitten über den Damm, ein Mann, einen Stuhl rechts, einen Stuhl links, drei ineinandergeschoben auf dem Kopf. Verblüffend ein ganz schmaler hoher Laden, nur eine Stube, die nach der Straße offen ist. Darin raucht auf einer Bank ein ganz alter Mann, und sein Laden ist von oben bis unten vollgestopft bis zu seinen Füßen mit schrecklichem Abfall, mit rostigem alten Eisen: Schlüssel, Ringe, Drähte, Schlösser. Die Schilder: Kleinfinger, Berlinerblau, Rotblut, Halbstrunk, Tuchband, Zweifuß, Alfabet, Silberklang. Im Arbeitskittel schlendern mit Leitern Maler, Tüncher; Kappen auf dem Kopf. Im Gespräch bewegen diese Menschen Arme und Hände nicht viel; was man im Westen sieht, ist Entstellung. Einige Alte tragen gedrehte Schläfenlocken; in ihren schweren rockartigen Kaftanen sehen sie von hinten wie Weiber aus. Heben auch, wenn sie Pfützen übersteigen, die Röcke wie Weiber auf. Von denen, die hier stehen, haben sehr viele einen träumenden Ausdruck; sind wie unaufgeweckt.

Da schleicht ein uraltes schmutziges Männchen die Wand entlang. Wie ich ihn von vorn besehe, ist er wachsbleich. Den Mund hält er weit offen, das linke Auge ist klein und rot, das Augenlid umgestülpt bloß. Das rechte Auge aber sperrt er auf, es ist weißlich. Er tastet mit dem Stock in seiner linken Hand vor sich. So tappt er die verfallene Mauer entlang am hellen Mittag. Ein kleiner jüdischer Stiefelputzer erspäht mich, schießt auf mich zu, zieht mich von der Straße an den Hauseingang. Blitzschnell bearbeitet er mit Stößen der...

Erscheint lt. Verlag 21.1.2016
Reihe/Serie Fischer Klassik Plus
Nachwort Marion Brandt
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1924 • Bericht • Erinnerung • Geschichte • Gesellschaft • Juden • Lemberg • Lodz • Pogrom • Polen • Reise • Reisebericht • Reportage • Warschau • Wilno
ISBN-10 3-10-403305-6 / 3104033056
ISBN-13 978-3-10-403305-1 / 9783104033051
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