Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (eBook)
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-43901-6 (ISBN)
(seit 1917 Edler von M.), geboren am 6.11.1880 in Klagenfurt, stammte aus einer altösterreichischen Beamten- , Gelehrten- , Ingenieurs- und Offiziersfamilie. Er studierte an der technischen Militärakademie in Wien, brach seine Militärsausbildung ab und wurde Maschinenbauingenieur. Nach einer Tätigkeit als Assistent an der TH Stuttgart studierte er 1903-08 in Berlin Philosophie, Psychologie, Mathematik und Physik und promovierte mit einer Arbeit über den Theoretiker des naturwissenschaftlichen Positivismus Ernst Mach zum Dr. phil. Auf eine Universitätslaufbahn verzichtete er, um freier Schriftsteller zu werden. 1911-14 war er Bibliothekar, 1914 Redakteur der «Neuen Rundschau». Im 1. Weltkrieg war er Landsturmhauptmann, Herausgeber der «Soldatenzeitung» und zuletzt im Kriegspressequartier. 1918-22 lebte er als Beamter in Wien, danach als freier Schriftsteller, Theaterkritiker und Essayist in Wien und Berlin. Nach der faschistischen Besetzung Österreichs emigrierte er nach Zürich. Die letzten Lebensjahre verbrachte er fast mittellos in Genf, wo er am 15.04.1942 starb.
(seit 1917 Edler von M.), geboren am 6.11.1880 in Klagenfurt, stammte aus einer altösterreichischen Beamten- , Gelehrten- , Ingenieurs- und Offiziersfamilie. Er studierte an der technischen Militärakademie in Wien, brach seine Militärsausbildung ab und wurde Maschinenbauingenieur. Nach einer Tätigkeit als Assistent an der TH Stuttgart studierte er 1903-08 in Berlin Philosophie, Psychologie, Mathematik und Physik und promovierte mit einer Arbeit über den Theoretiker des naturwissenschaftlichen Positivismus Ernst Mach zum Dr. phil. Auf eine Universitätslaufbahn verzichtete er, um freier Schriftsteller zu werden. 1911-14 war er Bibliothekar, 1914 Redakteur der «Neuen Rundschau». Im 1. Weltkrieg war er Landsturmhauptmann, Herausgeber der «Soldatenzeitung» und zuletzt im Kriegspressequartier. 1918-22 lebte er als Beamter in Wien, danach als freier Schriftsteller, Theaterkritiker und Essayist in Wien und Berlin. Nach der faschistischen Besetzung Österreichs emigrierte er nach Zürich. Die letzten Lebensjahre verbrachte er fast mittellos in Genf, wo er am 15.04.1942 starb.
Um dreiviertel elf Uhr sah Törleß, daß Beineberg und Reiting aus ihren Betten schlüpften, und zog sich gleichfalls an.
«Pst! – so warte doch. Das fällt ja auf, wenn wir alle drei zugleich weggehen.»
Törleß versteckte sich wieder unter seine Decke.
Auf dem Gange vereinigten sie sich dann und stiegen mit der gewohnten Vorsicht den Bodenaufgang hinan.
«Wo ist Basini?» fragte Törleß.
«Er kommt von der anderen Seite; Reiting hat ihm den Schlüssel dazu gegeben.»
Sie blieben die ganze Zeit über im Dunkeln. Erst oben, vor der großen, eisernen Türe, zündete Beineberg seine kleine Blendlaterne an.
Das Schloß leistete Widerstand. Es saß durch eine jahrelange Ruhe fest und wollte dem Nachschlüssel nicht gehorchen. Endlich schlug es mit einem harten Laut zurück; der schwere Flügel rieb widerstrebend im Roste der Angeln und gab zögernd nach.
Aus dem Bodenraume schlug eine warme, abgestandene Luft heraus, wie die kleiner Treibhäuser.
Beineberg schloß die Türe wieder zu.
Sie stiegen die kleine hölzerne Treppe hinab und kauerten sich neben einem mächtigen Querbalken nieder.
Zu ihrer Seite standen riesige Wasserbottiche, welche bei dem Ausbruche eines Brandes den Löscharbeiten dienen sollten. Das Wasser darin war offenbar schon lange nicht erneuert worden und verbreitete einen süßlichen Geruch.
Überhaupt war die ganze Umgebung äußerst beklemmend: Die Hitze unter dem Dach, die schlechte Luft und das Gewirre der mächtigen Balken, die teils nach oben zu sich im Dunkel verloren, teils in einem gespenstigen Netzwerk am Boden hinkrochen.
Beineberg blendete die Laterne ab, und sie saßen, ohne ein Wort zu reden, regungslos in der Finsternis – durch lange Minuten.
