Blutige Steine (eBook)

Commissario Brunettis vierzehnter Fall

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
368 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60072-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Blutige Steine -  Donna Leon
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Tod eines Schwarzafrikaners auf dem Campo Santo Stefano. Ein Streit unter Immigranten? Oder steckt mehr hinter der Ermordung eines Illegalen? Brunetti hakt trotz Warnungen von höchster Stelle nach und entdeckt Verbindungen, die weit über Venedig hinausreichen.

Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.

[7] 1

Zwei Männer traten durch den hölzernen Torbogen hinaus auf den festlich geschmückten Campo Santo Stefano, wo die farbigen Lichterketten über ihren Köpfen sie in buntscheckige Harlekine verwandelten. In den hell erleuchteten Buden auf dem Weihnachtsmarkt lockten Händler und Erzeuger verschiedener italienischer Provinzen mit ihren Spezialitäten: papierdünnes Brot und Käse mit tiefdunkler Rinde aus Sardinien, Oliven in unterschiedlichen Formen und Farben aus allen Regionen des Landes; Öl und Käse aus der Toskana; Salami in jeder Länge, jeder Dicke und mit allen nur erdenklichen Zutaten aus der Reggio Emilia. Hin und wieder stimmte einer der Verkäufer ein Loblied auf seine Delikatessen an: »Signori, kosten Sie diesen Käse, und ich garantiere Ihnen einen Vorgeschmack aufs Paradies.« – »Es ist spät, Herrschaften, und ich möchte endlich heim zum Abendessen: Also neun Euro das Kilo, so lange der Vorrat reicht.« – »Probieren Sie diesen Pecorino, Signori, einen besseren finden Sie nirgends!«

Die beiden Männer schoben sich durch die Budengasse, doch sie hatten kein Ohr für die Schmeicheleien der Händler, keinen Blick für die Salamipyramiden, die sich rechts und links auf den Tresen türmten. Die wenigen Käufer, die trotz der Kälte so kurz vor Ladenschluß noch unterwegs waren, erstanden Dinge, von denen jeder argwöhnte, bei sich im Viertel hätte er sie preiswerter und noch dazu in besserer Qualität bekommen. Andererseits: Was wäre wohl [8] stimmungsvoller als so ein Einkaufsbummel an einem verkaufsoffenen Adventssonntag; und gab es einen besseren Beweis für die eigene Unabhängigkeit und Individualität als den, sich etwas zu gönnen, das man gar nicht brauchte?

Am anderen Ende des campo, hinter der letzten Holzbude, machten die Männer halt. Der Größere sah auf seine Uhr, obwohl beide sich eben erst anhand der Kirchturmuhr versichert hatten, wie spät es war. Der offizielle Ladenschluß um halb acht war bereits um mehr als eine Viertelstunde überschritten, aber es würde sich wohl kaum ein Ordnungshüter dieser Kälte aussetzen, nur um zu kontrollieren, ob die Stände auch pünktlich zumachten. »Allora?« fragte der Kleinere und sah zu seinem Begleiter auf.

Dieser streifte die Handschuhe ab, stopfte sie zusammengerollt in die Manteltaschen und schob die Hände hinterher. Der andere folgte seinem Beispiel. Beide Männer trugen Kopfbedeckungen, der große einen dunkelgrauen Borsalino, der kleine eine Pelzmütze mit Ohrenklappen. Beide hatten Wollschals um den Hals geschlungen, die sie im Lichtkegel des letzten Standes noch höher zogen, bis zu den Ohren hinauf: nichts Ungewöhnliches, wenn einem vom Canal Grande, gleich hinter San Vidal, ein scharfer Wind entgegenblies.

Der Wind zwang sie auch, die Köpfe zu senken, als sie mit hochgezogenen Schultern, die Hände in den warmen Taschen, voranschritten. Zwanzig Meter hinter dem letzten Stand hatte sich zu beiden Seiten des Platzes eine Gruppe hochgewachsener Afrikaner eingefunden, die Decken oder Tücher auf dem Boden ausbreiteten und sie an den Ecken mit je einer Damenhandtasche beschwerten. Sobald die [9] Unterlage dergestalt verankert war, kamen aus riesigen, wurstförmigen Beuteln, die ringsum am Boden standen, stapelweise Modelltaschen unterschiedlicher Form und Größe zum Vorschein.

