Das Wüten der ganzen Welt (eBook)
416 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-95046-6 (ISBN)
Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maassluis, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich als freier Schriftsteller niederließ. 1997 erschien auf Deutsch sein Roman »Das Wüten der ganzen Welt«, der zu einem überragenden Erfolg wurde. Nicht zuletzt seine autobiografischen Werke machen ihn zu einem der renommiertesten europäischen Gegenwartsautoren, dessen Bücher sich allein im deutschsprachigen Raum über 2 Millionen Mal verkauft haben.
Maarten 't Hart, geboren 1944 in Maassluis, studierte Verhaltensbiologie, bevor er sich als Schriftsteller niederließ. 1997 erschien auf Deutsch sein Roman "Das Wüten der ganzen Welt", der zu einem überragenden Erfolg wurde. Nicht zuletzt seine autobiografischen Bücher machten ihn zu einem der renommiertesten europäischen Gegenwartsautoren, dessen Bücher sich allein im deutschsprachigen Raum über 2 Millionen Mal verkauft haben.
Prolog
Am Dienstag, 14. Mai 1940, legte ein Heringskutter nachmittags um halb fünf in einem Hafenstädtchen am Nieuwe Waterweg ab. An Bord waren sieben Mann Besatzung, ein »Prickenbeißer«1, eine Engländerin und drei jüdische Ehepaare. Eines der Ehepaare war nach der Kristallnacht aus Deutschland geflohen. Der Mann war ein begabter Geiger. Ein Vetter, selber Bratschist an der Rotterdamer Philharmonie, hatte ihm eine vorübergehende Anstellung bei diesem Orchester besorgt. Der Geiger war noch so jung, daß er, wie man in Rotterdam sagt, »gerade eben über seine Holzschuhe pinkeln kann, aber spielen, unglaublich… er kann seine Geige singen lassen wie eine Nachtigall, die mit Singfutter aufgezogen worden ist…« Bereits drei Wochen später bat ihn ein Gastdirigent, den grippekranken betagten Konzertmeister zu vertreten.
Die Frau des Geigers war noch jünger. Wer sie einmal gesehen hatte, vergaß sie nicht so leicht. Sie war groß und schlank, sie hatte langes dunkles Haar, sie hatte prachtvolle Zähne, sie hatte ein kleines, willensstarkes Kinn. Doch alles das war nichts gegen ihre hinreißende, tiefe, volle, ein wenig heisere Altstimme.
Als der geflohene Geiger am 10. Mai 1940 in aller Frühe durch die sonnigen Straßen von Rotterdam schlenderte und mit eigenen Augen sah, wie die Fallschirme jenseits des Flusses friedlich vom Himmel herabschwebten, beschloß er, nochmals zu fliehen. Seine Ehefrau wollte in den Niederlanden bleiben, sie wies auf seine guten Zukunftsaussichten hin.
»Schon bald wirst du Konzertmeister sein«, sagte sie am zweiten Pfingsttag.
»Man wird mich niemals offiziell zum Konzertmeister ernennen«, sagte er. »Dazu bin ich noch zu jung. Außerdem würden sich dann mindestens zehn erste Geiger übergangen fühlen. Nein, laß uns so schnell wie möglich nach England fliehen. Simon hat heute früh angerufen2. Er sagt, daß er einen Platz für uns auf einem Heringskutter wüßte. Der kann uns nach Harwich bringen.«
»Und dann? Dann stehen wir da mit unseren Koffern. Wir kennen niemanden. Was sollen wir dort machen?«
»Es kommen noch andere Freunde von Simon mit, die gute Kontakte in London zu haben scheinen. Sie würden sich um uns kümmern, hat Simon versprochen. Die Engländer lieben Musik…«
Sie ließ sich von ihm überreden. Am Dienstagmorgen, 14. Mai, kurz nach halb elf verließ ihr Zug den Bahnhof Delftse Poort. Dadurch entkamen sie dem Bombardement. Als sie am Nachmittag auf dem Waterweg fuhren, sahen sie die riesigen Rauchwolken. Damit war ihr jeder Zweifel genommen, ob es vernünftig sei, nochmals zu fliehen.
