Herr Lehmann (eBook)

Ein Roman

(Autor)

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2015 | 1. Aufl. 2015
300 Seiten
Eichborn (Verlag)
978-3-7325-0463-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Herr Lehmann - Sven Regener
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Mit präzisem Blick für die tragische Komik des Lebens stolpert Herr Lehmann durchs Leben. Durch jahrelange, ausgefuchste Ausweichmanöver und heroische Trägheit hat der arglistfreie, bis ins Mark ambitionslose Bierzapfer erfolgreich Ansprüche von Eltern, Vermietern, Nachbarn und Frauen ausgesessen. Nun, wir schreiben das Jahr 1989, lebt er weitgehend störungsfrei in seiner Eineinhalbzimmerwohnung in Kreuzberg, wenn er nicht in die nächste Kneipe geht. Doch plötzlich bricht eine unvorhergesehene Störung nach der anderen in seinen heißgeliebten Alltagstrott. Herr Lehmann muss nicht nur sein Revier gegen einen wurstförmigen Hund verteidigen, der ihn am Überqueren des Lausitzer Platzes hindert, er wird auch vom Besuch seiner Eltern aus der Provinz bedroht, trifft in der Markthalle auf eine Frau, der es gelingt, ihn zu einem Besuch des Prinzenbads zu verführen und in emotionale Verwirrung zu stürzen. Zu allem Überfluss wird er zudem durch widrige Umstände gezwungen, eine Reise an den Kurfürstendamm anzutreten und den Versuch einer Grenzüberschreitung gen Osten vorzunehmen.

1. DER HUND


Der Nachthimmel, der ganz frei von Wolken war, wies in der Ferne, über Ostberlin, schon einen hellen Schimmer auf, als Frank Lehmann, den sie neuerdings nur noch Herr Lehmann nannten, weil sich herumgesprochen hatte, dass er bald dreißig Jahre alt werden würde, quer über den Lausitzer Platz nach Hause ging. Er war müde und abgestumpft, er kam von der Arbeit im Einfall, einer Kneipe in der Wiener Straße, und es war spät geworden. Das war kein guter Abend, dachte Herr Lehmann, als er von der westlichen Seite her den Lausitzer Platz betrat, mit Erwin zu arbeiten macht keinen Spaß, dachte er, Erwin ist ein Idiot, alle Kneipenbesitzer sind Idioten, dachte Herr Lehmann, als er an der großen, den ganzen Platz beherrschenden Kirche vorbeikam. Ich hätte die Schnäpse nicht trinken sollen, dachte Herr Lehmann, Erwin hin, Erwin her, ich hätte sie nicht trinken sollen, dachte er, als sich sein Blick zerstreut in den Maschen der hohen Umzäunung des Bolzplatzes verfing. Er ging nicht schnell, die Beine waren ihm schwer von der Arbeit und vom Alkohol. Das mit dem Schnaps war Quatsch, dachte Herr Lehmann, Tequila und Fernet, morgen früh wird es mir schlecht gehen, dachte er, Arbeiten und Schnapstrinken verträgt sich nicht, alles, was über Bier hinausgeht, ist falsch, dachte er, und gerade ein Typ wie Erwin sollte seine Angestellten nicht noch zum Schnapstrinken überreden, dachte Herr Lehmann. Er kommt sich noch großzügig dabei vor, wenn er die Leute zum Schnapstrinken überredet, dachte Herr Lehmann, dabei tut er das bloß, um selbst einen Vorwand zum Saufen zu haben, aber andererseits, dachte er, ist es auch nicht richtig, die Verantwortung auf Erwin abzuwälzen, am Ende ist man immer selber schuld, wenn man Schnaps trinkt.

