Die Lebenspraktikanten (eBook)

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2012 | 1. Auflage
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402664-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Lebenspraktikanten -  Nikola Richter
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Nikola Richter schreibt über die Generation Praktikum: »Ich möchte den Alltag meiner Generation in Geschichten schildern, die nicht fiktiv sind. Sie sind erlebt, ihnen liegt eine Wahrheit zugrunde. Es sind Geschichten über die Liebe und das Arbeiten, über das Scheitern und den Erfolg.« Ihre Helden sind wach und beweglich, hungrig und kreativ, die »Um-die-Dreißigjährigen« - die professionellen Lebenspraktikanten. Nikola Richter erzählt von unserer Gegenwart, die nichts Sicheres mehr kennt außer dem Wandel, von den flexiblen Menschen, die sich täglich neu erfinden. Die Welt steht uns offen, wir sind behütet aufgewachsen, gesund ernährt und bestens ausgebildet, mobil, mehrsprachig, ideologisch unverdorben und informationstechnisch auf dem neues Stand - wir sind bereit und bestens gerüstet, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Erwachsen zu werden. Wir sind Meister der Anpassung an eine Gegenwart, die außer dem Wandel nichts Stetiges mehr kennt. Wir sind flexibel durch und durch, erfinden uns täglich neu. Wir sind professionelle Lebenspraktikanten mit mehreren Visitenkarten. Wir bleiben jung. Vermutlich für immer. Vorbilder? Orientierung? Tempi passati!

Nikola Richter, 1976 in Bremen geboren, studierte Germanistik, Anglistik und Komparatistik in Tübingen, Norwich und an der Freien Universität Berlin. Sie hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter die Lyrik-Bände ?roaming? (2004) und ?die do-re-mi-maschine? (2009) in der Lyrikedition2000, sowie ?Die Lebenspraktikanten? (2006) im Fischer Taschenbuch Verlag und die Kurzgeschichten ?Schluss machen auf einer Insel? (2007) im Berlin Verlag. Darüber hinaus konzipiert und betreut sie Blogs für kulturelle und politische Themen etwa das ?Theatertreffen-Blog? und ?Superdemokraticos? und schreibt journalistische Texte für Print und Online. Nikola Richter lehrt an der Freien Universität im Modul ?Literatur und Medien? im Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft. Sie lebt seit 1999 in Berlin.

Nikola Richter, 1976 in Bremen geboren, studierte Germanistik, Anglistik und Komparatistik in Tübingen, Norwich und an der Freien Universität Berlin. Sie hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, darunter die Lyrik-Bände ›roaming‹ (2004) und ›die do-re-mi-maschine‹ (2009) in der Lyrikedition2000, sowie ›Die Lebenspraktikanten‹ (2006) im Fischer Taschenbuch Verlag und die Kurzgeschichten ›Schluss machen auf einer Insel‹ (2007) im Berlin Verlag. Darüber hinaus konzipiert und betreut sie Blogs für kulturelle und politische Themen etwa das ›Theatertreffen-Blog‹ und ›Superdemokraticos‹ und schreibt journalistische Texte für Print und Online. Nikola Richter lehrt an der Freien Universität im Modul ›Literatur und Medien‹ im Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft. Sie lebt seit 1999 in Berlin.

Existenzminimum


Immer, wenn Linn Nils trifft, trägt er dieselbe Strickjacke, dieselben Turnschuhe, dieselbe Tasche, denselben dunklen Schal mit ausgewaschenem Logo, einen Fanartikel seines heimatlichen Sportvereins, aus dem er natürlich schon vor Jahren ausgetreten ist, aber dem er sich noch immer verbunden fühlt. Doch eines ist immer neu. Nicht, dass auf einmal mehr Dreck unter seinen Sohlen klebt oder dass er anders riecht, was auf einen neuen Umgang, eine neue Art der Freizeitgestaltung hindeuten würde. Nein, daran, dass er sich zu anderen Tageszeiten bei ihr blicken lässt, bemerkt sie, dass er wieder einen neuen Job angenommen hat. Eine Zeit lang stand er gegen 22 Uhr vor der Tür. Dann war die Schicht in dem Hotel, an dessen Rezeption er saß, Schlüssel ausgab, Anrufe entgegennahm, zu Ende. Dort konnte er sich Essen aus der Küche besorgen, manchmal gab es sogar zum Feierabend etwas Warmes, Knödel, Braten, Bohnen, etwas Deftiges mit vielen Zwiebeln und Speck, sodass sein Kühlschrank zu Hause eigentlich immer leer war. Wenn er kam, schmierte Linn ihm eine Scheibe Brot, für den späten Hunger, manchmal auch eine zweite, für morgens, fürs Frühstück. Nils und Linn gingen an solchen Abenden selten aus dem Haus. Dafür reichte das Geld nicht. Das Bier holten sie gekühlt von der Tankstelle. Bei Regen schauten sie alte Krimis oder grelle Comedys im Fernsehen. Das sorgte für Gesprächsstoff. Bei Sonne nahmen sie eine Decke und setzten sich auf einen stadteigenen Rasenfleck mit Wasserblick. Meistens wurde es spät. Immer war es billig. Und sie sagten: »Wie geht es uns gut.« Sie waren nicht auf die Wochenenden angewiesen, wenn die Parks, Vorortzüge in Richtung der beliebten Ausflugsorte und Cafés überlaufen waren. Weil sie unter der Woche keiner regelmäßigen Arbeit nachgingen, machten sie die Wochentage zum Wochenende. An Sams- und Sonntagen blieben sie zu Hause, ruhten sich aus, genossen die Stille in den Zimmern, da die werktätigen Nachbarn ausgeflogen waren, und vermieden die teuren Nachtclubs, die sie nur an Montagen oder Donnerstagen besuchten, wenn Sonderpreise, Happy Hour und freier Eintritt lockten. Nils wusste immer, welches Museum eine lange Nacht machte, welches Kino Kinotag oder auf welcher Freiluftbühne ein kostenloses Konzert stattfand. Mit Nils konnte Linn Kultur erleben und dabei noch Geld sparen. Weil er immer Zeit hatte.

