Feine Freunde (eBook)

Commissario Brunettis neunter Fall

(Autor)

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2012 | 1. Auflage
336 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60068-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Feine Freunde -  Donna Leon
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Eine Ermittlung gegen Brunetti? Unmöglich. Zwar geht es nur um seine Eigentumswohnung und die Baubewilligung, doch Brunetti muß das Schlimmste befürchten. Als der zuständige Beamte wenig später von einem Baugerüst stürzt, weiß Brunetti mit Sicherheit, daß es in diesem Fall keineswegs nur um seine eigene Wohnung geht. Seine Ermittlungen führen Brunetti in die venezianische Drogenszene, zu Wucher und Korruption. Nur Feine Freunde können da noch helfen.

Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.

[7] 1

Als es klingelte, lag Brunetti mit einem offenen Buch auf dem Bauch im Wohnzimmer auf dem Sofa. Da er allein in der Wohnung war, wußte er, daß er gleich aufstehen und an die Tür gehen mußte, vorher aber wollte er den letzten Absatz des achten Kapitels von Xenophons Anabasis fertig lesen, weil er gespannt war, welch neue Katastrophen die Griechen auf ihrem Rückzug erwarteten. Es klingelte wieder, zwei fordernde kurze Töne, und er legte das Buch hin, die aufgeschlagenen Seiten nach unten, nahm seine Brille ab, deponierte sie auf der Sofalehne und erhob sich. Seine Schritte waren langsam, mochte das Läuten auch noch so dringlich geklungen haben. Es war Samstag vormittag, er hatte dienstfrei und die ganze Wohnung für sich, da Paola zum Rialtomarkt gegangen war, um frische Krabben zu kaufen, und ausgerechnet jetzt mußte es klingeln.

Er nahm an, daß es einer von Chiaras oder Raffis Freunden war oder, schlimmer, irgend so ein religiöser Wahrheitsverkündiger, dem es den größten Spaß machte, die Ruhe der Arbeitsamen zu stören. Brunetti wünschte sich doch vom Leben nichts weiter, als auf dem Rücken liegen und Xenophon lesen zu dürfen, während er darauf wartete, daß seine Frau mit den frischen Krabben nach Hause kam.

»Ja?« brummte er abweisend in die Sprechanlage, um jugendlichen Müßiggang gleich zu entmutigen und Fanatismus jeden Alters abzuschrecken.

»Guido Brunetti?« fragte eine Männerstimme.

[8] »Ja. Was gibt’s?«

»Ich komme vom Katasteramt. Wegen Ihrer Wohnung.« Als Brunetti schwieg, fragte der andere: »Haben Sie unseren Brief nicht bekommen?«

Bei der Frage erinnerte Brunetti sich dunkel daran, vor etwa einem Monat irgendwas Amtliches erhalten zu haben, ein Schriftstück voller Behördenkauderwelsch, in dem es um die Besitzurkunden zur Wohnung oder die zu den Besitzurkunden gehörigen Baugenehmigungen ging, genau wußte er das nicht mehr. Er hatte das Ding nur kurz überflogen und sich über die gestelzte Sprache aufgeregt, bevor er den Brief wieder in den Umschlag gesteckt und in die große Majolikaschale auf dem Tisch rechts neben der Tür geworfen hatte.

»Haben Sie unseren Brief bekommen?« wiederholte der Mann.

»Äh, ja«, antwortete Brunetti.

»Ich bin hier, um mit Ihnen darüber zu reden.«

»Worüber?« fragte Brunetti, während er den Hörer der Gegensprechanlage ans linke Ohr klemmte und sich nach dem Stapel Papiere in der Schale reckte.

»Über Ihre Wohnung«, antwortete der Mann. »Unser Schreiben an Sie.«

»Ach ja, natürlich.« Brunetti wühlte in den Umschlägen und Briefbögen.

»Ich würde darüber gern mit Ihnen sprechen, wenn es recht ist.«

Das Ansinnen traf Brunetti so unvorbereitet, daß er nur »Ja, gut« sagte und schon auf den Knopf drückte, der vier Treppen tiefer die Eingangstür öffnete. »Ganz oben.«

[9] »Ich weiß«, sagte der Mann.