Hier eine Prada, dort eine Gucci, dazwischen eine Louis Vuitton: Die Marken waren so zahlreich vertreten wie sonst nur in jenen exklusiven Läden, die es sich leisten können, alle namhaften Designer zu führen. Flink und mit einer durch lange Übung geschulten Behendigkeit bückten sich die Männer oder gingen in die Hocke, um ihre Waren auf den Tüchern zu verteilen. Manche gruppierten sie zu lauter Dreiecken; andere bevorzugten eine Präsentation in Reih und Glied. Einer hatte den wunderlichen Einfall, seine Taschen im Kreis anzuordnen, doch als er zurücktrat, um das Ergebnis zu begutachten, und sah, daß eine übergroße dunkelbraune Schultertasche von Prada die Symmetrie durchbrach, wurde aus dem Kreis in Windeseile ein Spalier, dem die Prada in der linken oberen Ecke als Stütze diente.

Zwischendurch plauderten die Männer miteinander und tauschten sich über Dinge aus, die halt so zur Sprache kommen, wenn Kollegen sich während einer Schicht die Zeit vertreiben: daß einer die Nacht zuvor schlecht geschlafen hatte, wie bitterkalt es war, daß ein anderer darum bangte, ob sein Sohn die Aufnahmeprüfung für die Privatschule bestehen würde, wie sehr sie sich nach ihren Frauen sehnten. Sobald einer mit seinem Arrangement zufrieden war, stand er auf und trat hinter seine Waren zurück; wobei sie sich fast immer am einen oder anderen Deckenzipfel postierten, um das Gespräch mit dem Kollegen nebenan nicht abreißen zu lassen. Die Männer waren meist auffallend groß und alle [10] sehr schlank. Ihre Haut besaß – soweit das an Gesichtern und Händen zu erkennen war – den glänzenden Ebenholzschimmer jener Afrikaner, deren Vorfahren sich nie mit Weißen vermischt hatten. Sie wirkten nicht nur gesund und kräftig, sondern es lag auch eine gewisse Heiterkeit in ihren Zügen, ihren Bewegungen, so als könnten sie sich für diesen Abend kein größeres Vergnügen vorstellen, als in der klirrenden Kälte auszuharren, um gefälschte Markentaschen an Touristen zu verhökern.

Ihnen gegenüber hatten in einem kleinen Kreis von Zuhörern drei Straßenmusikanten Aufstellung genommen, zwei Geiger und ein Cellist, die ein Stück vortrugen, das ebenso barock wie verstimmt klang. Aber da die Musiker sich begeistert ins Zeug legten und zudem jung waren, fand ihr Publikum Gefallen an ihnen, und nicht wenige traten vor und warfen ein paar Münzen in den Geigenkasten, der aufgeklappt vor dem Trio stand.

Es war noch früh am Abend, vermutlich zu früh für einen schwunghaften Handel; dennoch nahmen die Straßenverkäufer stets pünktlich zum Ladenschluß ihre Arbeit auf. Und so standen, als die beiden Männer herankamen, alle Afrikaner hinter ihren Decken und warteten auf die erste Kundschaft. Frierend traten sie von einem Fuß auf den anderen und hauchten zwischendurch in die gefalteten Hände, ohne daß die davon warm geworden wären.

