Atlantische Fahrt (eBook)

»Rio - Residenz des Weltgeistes«

(Autor)

Detlev Schöttker (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
196 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-10574-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Atlantische Fahrt -  Ernst Jünger
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Im Jahr 1936 unternahm Ernst Jünger mit dem Hamburger Luxusdampfer »Monte Rosa« eine knapp zweimonatige Reise nach Brasilien. Die Stationen und Ereignisse hat er in einem Tagebuch festgehalten, das 1947 unter dem Titel »Atlantische Fahrt« als erste Publikation Jüngers nach dem Zweiten Weltkrieg erschien. Neben exotischen Pflanzen, Tieren und der Landschaft des Amazonas galt sein Interesse vor allem den aufstrebenden Metropolen des Landes. Die Neuausgabe enthält neben Jüngers Tagebuch bislang unveröffentlichte Reisebriefe Jüngers an seinen Bruder Friedrich Georg sowie unbekannte Eintragungen aus dem handschriftlichen Tagebuch. Diese werden durch zeitgenössische Fotografien illustriert. In einem Nachwort geht der Herausgeber auf die Bedeutung der Reise und des Buches in Jüngers Leben und Werk ein.

Ernst Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. 1901-1912 Schüler in Hannover, Schwarzenberg, Braunschweig u. a. 1913 Flucht in die Fremdenlegion, nach sechs Wochen auf Intervention des Vaters entlassen 1914-1918 Kriegsfreiwilliger 1918 Verleihung des Ordens »Pour le Mérite«. 1919-1923 Dienst in der Reichswehr. Veröffentlichung seines Erstlings »In Stahlgewittern«. Studium in Leipzig, 1927 Übersiedlung nach Berlin. Mitarbeit an politischen und literarischen Zeitschriften. 1936-1938 Reisen nach Brasilien und Marokko. »Afrikanische Spiele« und »Das Abenteuerliche Herz«. Übersiedlung nach Überlingen. 1939-1941 im Stab des Militärbefehlshabers Frankreich. 1944 Rückkehr Jüngers aus Paris nach Kirchhorst. 1946-1947 »Der Friede«. 1950 Übersiedlung nach Wilflingen. 1965 Abschluß der zehnbändigen »Werke«. 1966-1981 Reisen. Schiller-Gedächtnispreis. 1982 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/Main.1988 Mit Bundeskanzler Kohl bei den Feierlichkeiten des 25. Jahrestags des Deutsch-Französischen Vertrags. 1993 Mitterrand und Kohl in Wilflingen. 1998 Ernst Jünger stirbt in Riedlingen.

Ernst Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. 1901–1912 Schüler in Hannover, Schwarzenberg, Braunschweig u. a. 1913 Flucht in die Fremdenlegion, nach sechs Wochen auf Intervention des Vaters entlassen 1914–1918 Kriegsfreiwilliger 1918 Verleihung des Ordens »Pour le Mérite«. 1919–1923 Dienst in der Reichswehr. Veröffentlichung seines Erstlings »In Stahlgewittern«. Studium in Leipzig, 1927 Übersiedlung nach Berlin. Mitarbeit an politischen und literarischen Zeitschriften. 1936–1938 Reisen nach Brasilien und Marokko. »Afrikanische Spiele« und »Das Abenteuerliche Herz«. Übersiedlung nach Überlingen. 1939–1941 im Stab des Militärbefehlshabers Frankreich. 1944 Rückkehr Jüngers aus Paris nach Kirchhorst. 1946–1947 »Der Friede«. 1950 Übersiedlung nach Wilflingen. 1965 Abschluß der zehnbändigen »Werke«. 1966–1981 Reisen. Schiller-Gedächtnispreis. 1982 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/Main.1988 Mit Bundeskanzler Kohl bei den Feierlichkeiten des 25. Jahrestags des Deutsch-Französischen Vertrags. 1993 Mitterrand und Kohl in Wilflingen. 1998 Ernst Jünger stirbt in Riedlingen. Detlev Schöttker, geboren 1954, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der TU Dresden. 2011 war er Gastprofessor in Rio de Janeiro. 2010 veröffentlichte  er als Begleitbuch zur Marbacher Ausstellung den Band »Im Haus der Briefe. Autoren schreiben Ernst Jünger 1945–1991«.

