Das Gleißen der Nacht (eBook)

Roman

(Autor)

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2011 | 1. Auflage
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401300-8 (ISBN)

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Das Gleißen der Nacht -  Sjón
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Im Winter bläst der Nordwind eisig über die Lavafelsen. Es herrscht Dunkelheit, als ob das Ende der Welt naht. Im Sommer sind die Nächte hell wie der Tag, und die Hügel duften am Morgen nach taufeuchtem Gras. Das ist Island um 1636, und dort lebt Jónas, der Gelehrte. Eigentlich will er nur durch die Welt streifen, noch gelehrter werden und Ungeheuer erlegen. Aber sein Wissen verschafft ihm Neider, die ihm das Leben schwer machen und ihn von einem Abenteuer ins andere treiben.

Mit 16 Jahren veröffentlicht Sjón seinen ersten Gedichtband. Es folgen Romane, Songtexte und Drehbücher. Seine Texte für Lars von Triers »Dancer in the Dark« wurden für den Oscar nominiert. Für »Schattenfuchs« erhielt er 2005 den Literaturpreis des Nordischen Rates. Sein Roman »Der Junge, den es nicht gab« wurde mit dem Isländischen Literaturpreis 2013 ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei S. FISCHER die Romonatrilogie »CoDex 1962« (2020).  

Mit 16 Jahren veröffentlicht Sjón seinen ersten Gedichtband. Es folgen Romane, Songtexte und Drehbücher. Seine Texte für Lars von Triers »Dancer in the Dark« wurden für den Oscar nominiert. Für »Schattenfuchs« erhielt er 2005 den Literaturpreis des Nordischen Rates. Sein Roman »Der Junge, den es nicht gab« wurde mit dem Isländischen Literaturpreis 2013 ausgezeichnet. Zuletzt erschien bei S. FISCHER die Romonatrilogie »CoDex 1962« (2020).   Betty Wahl übersetzt aus dem Isländischen und ist freie Dozentin für Alt- und Neuisländisch. Sie hat Autoren wie u.a. Sjón, Gyrðir Eliasson oder Jón Gnarr übersetzt und war 2011 an der Neuübersetzung der Isländersagas beteiligt. Dabei verlagerte sie ihren Lebensmittelpunkt allmählich in Richtung Island; heute lebt und arbeitet sie abwechselnd in Reykjavík und Frankfurt am Main.