Der Mensch ist ein Wesen mit freiem Willen, dachte Herr Lehmann, als er sich der anderen Seite des Lausitzer Platzes näherte, jeder muss selber wissen, was er tut und was nicht, und nur weil Erwin ein Depp ist und einen zum Schnapstrinken überredet, heißt das noch lange nicht, dass Erwin schuld ist, dachte er, aber er dachte auch mit Genugtuung an die Flasche Whisky, die er heimlich hatte mitgehen lassen und die in der großen Innentasche seines langen, für einen Septembertag im Grunde viel zu warmen Mantels steckte. Er selbst hatte zwar keine Verwendung für Whisky, denn er trank ja im Prinzip schon lange keinen Schnaps mehr, aber Erwin musste immer mal wieder bestraft werden, und Herr Lehmann konnte die Flasche zur Not seinem besten Freund Karl schenken.

Dann sah er den Hund. Herr Lehmann, wie sie ihn neuerdings nannten, obwohl die, die das taten, auch nicht viel jünger waren, obwohl tatsächlich einige von ihnen, sein bester Freund Karl und auch Erwin zum Beispiel, sogar älter waren als er, kannte sich mit Hunderassen nicht aus, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass man so ein Tier mit Absicht züchtete. Der Hund hatte einen großen Kopf mit einer mächtigen, sabbernden Schnauze und zwei großen, lappigen Ohren, die links und rechts davon herunterhingen wie zwei welke Salatblätter. Sein Rumpf war fett, und sein Rücken so breit, dass man darauf eine Flasche Whisky hätte abstellen können, seine Beine waren dagegen unverhältnismäßig dünn, sie ragten aus dem Körper heraus wie abgebrochene Bleistifte. Herr Lehmann, der es nicht übermäßig witzig fand, dass man ihn jetzt so nannte, hatte noch nie ein so hässliches Tier gesehen. Er erschrak und blieb stehen. Er traute Hunden nicht. Und der Hund knurrte ihn an.

Jetzt bloß nichts falsch machen, dachte Herr Lehmann, der andererseits aber auch keinen Sinn darin sah, sich wegen einer albernen Anrede groß aufzuregen, immer fest in die Augen schauen, das schüchtert sie ein, dachte er und konzentrierte seinen Blick auf die beiden schwarzen, blanken Löcher im Schädel seines Gegenübers. Der Hund zog im Rhythmus seines Knurrens die Lefzen hoch und runter und starrte zurück. Sie hatten etwa drei Schritte Abstand voneinander, der Hund bewegte sich nicht, und Herr Lehmann bewegte sich auch nicht. Nicht wegsehen, dachte Herr Lehmann, nichts anmerken lassen, einfach vorbeigehen, dachte er und machte einen Schritt zur Seite. Der Hund knurrte noch lauter, es war ein bösartiges, nervtötendes Geräusch. Bloß nichts anmerken lassen, das Tier spürt die Angst und nutzt sie aus, dachte Herr Lehmann, noch ein kleiner Schritt zur Seite, dachte er, nicht aus den Augen lassen, noch ein kleiner Schritt, und dann noch einer, so, und dann gleich geradeaus, dachte Herr Lehmann. Aber dann ging der Hund einfach auch ein Stück zur Seite, und sie standen sich wieder gegenüber.