Hamburg, 19. Oktober 1936

Goslar; der Stadtwall im Abschiedskleid: in den Farben des Herbstlaubes. Gegen Mittag in Hamburg. Tiefer, einsamer Schlaf im Hotelzimmer: seine Dämonie. Abends in »Spechts Weinstuben«, harmonisch, ohne das übliche Hin und Her zwischen Hippodromen und chinesischen Garküchen, mit den stachligen Diskussionen darum. Gespräch über den Tod, an dem sich Albrecht Erich Günther, Weinreich, Stapel und Ziegler beteiligten.

An Bord, 20. Oktober 1936

Im Wartesaal Begegnung mit Ursula L., auf Grund eines Briefwechsels. Da ich den Vornamen als »Ulrich« entziffert hatte, erwartete ich einen Knaben, etwa einen Sekundaner, und war durch die Erscheinung des Mädchens überrascht.

In einer kleinen Hafenwirtschaft erquickte ich mich dann an einem indischen Reisgerichte, dessen Würzung einen befahrenen Koch verriet. Gegen halb vier Uhr fuhr die »Monte Rosa« von der Überseebrücke ab. In der Kabine fand ich zu meinem Entsetzen einen tollen Schwätzer, der mir einen einstündigen Vortrag über die Kunst des Kofferpackens hielt. Zum Glück gelang es mir, mich seiner Gesellschaft zu entledigen, indem ich den Steward bestach.

An Bord, 21. Oktober 1936

Mein Tischnachbar: flache, doch liebenswürdige Intelligenz. Den großen Speisesaal hellt eine Art von Ferienstimmung auf, von frohgemuter Aussicht, von Freiheit aus der guten alten Zeit der Kindheitserinnerung. Beim Frühstück taucht backbords das Feuerschiff von Terschelling aus hellgrauen Regenschleiern auf. Ein wenig später huscht ein Schwarm von Strandläufern dicht über die trübgrünen Wogen, in einsamem und wagnishaftem Fluge durch den feuchten Dunst.

An Bord, 23. Oktober 1936

Zur Linken blieb die französische Küste mit ihren vorgelagerten, gezackten Inseln hinter uns. Die Farbe des Meeres vertieft sich zu einem stumpfen, fast schwarzen Blau.

An Bord, 24. Oktober 1936

Ich versuchte in meinem neuen Buch zu lesen, von dem ich ein Stück aus Hamburg mitgenommen hatte, und warf es dann über Bord. Es tauchte, ohne eine Spur zu hinterlassen, in den kristallenen Schaum. Woher mag dieser Widerwille kommen, kaum daß die Arbeit abgeschlossen ist? Daraus, daß die Idee stets unerreichbar bleibt und vor dem Traumesglanz die Niederschrift verblaßt?

Merkwürdig bleibt der starke Trieb zu diesen Kompositionen, die, wenn nicht das Wasser, so doch das Feuer verzehren wird, falls sie nicht längst im Schatten der Vergessenheit vermodert sind. Wozu dann diese Anspannung des Geistes, das Wägen der Silben wie beim Eidschwur und auch die Furcht wie vor den Schranken eines bedeutenden und mächtigen Gerichts? Sicher verbirgt sich, wenn etwas transzendiert, in diesem Mühen und Ringen an den Grenzen des Wortes das Überzeitliche, und nicht im ausgeprägten Werk. Die Feder des Autors ist mit einem Storchschnabel verbunden – der zieht die wahren Linien im Unsichtbaren aus. Dort ists getan.

An Bord, 25. Oktober 1936

Hesperische Wärme. Wir suchen den Frühling in seinen Residenzen auf.