II. (Sommersonnenwende 1636)


DEN WINTER üBER WAR ICH SO EINSAM wie Adam in seinem ersten Jahr im Paradies. Nur, dass diese Insel im Winter mit jenem wunderbaren Ort nicht das Geringste gemein hat. Kalt ist es hier und hart, außer um das Nachtgeschirr zu leeren geht man nicht vor die Tür, und selbst dann öffnet man sie nur einen Spalt, eben so weit, dass die Schüssel hindurchpasst. Wie ein elendes Mausetier in seinem Loch war ich, nicht wie ein Mensch, von Gott geschaffen nach seinem Bilde. Klein und geduckt wie die rättische Schwester der Maus, nicht stolz und aufrecht, den Blick in die Ferne gerichtet, wie Adam. Ja, groß und erhaben, so war Adam. Auf diese Weise hatte er die ganze Welt im Blick, denn er war größer und stattlicher als seine heute lebenden Nachfahren. Knapp dreißig maß er, in Metern angegeben, und das Haar auf seinem Kopf spross so üppig, dass seine Locken wie ein schäumender Wasserfall seine Lenden herabwallten. Er war das größte Menschenwesen, das Gott aus dem Erdreich geformt hatte, und sein massiger Körper brauchte das gesamte erste Sonnenjahr, um zu trocknen, auszuhärten und zu verwittern. Damals war alles auf dieser Erde neu und frisch, die Bäume ließen ihre Wurzeln sprießen, sie bedeckten sich mit Laub, warfen es wieder ab und standen zum ersten Mal kahl. Die Schwäne erhoben sich singend von den Seen auf der Hochebene und hörten zum ersten Mal ihre eigene Stimme. Die Lilie öffnete ihre Blüten und füllte die Luft zum ersten Mal mit ihrem Duft. Und die Hummel ließ sich auf dem Weidenröschen nieder und labte sich an dem hervorquellenden Honig, bevor sie sich summend zum nächsten Blütenkelch aufmachte. Das alles war nie zuvor geschehen. Alles war neu in den Augen des Menschen, wie auch er selbst in seinen Augen etwas vollkommen Neues war. Geknetet von der Hand des Meisters aus den vier Elementen, die sich im Weltenlehm verbinden, war er nun seinem Ursprung näher als jemals zuvor. Noch schwappte Meerwasser in seinem Blut, noch saßen ihm Steinchen im Fleisch, flochten sich Wurzelenden um seine Sehnen und Muskeln, und der Samen, der in seinen Hoden zum Leben erwachte, war zäh und elastisch wie Spinnenseide und wogte wie die aufgewühlte See. So wanderte er über den Erdball, und wo immer er hinsah, sah er bis an den Rand der Welt. Nachts wölbte sich über ihm der Sternenhimmel, eine lebende Bilderschau, blinkend und in stetiger Bewegung, und sein kindliches Auge versuchte sofort, die Lichtpunkte durch Linien zu verbinden, auf der Suche nach Gegenstücken zu dem, was ihm am Tage auf seinen Streifzügen begegnete. Dort war ein Schwan, ein Widder, eine Schlange. Tagsüber zog ein glühender Himmelskörper über ihn hinweg, der ihn verbrannte und austrocknete wie Lehm in einem Backofen. Doch zugleich trieb ihm die Sonnenglut den Schweiß aus den Poren. Am längsten Tag des ersten Erdenjahres erhitzte sich Adam so sehr, dass der Schweiß in Rinnsalen seinen riesenhaften Menschenleib hinunterrann. Das meiste davon versickerte jedoch in der goldblonden Mähne, die Adam von oben bis unten umhüllte, und um sich zu trocknen, schüttelte er sich, als hätte er es bei den Hunden abgeschaut – eins dieser Tiere hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihm zu folgen, wo er ging und stand – doch auf welchen Kunstgriff er auch immer verfiel, konnte er den Quellen seines Körpers doch keinen Einhalt gebieten. Adam beugte sich nach vorne und formte die Hände zu einer Schale, um die Flüssigkeit aufzufangen, die von seiner Stirn rann und wie Regenwasser von seinen Brauen tropfte. Er beobachtete, wie die Schale sich füllte, der salzige Pegel stieg rasch und hatte, ehe er sich versah, Daumen und Zeigefinger erreicht, doch einen Moment, bevor das Gewässer über die Ufer trat, blieb die Zeit stehen, und als Adam in seine Handflächen blickte, bot sich ihm ein seltsamer Anblick: sein Spiegelbild. Noch hatte ihn der Durst nicht an die Ufer der Seen getrieben, noch kannte er keinen Hunger, denn ein Jahr ist wie eine Stunde im Tag des ewigen Menschen. Und so hatte er auch diese Augen, die ihm aus der Lache entgegenstarrten, nie gesehen, kannte nicht das ebenmäßige, leuchtende Gesicht, das sie umrahmte, nicht die Nase, die sie voneinander trennte. Adam stieß einen Schrei aus und zog seine Hände erschreckt auseinander. Und als er wagte, noch einmal auf den Fleck zu starren, wo ihm das Antlitz erschienen war, waren da keine Augen mehr zu sehen, der Spiegel war in hundert feine Tröpfchen zerstoben, und trotz aller Versuche, den Schweiß aufs Neue in seiner hohlen Hand zu sammeln, bekam er keine glatte Oberfläche und kein zusammenhängendes Bild mehr zustande, so sehr zitterten seine Hände vor innerer Erregung. Schließlich gab er auf, verharrte reglos auf der Stelle und starrte mit leerem Blick vor sich hin, die Arme hingen schlaff und nutzlos an ihm herunter. Die Sonne stand nun tiefer am Himmel, sie brannte ihm nicht mehr auf den Hinterkopf, sondern wärmte seinen Nacken, von wo aus sie über die Schultern und seinen langen Rücken hinabkroch. Und in diesem Moment entdeckte er ein weiteres Wunderwerk – eine Erscheinung, der er wohl wenig Beachtung hätte zukommen lassen, hätte nicht seine Entdeckung vom Morgen ihm jene Möglichkeit vor Augen geführt, die sichtbare Welt könne mehr zu bieten haben als das, was wir vor uns sehen und für hieb- und stichfest halten, ja, denn nun zeichnete sich zwischen seinen Beinen etwas ab, das seinen Ursprung in ihm selbst zu haben schien. Zuerst hielt er es für eine dunkel schimmernde Wasserlache, wenn auch keineswegs so geformt, wie man es von einer solchen erwartet, und einen Moment lang glaubte er, dass auch diese Flüssigkeit aus seinem eigenen Körper strömte, doch während ihm der Sonnenfleck den Rücken hinunterkroch und sich wärmend auf seinem Steißbein niederließ, nahm die Erscheinung plötzlich seltsam bekannte Formen an: ein abgeflachter Kopf, breite Schultern, darunter ein schwerfälliger Körper mit langen Armen und kurzen Beinen. Adam wich zurück, denn das hier erinnerte ihn an die Affen, die den südlichen Teil des Paradiesgartens bevölkerten. Im Gegensatz zu den Hunden zollten sie ihm wenig Respekt, feixten und zogen Fratzen, sobald er sich näherte. Dabei wusste er nicht, dass diese verzerrten Halbmenschen vom Schöpfer selbst auf die Erde gesetzt worden waren, damit Adam sich, sollte er sich einmal zur Sünde verleiten lassen, in ihnen wiedererkannte. Noch aber lag der Tag in weiter Ferne, an dem sich in diesen Zerrgesichtern sein eigenes Antlitz spiegeln sollte, mit all seiner Eitelkeit, Missgunst und Wut, Trägheit, Habgier, Wollust und Völlerei. Und so verstand Adam, unschuldig wie er war, auch nicht den leisen Wink der Ironie, für ihn waren sie nichts als ein paar zottige Affenbiester, und er wunderte sich allenfalls, dass es solchen Wesen überhaupt zu existieren erlaubt war. Doch ebenso wie der erste Mensch war auch die Schattengestalt zurückgeschreckt, schlich ihm hinterher, verfolgte ihn, schien geradezu an seinen Fußsohlen festgenäht, und als er nach ihr greifen wollte, nachdem er sie vergeblich abzuschütteln und seine Füße von den ihren loszureißen versucht hatte, da war die Figur plötzlich gewachsen und hatte fast seine eigene Körpergröße erreicht. Schon oft hatte er, auf dem Rücken liegend, über seine Gliedmaßen gestrichen, über seine Oberarme bis auf den Handrücken hinunter und von dort über jeden einzelnen Finger bis zur Kuppe und zurück, und ebenso hatte er mit den Handflächen seine Schenkel erkundet, die Waden hinab, bis zu den Zehen – und weiter. So war Adam über die Formen und Umrisse seines Körpers recht gut im Bilde, und plötzlich erkannte er in dem dunklen Fleck, der da zwischen seinen Füßen Gestalt annahm, ein Wesen, das ihm selber glich. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er einsam war, und diese Einsamkeit schnitt tief in seine kindliche Seele: Alle um ihn herum schienen in trauter Zweisamkeit vereint, Löwe und Schaf, Echse und Schildkröte, im Wasser das Walross und der Furchenwal, der Heilbutt und der Lachs, alle zweimal, auch in der Luft gab es zwei Schwäne und zwei Adler, und auf einem Birkenzweig tummelte sich ein Schneeammernpärchen und sang von den Freuden des Ehelebens. Adam ließ seinen Blick über die weite Welt schweifen, konnte es sein, dass er seine andere Hälfte nur übersehen hatte? Nein, auf seinen Erkundungszügen hatte er unter jeden einzelnen Stein gespäht, in jede Felsspalte gegriffen und jedes Tangbüschel durchkämmt, nirgends war er auf irgendetwas gestoßen, was ihm selber ähnlich war. Und schon stieg die Enttäuschung in ihm auf, und damit eine sündige Undankbarkeit gegenüber dem Schöpfer, da fiel sein Blick erneut auf das Abbild am Boden, und ein noch stärkeres Gefühl nahm seinen Sinn gefangen – wie auch seinen Körper. Es verhielt sich also so: Wenn dieses Wesen durch seine Fußsohlen aus ihm heraussickern konnte, dann befand er sich wohl auf der Grenze zwischen Land und Meer, auf sandigem Boden, zerklüftet, aber dennoch weich und abgerundet. Dadurch hatte auch die Figur auf der Erde deutlich weichere Formen als sein eigener Körper, mit Dellen und Ausbuchtungen, die ihre Hüften und ihre Brust rundlich geschwungen erschienen ließen. Und so machte sich das Gefühl, das von ihm Besitz ergriffen hatte, jetzt auch in seinem Körper bemerkbar, die Extremität zwischen seinen Beinen schwoll an, hob sich und stand steil in die Luft, wie der ausgestreckte Arm eines Heerführers, der seine Armee mit einem »Auf, in den Sieg!« in die Schlacht treibt. Und widerstandslos folgte Adam dem Befehl seines stramm erhobenen Gliedes. Er warf sich über die Gestalt und stieß es ihr zwischen die Beine, grub es tief in Sand und Staub und presste sich darauf, bis der mächtige Samenschwall aus ihm...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2011
Übersetzer Betty Wahl
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 17. Jahrhundert • Abenteuer • Anspruchsvolle Literatur • Geysir • Island • Magie • Märchen • Monster • Mystik • Roman • Schelmenroman • Sjon • Ungeheuer
ISBN-10 3-10-401300-4 / 3104013004
ISBN-13 978-3-10-401300-8 / 9783104013008
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