Er will mich nicht vorbeilassen, dachte Herr Lehmann, der seinen bald stattfindenden dreißigsten Geburtstag nicht gerade als rauschendes Fest zu feiern gedachte, gerade weil er davon überzeugt war, dass das bloß ein Geburtstag war wie jeder andere auch, und er hatte seine Geburtstage noch nie gerne gefeiert. Das ist doch lächerlich, so etwas darf es gar nicht geben, dachte er, ich habe ihm doch gar nichts getan. Er sah die großen, gelben Zähne, und es schauderte ihn bei der Vorstellung, wie sie von den riesigen Kiefern des Hundes in eines seiner Beine, in einen Arm, in seinen Hals geschlagen wurden, ja sogar um seine Hoden wurde ihm angst und bange. Wer weiß, was das für einer ist, dachte er, vielleicht ist der auf irgendwas abgerichtet, ein Killerhund, ein Hodenbeißer, einer, dachte er, der die Schlagader im Arm trifft, und dann verblutet man hier mitten auf dem Lausitzer Platz, es ist ja niemand da, der Platz ist menschenleer, dachte er, wer soll sich so früh am Sonntagmorgen schon hier herumtreiben, die Kneipen sind ja alle schon geschlossen, es ist ja immer das Einfall, das am allerspätesten zumacht, vom Abfall einmal abgesehen, aber das zählt nicht, dachte er, um diese Zeit treiben sich ja bloß noch Verrückte herum, geisteskranke Berliner mit abgerichteten Killerhunden, Perverse, die sich im Gebüsch einen runterholen, während sie sich ansehen, dachte Herr Lehmann, wie ihre beißwütigen Hunde ihr tödliches Spiel mit mir treiben.

»Wem gehört dieser Hund hier?«, rief er über den leeren Platz, »WEM GEHÖRT DIESER VERDAMMTE SCHEISSHUND?«, aber niemand meldete sich. Nur der Hund knurrte noch lauter und verdrehte seinen Kopf so, dass die Augen rot glühend schimmerten.

Es ist bloß die Netzhaut, beruhigte sich Herr Lehmann, es ist bloß die blöde Netzhaut, er hat den Kopf verdreht, und jetzt fällt das Licht so in seine Augen, dass es von der Netzhaut in meine Richtung reflektiert wird, dachte er, es ist die Netzhaut, die ist rot, Karotin, Vitamin A und so Zeug, das ist ja bekannt, dass das gut für die Augen ist, dachte er, er hatte daran eine dunkle Erinnerung aus seiner Schulzeit, er war immer gut in Biologie gewesen, aber das war nun auch schon lange her, Biologie, dachte Herr Lehmann, Biologie hilft jetzt auch nicht mehr weiter, ich muss hier weg, und es erfüllte ihn ein nie zuvor gekanntes Verlangen nach seinem Zuhause, einer Eineinhalbzimmerwohnung in der Eisenbahnstraße, wo seine Bücher und sein leeres Bett auf ihn warteten, keine hundert Meter entfernt von der Stelle, an der jetzt ein völlig fremder Hund sein Leben bedrohte.

Wenn er mich nicht vorbeilässt, dachte Herr Lehmann, den sie früher alle ganz normal Frank genannt hatten, bis eben dieser kindische Witz, ihn mit Herr Lehmann anzureden, um sich gegriffen hatte, dann muss ich eben zurückgehen. Und er sah im Geiste schon die Stationen des Umwegs, den er nehmen musste, um die tollwütige Bestie des Lausitzer Platzes weiträumig zu umgehen, Waldemarstraße, Pücklerstraße, Wrangelstraße und dann von der anderen Seite kommend in die Eisenbahnstraße hinein, das ist ein Kinderspiel, dachte er, manchmal ist ein Rückzug besser als ein Angriff, dachte Herr Lehmann, ein taktisch kluger Rückzug kann strategisch zum Sieg führen. Umzudrehen traute er sich dabei nicht, bloß nicht umdrehen, dachte er, immer dem Tier in die Augen sehen, und er machte vorsichtig kleine Schritte rückwärts, und der Hund machte knurrend kleine Schritte vorwärts. Bloß nichts überstürzen, dachte Herr Lehmann, der sich schon sehr auf das Fußbad gefreut hatte, das er sich seit einiger Zeit immer nach der Arbeit gönnte, obwohl er sich in seinem jetzigen Zustand nicht sicher war, ob er das noch hinkriegen würde, bloß nichts überstürzen, dachte er und widerstand der Versuchung, sich einfach umzudrehen und davonzulaufen, das wäre fatal, dachte er, der Hund ist schneller als ich, der springt mich von hinten an, dachte er, und dann kann man sich überhaupt nicht mehr schützen, das ist nicht gut. Nach ein paar weiteren Schritten brach der Hund, der sein Knurren jetzt schon mit einem gelegentlichen Bellen anreicherte, seitlich aus und schlich geduckten Hauptes um ihn herum, sodass Herr Lehmann, um die Bestie nicht aus den Augen zu lassen, sich auf dem Absatz drehen musste, bis sie sich schließlich genau andersherum gegenüberstanden. Dann eben in die andere Richtung, dachte Herr Lehmann, da wollte ich sowieso hin. Er machte wieder einige Schritte zurück, und das ganze Spiel lief umgekehrt noch einmal ab, der Hund lief um ihn herum, Herr Lehmann drehte sich mit, und am Ende standen sie wieder in der Ausgangsposition. Ich muss mit ihm reden, dachte Herr Lehmann.