 

Das ist nun anders. Neuerdings kommt er am liebsten am frühen Vormittag. Heute steht er gegen acht Uhr vor Linns Tür. Ihre Haare sind noch nass nach der Aufwachdusche, seine Augen dafür etwas gerötet. Er trägt einen Picknickkorb, der bis zum Rand gefüllt ist. »Darf ich reinkommen?«, fragt er. »Gehen wir in deine Küche?« Linn kann es gerade noch verhindern, dass er sich seiner Schuhe entledigt, indem sie »Fußkälte« sagt. Linn mutet es niemandem zu, in ihrer Wohnung auf Strümpfen herumzulaufen. Ja, sie verbietet es ihren Gästen sogar, weil sich schon viele bei ihr verkühlt haben. Ihre Kohleofenwohnung ist zwar billig, aber der Ofen heizt nur die Decke und die oberen Luftschichten der Zimmer, nicht den Boden. Ich könnte Zwischendecken einziehen, hat Linn schon oft gedacht, und auf der ersten Etage den kalten Winter verbringen, im Sommer könnte ich dann auf die kühle Ebene absteigen.

Um Jahreszeiten kümmert sich Nils nicht. Sein Rhythmus ist eher ein schneller Workout-Beat. Als Linn ihn das letzte Mal sah, arbeitete er als Filmvorführer in einem Programmkino. In der vorigen Woche betreute er auf einer Ökologie-Messe einen Büchertisch. Das erfährt sie, als sie die Teetassen aus dem Schrank nimmt und den Kessel auf den Herd stellt. Während der Messe lernte er diesen Barbesitzer Günzel kennen, der seinen gut gelegenen Szeneladen nicht nur nachts, sondern nun auch nachmittags öffnen will, der jemanden sucht, der ihm Öko-Torten und Öko-Brötchen backt und die Menükarten individuell gestaltet, der ihm ein »Backkonzept« erstellt, wie Nils das nennt. Günzel bezeichnet seinen Plan als »Orga-Food-Mission«, denn ihm geht es um die Bekehrung der Massenware-Esser zu »Organic People«. »Indem wir modernste Agrartechnologien und -produkte – zugeschnitten auf die individuellen Profile unserer Gäste – verwenden, optimieren wir unsere Geschäftsprozesse und verbessern damit die Wettbewerbsposition unseres Unternehmens«, erklärte Günzel. Nils war sofort begeistert von der »strategischen, völlig systemunabhängigen, offenen Lösung«, bei der er durch »Knowledge-Management in ein Kreativ-Team einsteigen und zu einem Kreativ-Partner« werden soll.

Also fragt Nils, sobald er vor dem Heißgetränk sitzt, welche denn Linns Lieblings-Öko-Backwaren seien. Er kramt im Picknickkorb. Vielleicht Apfelkuchen mit Dinkel? Kürbisbrot belegt mit Sauerampfer? Birnen-Ingwer-Torte? Er legt ein paar Gebäckstücke auf den Tisch. »Sieht toll aus, Nils.« »Alles selbst gemacht.« Und Linn sagt: »Wie lange wirst du denn in diesem neuen Job bleiben?« »Erst mal nur für drei Wochen. Mal sehen.« »Warum hast du denn im Kino aufgehört?« »Egal. Jetzt verdiene ich zehn Euro die Stunde, das ist gut! Und ich erfinde ›Food-Labels‹, neue Marken für traditionelle Waren. Du kannst mir also heute nicht vorwerfen, lebensfremd zu sein. Ich bilde mich praktisch weiter im so genannten Branding-Business. Und bald entwerfe ich einen Info-Folder, passend zur Website.« Immer, wenn Nils einen englischen Fachbegriff fallen lässt, zuckt er mit seinem linken Augenlid, fast unmerklich, aber für eine alte Freundin nicht zu übersehen. Ist da doch etwas neu? Ist Nils über Nacht zu einem Menschen mit Verkäufermentalität geworden? Sonst hielt er meterlange Vorträge über die »Brasilianisierung« des Arbeitsmarktes, die Notwendigkeit, wechselnde Jobs anzunehmen, manchmal auch mehrere gleichzeitig, über die Zersplitterung von Existenzgrundlagen, die über kurz oder lang zu einer Zerfaserung von Existenzen führe, über die Chancen, die ein solcher fragmentierter Lebensentwurf mit sich bringe, über die Freiheiten, die Einschränkung, eine eigentlich sehr mönchischen Tugend, die in dieser konsumorientierten Welt nicht schaden würde. Er hätte über die Probleme des »Warenfetischismus« doziert, der dem Konsumenten vorgaukele, Unterschiede zu kaufen, wo eigentlich Gemeinsamkeiten seien. Es ginge doch gar nicht mehr um Alternativen, sondern um die Verweigerung von angeblichen Differenzen. Dieser Theoretiker sitzt jetzt vor Linn und präsentiert bröseliges Körnergebäck, das durch pfiffige Namen Kaufwert bekommen soll. Linn verliert den Appetit.