Am Horizont kreist ein dunkler Vogel mit schmalen Schwingen von Sensenform. Zuweilen taucht er in die Wogentäler, in Bogen segelnd, bei denen er oft auf der Spitze des Flügels steht. Welch kühner Gedanke, der dieses Leben in seiner unerhörten Einsamkeit erfand.

Ponta Delgada, 27. Oktober 1936

Zwei Tage lag das Schiff vor Ponta Delgada, dem Hauptort der Azoreninsel São Miguel. Bestellte Felder, weiße Gehöfte breiten sich vor dem dunklen Hintergrunde vulkanischer Ketten aus. Wie immer beim Anblick von Inseln hatte ich ein heimatliches, ein wiedererkennendes Gefühl.

An Land, in einem kleinen Boot. Beim Landen genoß ich einen jener Augenblicke gewaltig anschießender Einsicht, die allzu selten sind – und zwar bei der Betrachtung einer leichten Woge, die sich im Sonnenglanz der Mole entfaltete. In ihrem klaren, blaugrünen Lebensschimmer erkannte ich die ungeheure Tiefe und Fruchtbarkeit des Elementes, die hohe Fülle der Heiterkeit, die in neptunischen Palästen wohnt. Wenn unsere Augen immer diese Sehkraft zierte, dann würden wir, wie die Alten, an der Tafel der Götter zugelassen sein. Doch ist sie wohl nur der Vorschmack einer unvergänglicheren Welt.

Ich lernte hier viele neue Pflanzen kennen; und andere, die mir bislang nur in den Gärten und Treibhäusern begegnet waren, sah ich in freier Natur. So Palmen, deren Stämme wie auf den Hals gestellte Flaschen sich erhoben, und andere, die ein Unterbau von Stelzen trug. Eine baumförmige Datura, deren rosa Flor als Glockenspiel im Winde schaukelte, schmückte die Gärten neben einer Euphorbie, deren giftgrüne Büsche von grellroten Scheinblüten wie von leuchtenden Präsentiertellern überhöht wurden. Zu ihren Füßen streckte eine große scharlachene Lilie die Staubgefäße wie Löwenzungen vor. Noch fremder wirkten die hartgeschuppten Zweige ungeheurer Araukarien, die sich wie Schnüre ausbreiten, und die starren Wedel der Drachenbäume, denen, wenn sie verwundet werden, blutrotes Harz entquillt. Das ist ein Hintergrund für Saurier und Echsen, von denen ich freilich nur eine zierliche Vertreterin in einer Mauerfuge sah. Sie war schwarz mit vier lederweißen Rückenstreifen, und auch die kleinen Tatzen waren weiß gescheckt.

Selbst an den Rainen blühten Gewächse, wie man sie bei uns nur in Ziergärten sieht, wie die Lantana, deren violette Dolde einen Kern von gelben Blüten trägt. Während ich durch die Felder einem der Haine von hohen Lorbeerbäumen zustrebte, erquickte ich mich herzhaft an dieser Pracht. Ich fing dabei zur Probe und zur Bereicherung meines Jagdbuches auch einige Coleopteren, ohne besonders danach auf Suche zu gehn. Zu ihrer Bestimmung will ich die Werke des Engländers Wollaston zu Rate ziehen, der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts mit der Yacht eines reichen Freundes die atlantischen Inseln besuchte und ihre Fauna erforschte und beschrieb.

Auffällig sind ungeheure Hecken aus hohen Bäumen, die manche Felder rechteckig umfrieden; sie sollen die Teepflanzungen schützen, die gegen Wind empfindlich sind. An Sonnenhängen leuchten die weißgetünchten Scheiben der Kalthäuser, in denen man Ananasse zieht. Um auszureifen, bedürfen sie nur eines geringen Schutzes, dessen Gewährung durch die billigeren Frachten reichlich aufgewogen wird.

Am Strand, zu einem Seebade. Es war nicht einfach, eine freie Stelle zu finden, da ein zackiger Lavagürtel die Küste dunkel umschnürt. Auch der Sand ist schwarz wie Kohle, da er aus gepulverter Lava besteht. Das teilt dem Strandvergnügen eine melancholische Note mit.