Brunetti hängte ein und zog ein paar Umschläge von zuunterst aus dem Stapel. Eine Stromrechnung, eine Postkarte von den Malediven, die er noch gar nicht gesehen hatte und jetzt schnell las. Dann der Umschlag mit dem blau aufgestempelten Namen der absendenden Dienststelle in der linken oberen Ecke. Er zog den Brief heraus, entfaltete ihn, hielt ihn auf Armeslänge von sich ab, bis die Buchstaben scharf wurden, und überflog ihn.

Dieselben unverständlichen Formulierungen sprangen ihn an: ›Gemäß Statut Nummer 1684B der Kulturgüterkommission‹; ›Unter Verweis auf Absatz 2784 Artikel 127 des Zivilrechts vom 24. Juni 1948, Unterabschnitt 3, Paragraph 5‹; ›Versäumnis, der absendenden Dienststelle die einschlägigen Dokumente zu unterbreiten‹; ›Wert geschätzt gemäß Unterabschnitt 34–V–28 der Verfügung vom 21. März 1947‹. Er überflog die erste Seite nur und blätterte zur zweiten um, fand aber immer noch nur Amts-Chinesisch und Ziffern. Langjährige Erfahrung im Umgang mit der venezianischen Bürokratie hatte ihn gelehrt, daß im letzten Absatz noch etwas versteckt sein konnte, weshalb er sich diesem zuwandte und hier tatsächlich darüber belehrt wurde, daß er weitere Mitteilungen von seiten des Katasteramts zu erwarten habe. Er blätterte an den Anfang zurück, doch aller Sinn, der sich hinter den Worten verbergen mochte, entging ihm.

Da er sich so nah an der Wohnungstür befand, hörte er die Schritte auf dem letzten Treppenlauf und konnte schon öffnen, bevor es klingelte. Der Mann kam soeben die letzten Stufen herauf und hatte bereits die Hand zum [10] Klopfen gehoben, so daß Brunetti als erstes den krassen Widerspruch zwischen der erhobenen Faust und dem ganz und gar bescheidenen Mann dahinter wahrnahm. Dem jungen Mann, den die plötzlich aufgehende Tür wohl erschreckt hatte, stand die Überraschung im Gesicht geschrieben. Dieses war länglich und hatte, wie man es bei Venezianern oft sieht, eine Nase, die aussah wie ein schmaler Schnabel. Der Mann hatte dunkelbraune Augen und braunes Haar, das frisch geschnitten wirkte. Er trug einen Anzug, der vielleicht blau war, aber ebensogut auch grau sein konnte. Die Krawatte war dunkel und hatte ein kleines, nicht erkennbares Muster. In der rechten Hand hielt der Mann eine braune, abgewetzte lederne Aktentasche; sie vervollkommnete das klassische Bild des farblosen Bürokraten – als sei es Teil ihrer Ausbildung, sich möglichst unscheinbar zu machen.

»Franco Rossi«, stellte er sich vor, wobei er die Aktentasche in die andere Hand nahm und seine Rechte ausstreckte.

Brunetti trat nach kurzem Händedruck einen Schritt zurück, um ihn hereinzulassen.

Rossi bat zuerst höflich um Erlaubnis, dann betrat er die Wohnung. Drinnen blieb er stehen und wartete, daß Brunetti ihm den Weg wies.

»Bitte hier herein«, sagte Brunetti, wobei er ihn in das Zimmer führte, in dem er gelegen und gelesen hatte. Er ging zum Sofa, steckte den alten Vaporetto-Fahrschein, den er als Lesezeichen benutzte, in das Buch und legte es auf den Tisch. Dann bedeutete er Signor Rossi, ihm gegenüber Platz zu nehmen, und setzte sich aufs Sofa.

[11] Rossi ließ sich auf der Sesselkante nieder und legte die Aktentasche auf seine Knie. »Ich weiß, daß Samstag ist, Signor Brunetti, und will mich darum bemühen, Ihnen nicht allzuviel Zeit zu stehlen.« Er sah zu Brunetti hinüber und lächelte. »Sie haben also unseren Brief erhalten, nicht wahr? – Ich hoffe, Sie hatten Zeit, darüber nachzudenken, Signore«, fügte er mit einem weiteren kurzen Lächeln hinzu. Er senkte den Kopf, öffnete seine Aktentasche und entnahm ihr eine dicke blaue Mappe, die er peinlich genau mitten auf die Tasche legte. Dann schnippte er gegen ein unbotmäßiges Blatt Papier, das unten herauszurutschen drohte, bis es wieder wohlbehalten im Stapel steckte.