Da knarrte am entgegengesetzten Ende im Dunkeln die Tür. Leise und zögernd. Das war ein Geräusch, welches das Herz bis zum Halse hinauf klopfen machte, wie der erste Laut der sich nähernden Beute.
Es folgten einige unsichere Schritte, das Anschlagen eines Fußes gegen erdröhnendes Holz; ein mattes Geräusch, wie von dem Aufschlagen eines Körpers … Stille … Dann wieder zaghafte Schritte … Warten … Ein leiser menschlicher Laut … «Reiting?»
Da zog Beineberg die Kappe von der Blendlaterne und warf einen breiten Strahl gegen den Ort, woher die Stimme kam.
Einige mächtige Balken leuchteten mit scharfen Schatten auf, weiterhin sah man nichts als einen Kegel tanzenden Staubes.
Aber die Schritte wurden bestimmter und kamen näher.
Da schlug – ganz nahe – wieder ein Fuß gegen das Holz, und im nächsten Augenblicke tauchte in der breiten Basis des Lichtkegels das – in der zweifelhaften Beleuchtung aschfahle – Gesicht Basinis auf.
Basini lächelte. Lieblich, süßlich. Starr festgehalten, wie das Lächeln eines Bildes, hob es sich aus dem Rahmen des Lichtes heraus.
Törleß saß an seinen Balken gepreßt und fühlte das Zittern seiner Augenmuskeln.
Nun zählte Beineberg die Schandtaten Basinis auf; gleichmäßig, mit heiseren Worten.
Dann die Frage: «Du schämst dich also gar nicht?» Dann ein Blick Basinis auf Reiting, der zu sagen schien: «Nun ist es wohl schon an der Zeit, daß du mir hilfst.» Und in dem Augenblicke gab ihm Reiting einen Faustschlag ins Gesicht, so daß er rückwärts taumelte, über einen Balken stolperte, stürzte. Beineberg und Reiting sprangen ihm nach.
Die Laterne war umgekippt, und ihr Licht floß verständnislos und träge zu Törleß’ Füßen über den Boden hin ....
Törleß unterschied aus den Geräuschen, daß sie Basini die Kleider vom Leibe zogen und ihn mit etwas Dünnem, Geschmeidigem peitschten. Sie hatten dies alles offenbar schon vorbereitet gehabt. Er hörte das Wimmern und die halblauten Klagerufe Basinis, der unausgesetzt um Schonung flehte; schließlich vernahm er nur noch ein Stöhnen, wie ein unterdrücktes Geheul, und dazwischen halblaute Schimpfworte und die heißen leidenschaftlichen Atemstöße Beinebergs.
Er hatte sich nicht vom Platze gerührt. Gleich anfangs hatte ihn wohl eine viehische Lust mit hinzuspringen und zuzuschlagen gepackt, aber das Gefühl, daß er zu spät kommen und überflüssig sein würde, hielt ihn zurück. Über seinen Gliedern lag mit schwerer Hand eine Lähmung.
Scheinbar gleichgültig sah er vor sich hin zu Boden. Er spannte sein Gehör nicht an, um den Geräuschen zu folgen, und er fühlte sein Herz nicht rascher schlagen als sonst. Mit den Augen folgte er dem Lichte, das sich zu seinen Füßen in einer Lache ergoß. Staubflocken leuchteten auf und ein kleines häßliches Spinnengewebe. Weiterhin sickerte der Schein in die Fugen zwischen den Balken und erstickte in einem staubigen, schmutzigen Dämmern.
Törleß wäre auch eine Stunde lang so sitzen geblieben, ohne es zu fühlen. Er dachte an nichts und war doch innerlich vollauf beschäftigt. Dabei beobachtete er sich selbst. Aber so, als ob er eigentlich ins Leere sähe und sich selbst nur wie in einem undeutlichen Schimmer von der Seite her erfaßte. Nun rückte aus diesem Unklaren – von der Seite her – langsam, aber immer sichtlicher ein Verlangen ins deutliche Bewußtsein.
Irgend etwas ließ Törleß darüber lächeln. Dann war wieder das Verlangen stärker. Es zog ihn von seinem Sitze hinunter – auf die Knie; auf den Boden. Es trieb ihn, seinen Leib gegen die Dielen zu pressen; er fühlte, wie seine Augen groß werden würden wie die eines Fisches, er fühlte durch den nackten Leib hindurch sein Herz gegen das Holz schlagen.
Nun war wirklich eine mächtige Aufregung in Törleß, und er mußte sich an seinem Balken festhalten, um sich gegen den Schwindel zu sichern, der ihn hinabzog.
Auf seiner Stirne standen Schweißperlen, und er fragte sich ängstlich, was dies alles zu bedeuten habe?