Nahe der Stadt verrosten die Trümmer zerschossener Öltanks; auch zerfällt auf den Klippen das Wrack eines Dampfers, der von einem deutschen Unterseeboot gejagt wurde. Ich fand die Erinnerung an diese Episode aus dem Weltkrieg noch um so lebendiger, als die Beschießung einige Kinder, die am Strande spielten, das Leben kostete. An diesem friedlichen Gestade hat das einen außerordentlichen Eindruck hinterlassen, als Offenbarung einer fremden, dämonisch-bösartigen Welt.

Und dennoch schien mir, auf der anderen Seite, der ferne Archipel ein Sinnbild unserer Lage: als eine Kette von Vulkanen, die sich an den äußersten Grenzen Europas inmitten endloser Einöden erhebt.

An Bord, 30. Oktober 1936

Wieder an Bord des Schiffes, das nun vor den Ufern des Amazonas kein Land berühren wird.

Seit gestern vergnüge ich mich mit dem Studium der Fliegenden Fische, die bald hinter den Azoren auftauchten. Sie schießen vor dem Bug des Schiffes, zuweilen einzeln, häufiger noch in Schwärmen, aus dem Wasser auf. Die ersten, die ich erblickte, waren ziemlich klein; sie schienen mir kaum spannenlang. Auch glaubte ich zunächst an einen Augentrug, an ein reines Erzeugnis der Phantasie. Als sich jedoch das Schauspiel wiederholte und größere Tiere aufstiegen, prägte sich mir bald der Ablauf des Fluges ein. Der Fisch erhebt sich pfeilschnell aus dem Meer und schwebt flach über seinen Spiegel hin. Bevor er sich ablöst, wirbelt der Schwanz noch eine Weile wie eine Schraube auf dem Wasser, dann fliegt der Körper, wie aus einer Schleuder abgeschossen, durch die freie Luft. Im Anfang der Bahn perlt eine Doppelkette von Wassertropfen von den ausgespannten Flossen ab. Nach einer oft ausgedehnten Fahrt, bei der auch Bögen beschrieben werden, taucht der Fisch mit angelegten Flossen wieder ein. Die See spritzt dabei wie unter dem Einschlag eines Geschosses auf.

Kleinere Stücke waren perlgrau opalisierend mit blaugrün schimmerndem Flossengrunde; bei größeren belebten sich die Farben und nahmen Lichter des Pfauenhalses an. Die Form erinnert mehr an eine große Heuschrecke als an einen Fisch. Der hohe Grad von Prägung, von Ausgeformtheit, der dem Schauspiel innewohnt, läßt eher ein Insekt vermuten als ein Wirbeltier.

Es ist schon recht schön warm geworden; heut morgen betrugen sowohl die Luft- als auch die Wassertemperatur 24 Grad Celsius. An Deck ist ein Schwimmbad errichtet, in dem man sich jetzt gern erfrischt.

Unter der gemischten Gesellschaft, die heutzutage nach Phäakenart die Meere durchquert, machte ich einige Bekanntschaften, darunter die von St., mit dem ich die Stunden des Sonnenbades im Liegestuhl verplaudere. Er würde in einen Roman von Joseph Conrad passen, war früh Waise, ging dann zur See und machte den Weltkrieg auf Schiffen mit. Im Frieden betrieb er seltsame Geschäfte, war Mitglied kommunistischer Orden und scheint noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt. Bei solchen Naturen steigen in der Unterhaltung zuweilen fremdartige Gebilde wie...

Erscheint lt. Verlag 29.8.2013
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1936 • 1947 • 20. Jahrhundert • Amazonas • Brasilien • Briefe • Detlev Schöttker • Deutsche Literatur • Egodokument • Erinnerungen • Fotografie • Friedrich Georg Jünger • Memoire • Monte Rosa • Photographie • Reisetagebuch • Rio de Janeiro • Südamerika • Tagebuch • Tagebücher
ISBN-10 3-608-10574-3 / 3608105743
ISBN-13 978-3-608-10574-2 / 9783608105742
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