»Genaugenommen«, sagte Brunetti und zog den Brief aus der Tasche, in die er ihn beim Türöffnen gestopft hatte, »war ich gerade dabei, ihn noch einmal zu lesen, und ich muß sagen, daß ich die Ausdrucksweise ein wenig unverständlich finde.«

Rossi blickte auf, und Brunetti sah einen Ausdruck ehrlicher Verblüffung über sein Gesicht huschen. »Ach ja? Und ich dachte, sie sei sehr klar.«

Brunetti antwortete mit freundlichem Lächeln: »Sicher ist sie das für Leute, die mit so etwas tagtäglich zu tun haben. Aber wer mit der speziellen Fachterminologie Ihrer Dienststelle nicht vertraut ist, nun, für den ist das etwas schwierig zu verstehen.« Als Rossi darauf nichts sagte, fuhr Brunetti fort: »Sicher beherrschen wir alle den jeweiligen Jargon unseres eigenen Metiers; wahrscheinlich finden wir immer nur den der anderen schwierig.« Er lächelte wieder.

»In welchen Metiers kennen Sie sich denn aus, Signor Brunetti?«

[12] Brunetti, der normalerweise nicht damit hausieren ging, daß er Polizist war, antwortete nur: »Ich habe Jura studiert.«

»Aha«, meinte Rossi. »Dann würde ich aber nicht denken, daß unsere Terminologie sich allzusehr von der Ihren unterscheidet.«

»Vielleicht liegt es einfach daran, daß ich mit den Zivilrechtsartikeln, auf die in Ihrem Brief verwiesen wird, nicht so vertraut bin«, räumte Brunetti ein.

Rossi dachte darüber kurz nach und meinte dann: »Ja, das kann durchaus sein. Aber was ist es denn genau, was Sie nicht verstehen?«

»Worum es überhaupt geht«, antwortete Brunetti ohne Umschweife, denn er hatte keine Lust mehr, so zu tun, als hätte er überhaupt etwas verstanden.

Wieder dieses verdutzte Gesicht, so offen und ehrlich, daß Rossi fast jungenhaft aussah. »Was sagten Sie?«

»Worum es dabei geht. Ich habe den Brief gelesen, aber da ich, wie gesagt, nichts von den Bestimmungen verstehe, auf die er sich bezieht, weiß ich nicht, was das Ganze bedeutet, also worum es geht.«

»Natürlich geht es um Ihre Wohnung«, gab Rossi schnell zur Antwort.

»Ja, soviel habe ich begriffen«, sagte Brunetti, sehr um einen geduldigen Ton bemüht. »Da der Brief von Ihrer Behörde kam, konnte ich mir soviel immerhin denken. Wobei ich allerdings nicht verstehe, welche Art von Interesse Ihre Behörde an meiner Wohnung haben könnte.« Abgesehen davon verstand er auch nicht, was einen Beamten dieser Behörde umtrieb, an einem Samstag bei ihm vorstellig zu werden.

[13] Rossi blickte die Mappe auf seinem Schoß an, dann Brunetti, der plötzlich erstaunt feststellte, wie lang und dunkel die Wimpern des jungen Mannes waren, fast wie bei einer Frau. »Aha, aha«, sagte Rossi nickend und senkte den Blick wieder auf seine Mappe, die er dann aufklappte, um eine andere, kleinere herauszuziehen, kurz die...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2012
Reihe/Serie Commissario Brunetti
Commissario Brunetti
Übersetzer Monika Elwenspoek
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Friends in High Places
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Baubewilligung • Bausünden • Brunetti • Brunetti, Guido • Commissario • Drogenszene • Guido • Italien • Korruption • Krimi • Venedig • Wohnungsmarkt • Zinswucher
ISBN-10 3-257-60068-2 / 3257600682
ISBN-13 978-3-257-60068-1 / 9783257600681
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