»Hör mal«, begann er leise mit tiefer und, wie er hoffte, beruhigender Stimme. Der Hund setzte sich. Das ist schon mal gut, dachte Herr Lehmann. »Ich verstehe dich ja«, sagte er, »du hast es auch nicht leicht.« Er griff in die Taschen seines Mantels auf der Suche nach irgendetwas, das er dem Hund schenken konnte, manchmal, dachte er, hilft nur Bestechung, es muss ja nicht gleich etwas zu essen sein, dachte er, vielleicht will er ja bloß spielen, die Besitzer solcher Hunde sagen ja immer, dass sie bloß spielen wollen, vielleicht...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2015
Reihe/Serie Die Lehmann-Trilogie
Die Lehmann-Trilogie
Die Lehmann-Trilogie
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1980 • 1980er • 1990er • 80er • 89 • Achtziger • Alfred Döblin • Angst • Ängste • Barrieren • Benjamin von Stuckrad Barre • Benjamin von Stuckrad-Barre • Berlin • Berlin Alexanderplatz • Besonders • block • Boxen • Boxer • Bremen • Bridget Jones • Bücher • Bude • Chick Lit • chick lit deutsch • Comedy • Culture Clash • Dekadenz • Erzählung • Existenz • Frauenroman • Freche Frauen • Freiheit • Gesellschaft • Gesellschaftsroman • Grenzen • Großstadt • Großstadtroman • Hauptstadt • Hausbesetzer • Havelland • Heimat • Herkunft • Herrendorf • Herrndorf • Humor • Humor Bestseller • Humor Geschenkbuch • humorvolle Romane • Imigration • Inklusion • Integration • interessant • Ironie • Kalter Krieg • Kampf • Kerstin Gier • Kiez • Kneipe • Kneipentour • Komik • Komödie • Kreuzberg • Kultur • Kulturkomödie • Künstler • Lachen • Leben • Lebensart • Lebensweisen • Liebe • Liebeskummer • Litcom • Literatur • lustig • lustige Romane • lustiges Buch • Mauer • Mauerfall • Mitte • Mr. Right • multikulturell • Multikulur • Musik • Neunzehnhunderachtziger • Neunziger • Ostberlin • Osten • Panikherz • Party • Patchwork • Pop • Punks • Ring • Roman • Romane • Roman Stadt • Romantic Comedy • Russendisko • Sarkasmus • Sitten • skurril • Sonnenallee • Sonstige Belletristik • Späti • Städteroman • Stadtroman • Stuckrad Barre • Stuckrad-Barre • Szene • Traummann • Treue • tschick • Unterhaltung • Unterschicht • Verdener Heide • Viertel • Wedding • Wehrdienst • Westberlin • Westen • Wettkampf • WG • Witz • witzig • witzige Bücher • Wladimir Kaminer • Wohngemeinschaft • Wolfgang Herrendorf • Wolfgang Herrndorf
ISBN-10 3-7325-0463-8 / 3732504638
ISBN-13 978-3-7325-0463-3 / 9783732504633
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