Aus seiner Gleichgültigkeit aufgeschreckt, horchte er nun auch wieder durch das Dunkel zu den dreien hinüber.
Es war dort still geworden; nur Basini klagte leise vor sich hin, während er nach seinen Kleidern tastete.
Törleß fühlte sich durch diese klagenden Laute angenehm berührt. Wie mit Spinnenfüßen lief ihm ein Schauer den Rücken hinauf und hinunter; dann saß es zwischen den Schulterblättern fest und zog mit feinen Krallen seine Kopfhaut nach hinten. Zu seinem Befremden erkannte Törleß, daß er sich in einem Zustande geschlechtlicher Erregung befand. Er dachte zurück, und ohne sich zu erinnern, wann dieser eingetreten sei, wußte er doch, daß er schon das eigentümliche Verlangen sich gegen den Boden zu drücken begleitet hatte. Er schämte sich dessen; aber es hatte ihm wie eine mächtige Blutwelle daherflutend den Kopf benommen.
Beineberg und Reiting kamen zurückgetastet und setzten sich schweigend neben ihn. Beineberg blickte auf die Lampe.
In diesem Augenblicke zog es Törleß wieder hinunter. Es ging von den Augen aus, – das fühlte er nun, – von den Augen aus wie eine hypnotische Starre zum Gehirn. Es war eine Frage, ja eine … nein, eine Verzweiflung … oh es war ihm ja bekannt …: die Mauer, jener Gastgarten, die niederen Hütten, jene Kindheitserinnerung … dasselbe! dasselbe! Er sah auf Beineberg. «Fühlt denn der nichts?» dachte er. Aber Beineberg bückte sich und wollte die Lampe aufheben. Törleß hielt seinen Arm zurück. «Ist das nicht wie ein Auge?» sagte er und wies auf den über den Boden fließenden Lichtschein.
«Willst du vielleicht jetzt poetisch werden?»
«Nein. Aber sagst du nicht selbst, daß es mit den Augen eine eigene Bewandtnis hat? Aus ihnen wirkt – denk doch nur an deine hypnotischen Lieblingsideen – mitunter eine Kraft, die in keinem Physikunterricht ihren Platz hat; – sicher ist auch, daß man einen Menschen oft weit besser aus seinen Augen errät als aus seinen Worten ....»
«Nun – und?»
«Mir ist dieses Licht wie ein Auge. Zu einer fremden Welt. Mir ist, als sollte ich etwas erraten. Aber ich kann nicht. Ich möchte es in mich hineintrinken ....»
«Nun, – du fängst doch an poetisch zu werden.»
«Nein, es ist mir ernst. Ich bin ganz verzweifelt. So sieh doch nur hin, und du wirst es auch fühlen. Ein Bedürfnis, sich in dieser Lache zu wälzen, – auf allen vieren, ganz nah in die staubigen Winkel zu kriechen, als ob man es so erraten könnte ....»
«Mein Lieber, das sind Spielereien, Empfindeleien. Laß jetzt gefälligst solche Sachen.»
Beineberg bückte sich vollends und stellte die Lampe wieder auf ihren Platz. Törleß empfand aber Schadenfreude. Er fühlte, daß er diese Ereignisse mit einem Sinne mehr in sich aufnahm als seine Gefährten.
Er wartete nun auf das Wiedererscheinen Basinis und fühlte mit einem heimlichen Schauer, daß sich seine Kopfhaut abermals unter den feinen Krallen anspannte.
Er wußte es ja schon ganz genau, daß für ihn etwas aufgespart war, das immer wieder und in immer kürzeren Zwischenräumen ihn mahnte; eine Empfindung, die für die anderen unverständlich war, für sein Leben aber offenbar große Wichtigkeit haben mußte.
Nur was diese Sinnlichkeit dabei zu bedeuten hatte, wußte er nicht, aber er erinnerte sich, daß sie eigentlich schon jedesmal dabei gewesen war, wenn die Ereignisse angefangen hatten, nur ihm sonderbar zu erscheinen, und ihn quälten, weil er hiefür keinen Grund wußte.
Und er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit ernstlich hierüber nachzudenken. Einstweilen gab er sich ganz dem aufregenden Schauer hin, der Basinis Wiedererscheinen voranging.
Beineberg hatte die Lampe aufgerichtet, und wieder schnitten die Strahlen einen Kreis in das Dunkel, wie einen...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2011 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Abgründe • Charakterstudie • Donaumonarchie • Gewalt • Homoerotik • Internat • Jugend • Macht • Militärdienst • Musil'sche Psychologie • Pubertät |
ISBN-10 | 3-644-43901-X / 364443901X |
ISBN-13 | 978-3-644-43901-6 / 9783644439016 |
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