»Wie gefällt dir ›Bridget Jones‹ für diese Schoko-Muffins? Oder ›Haben Sie Möhrchen?‹ für diesen Karottenkuchen mit Mandelspitzen? Oder ›Grüezi-Grütze‹ für das Birchermüsli? Ich kann mich selbst einbringen, ich kann jeden Tag experimentieren.« Je mehr Nahrungsmittel Nils vor sich auftürmt, desto mehr freut sich Linn für Nils. Sie ist sich sicher, dass aus dem jungen Mann etwas wird, wenn er weiterhin so emsig seine schlummernden Talente weckt. Er bewährt sich auf den unterschiedlichsten Gebieten. Sie probiert ein Stück Kürbisbrot. Leider ist es ein wenig trocken. »Vielleicht hier noch ein bisschen Frischkäse zu den Kräutern?«, hustet sie. »Mmh«, Nils kann nicht antworten, er kaut auf herausgefallenen Mandelspitzen herum. »Ich habe nach diesen drei Input-Wochen übrigens endlich Zeit, meine Fotos zu bearbeiten«, sagt er, als er mit Tee nachgespült hat. »Ich fahre dieses Jahr an Weihnachten nicht nach Hause. Mit dem, was ich dadurch spare, und mit den Geldgeschenken kann ich mir endlich einen guten Scanner kaufen. Ein Bekannter von mir, der eine Ausstellung plant, richtig groß, in San Francisco, hat mir seine Profibildbearbeitungsprogramme gebrannt. Der Rhythmus, weißt du? Der existenzielle Rhythmus! Es gibt einen Autor, der hat seine Schrift immer weiter verkleinert. Genau darum geht es mir auch, um die Reduzierung auf das Notwendige.«

Dieser Nils kommt Linn wieder etwas bekannter vor. Er wedelt mit seinen großen Händen in der Luft herum, hält mit der rechten Hand inne, um ein Wort zu betonen, zieht mit der linken einen Kreis über seinem Kopf und schaut in die Ferne, durch die Wände hindurch. Nie fällt ihm dabei die Zigarettenasche auf seine schwarze Kleidung. Auf diese Farbe ist er seit seinem sechzehnten Geburtstag eingeschworen. Er hasste seine Mitschüler dafür, jedem noch so bunten Trend zu folgen, ihm taten die Augen von so viel Farbe weh. Er ist stolz darauf, vor seinem Kleiderschrank schnelle Entscheidungen treffen zu können, weil alles zu allem passt. Er begeistert sich für klare Linien und Umrisse und bleibt dabei elegant. Linn ist von außen betrachtet ein Gegenstück zu Nils, sie mag es bunt und künstlich, aber sie steht ihm innerlich sehr nah. Seit sie ihn in einer Vorlesung zu »Konzeptionen des Anderen« angesprochen hat, weil er mit seinen Zeichnungen aus Langeweile bis auf ihren Block vorgedrungen war und quer über ihre Notizen Ranken, Blätter und botanische Ornamente gemalt hatte, seit sie eine zweisame Lerngruppe gegründet haben, in der sie sich aus einschlägigen Texten bei Wodka mit Brausepulver vorlasen, und seitdem man sie zunächst für ein Paar, manchmal auch für Geschwister gehalten hat, sie dann aber dieses Missverständnis für sich selbst und die anderen aufgeklärt haben, verfolgen sie mit Leidenschaft ihre gegenseitigen Entschlüsse und Vorhaben. Was sie verbindet, sind ähnliche Lebensverhältnisse. Man würde nicht denken, dass der schmucke, eloquente Nils auch in einer Kältezone lebt, weil er nicht genug Geld verdient, um seine Wohnung zu heizen. Dass er lieber gar nicht heizt – oder, wenn es hochkommt, mit dem Gasherd in der Küche. Er lässt die Klappe des Ofens offen, sodass die feucht-warme Gasluft den Raum...

Erscheint lt. Verlag 21.11.2012
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anpassung • Ausbildung • Existenzminimum • Flexibilität • Generation • Karriere • Lebensplanung • Praktikum • Reportage • Roman • Vorbild • Ziel
ISBN-10 3-10-402664-5 / 3104026645
ISBN-13 978-3-10-402664-0 / 9783104026640
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