Am Ende des Deckenspaliers blieben die beiden Weißen, scheinbar ins Gespräch vertieft, stehen, obwohl in Wahrheit kein Wort zwischen ihnen fiel. Sie hielten die Köpfe gesenkt, wohl um die Gesichter vor dem Wind zu schützen; nur ab und zu hob einer von ihnen den Blick und nahm die [11] Reihe der Schwarzen ins Visier. Schließlich faßte der Größere den Kleinen am Arm, wies mit dem Kinn auf einen der Afrikaner und sagte etwas. Gleichzeitig schob sich eine Reisegruppe mit lauter Senioren, die in ihren farbenfrohen Gesundheitsschuhen und wattierten Parkas aussahen wie hutzlige Kleinkinder, von der Kirche her in die schmale Gasse zwischen den Straßenmusikanten und den Afrikanern. Auf halbem Wege blieb die Vorhut stehen, um auf die Nachzügler zu warten, und als alle wieder beisammen waren, flanierte man lachend und schwatzend an den Afrikanern vorbei und machte sich gegenseitig durch Zurufe auf die verschiedenen Taschensortimente aufmerksam. Ohne zu schubsen oder zu drängeln, nahmen sie nach und nach in Dreierreihe vor den Schwarzen und ihren Decken Aufstellung.

Der größere der beiden Männer steuerte auf die Seniorengruppe zu, dicht gefolgt von seinem Begleiter. Unweit der Kirche blieben sie stehen und postierten sich mit Bedacht hinter zwei älteren Ehepaaren, die abwechselnd auf die eine oder andere Tasche zeigten und sich nach dem Preis erkundigten. Der junge Händler, vor dessen Tuch sich das abspielte, war so sehr auf die Fragen seiner potentiellen Käufer konzentriert, daß er die beiden Männer zunächst gar nicht bemerkte. Plötzlich aber stockte er und straffte sich, angespannt wie ein Tier, das Gefahr wittert.

Sein Nachbar nutzte geistesgegenwärtig diese Chance, dem Kollegen die vielversprechende Kundschaft abzuwerben. Ihre Schuhe verrieten ihm, daß er es mit Amerikanern zu tun hatte, und so legte er sofort auf englisch los: »Gucci, Missoni, Armani, Trussardi. Bei mir finden Sie alles, Ladies [12] und Gentlemen. Beste Qualität, direkt vom Hersteller.« Bei der schummrigen Beleuchtung hier am Ende des Platzes war sein Gesicht kaum zu erkennen; um so heller blitzten die lächelnd entblößten, strahlend weißen Zähne.

Drei Mitglieder der Seniorengruppe schlängelten sich an den beiden Männern vorbei zu ihren Freunden nach vorne durch; man diskutierte lebhaft über die Taschen, wobei das Interesse mittlerweile zwischen den Angeboten der beiden rivalisierenden Händler schwankte. Auch die zwei Außenseiter rückten auf ein Zeichen des Größeren näher, bis sie nur noch ein halber Schritt von den Amerikanern in der ersten Reihe trennte. Als er sie vortreten sah, stieß sich der erste Verkäufer mit dem rechten Fuß ab und wich in einer halben Drehbewegung von seinem Tuch, vor den Touristen und den beiden Männern zurück. Die aber zogen gleichzeitig und so geschmeidig und routiniert, daß es niemandem auffiel, die rechte Hand aus der Tasche und zückten jeder eine Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer. Der Größere feuerte zuerst, doch man hörte nichts weiter als ein dumpfes Tock, Tock, Tock, begleitet vom zweifachen Echo aus der Waffe seines Gefährten. Die Straßenmusikanten waren unterdessen ans Ende des Allegros gelangt, und ihre Instrumente im Verein mit den Zurufen und dem Gejohle des sie umringenden Publikums verschluckten die Schüsse buchstäblich, auch wenn die Afrikaner zu beiden Seiten der Gasse sofort darauf reagierten.

Seine Schwungkraft trug den jungen...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2012
Reihe/Serie Commissario Brunetti
Commissario Brunetti
Übersetzer Christa E. Seibicke
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Blood from a Stone
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Blutdiamanten • Brunetti • Brunetti, Guido • Commissario • Guido • Immigrant • Italien • Krimi • Schwarzafrikaner • Venedig • Waffenhandel • Weihnachtsmarkt • Winter
ISBN-10 3-257-60072-0 / 3257600720
ISBN-13 978-3-257-60072-8 / 9783257600728
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