Wenige Stunden, bevor sie die trägen Rauchwolken gewahr wurden, waren sie an den hochgelegenen Mühlen von Schiedam entlanggefahren, vorbei an den Fischlagerhäusern von Vlaardingen und durch frische grüne Polder, die in der strahlenden Maisonne glänzten. In dem Hafenstädtchen wurden sie von dem Pharmazeuten Simon Minderhout abgeholt, der sich hier vor zwei Jahren als Apotheker niedergelassen hatte. Er versäumte kein einziges Konzert des Rotterdamer Philharmonischen Orchesters. Trotz seines jugendlichen Alters war er bereits im Vorstand des Orchesters. So hatte er das aus Deutschland geflohene Ehepaar kennengelernt. Er hatte sich mit dem Geiger angefreundet. Und nachdem er dessen Frau zum erstenmal gesehen hatte, habe ihm, wie er Jahre später erzählte, »sein Herz nicht in der Kehle, sondern dröhnend im rechten Ohr geklopft«. Immer wenn sie ihm zulächelte, schien es ihm, wie er später formulierte, »als schickte sie mich mit einer Balancierstange über den Waterweg«. Ging er kurz vor Kriegsbeginn in der Abenddämmerung zum Fluß hinunter, wunderte er sich, daß er sich ihr Gesicht nicht vorzustellen vermochte, während er gleichsam als schwachen Trost den salzigen Geruch des Flußwassers einsog.
Ganz selbstlos war seine Vermittlung bei diesem erneuten Fluchtversuch also nicht: »Wenn sie mir aus den Augen ist, wird sie mir wohl auch aus dem Herzen verschwinden«, hatte er bitter zu sich selbst gesagt, als er sich am zweiten Pfingsttag im Rasierspiegel betrachtete.
Minderhout kam aus Drenthe, hatte aber trotzdem schon persönliche Freunde in dem Hafenstädtchen. Nachdem er eines Samstagabends im Jahr 1939 die Witwe Vroombout, ohne daß eigens ein Arzt kommen mußte, bei einem Asthmaanfall vor dem Ersticken gerettet hatte, wurde er regelmäßig nach dem Kirchgang von der Witwe und ihren beiden Söhnen zu einer Tasse Kaffee und einem Schnaps eingeladen. An Winterabenden spielte er mit Willem Vroombout, dem Schiffer der »Majuba 2«, Dame. Mühelos wurde er von dem Fischer mit »Doppelopfern« und anderen trickreichen Zügen vom Brett gefegt. Danach spielte er mit Arend Vroombout, Matrose auf der »Majuba 2«. Gegen ihn gewann er nach einem meist nervenaufreibenden Endspiel, bei dem nur noch Damen auf dem Brett standen.
Am Samstag, 11. Mai, dem Samstag vor Pfingsten, war vlaggetjesdag3. Wären die Deutschen nicht am 10. Mai ins Land eingefallen, wäre die Heringsflotte am Dienstag, 14. Mai, ausgelaufen. Nach dem deutschen Überfall beschlossen die Reeder, die Heringsflotte im Hafen zu lassen. Da die Witwe Vroombout Eignerin der »Majuba 2« war, konnte Willem nach Rücksprache mit seiner Mutter selbst entscheiden, ob er ausfahren wollte oder nicht. Schon am Samstag, 11. Mai, beschloß er, doch zu fischen. Simon Minderhout erfuhr davon am ersten Pfingsttag bei der üblichen Tasse Kaffee nach dem Kirchgang.
Minderhout überlegte eine Weile. Als er seinen Schnaps vorgesetzt bekam, fragte er Willem, ob er eventuell bereit wäre, Flüchtlinge in Harwich oder Hull an Land zu setzen. Schiffer Vroombout nannte einen hohen Betrag; Minderhout meinte darauf, das sei zuviel, und halbierte den Preis. »Das ist ein Judenbakschisch«, sagte Willem Vroombout. Er fügte hinzu, daß er für einen solchen Spottpreis sein Schiff und seine Mannschaft nicht einem derartigen Risiko aussetzen könne. Woraufhin ihm Minderhout, der erst nach dem Krieg wirklich begriff, wie schrecklich es gewesen war, das Wort »Judenbakschisch« zu verwenden, vorschlug, für den zuerst genannten Betrag mehr Flüchtlinge mitzunehmen. Dem stimmte Vroombout zu. Minderhout telefonierte am Tag darauf frühmorgens zuerst mit einem jüdischen Studienfreund und danach mit dem Geiger. Und anschließend besuchte er in dem Hafenstädtchen noch ein jüdisches Ehepaar, von dem er wußte, daß beide Todesangst vor Hitler hatten. Außerdem ging er am zweiten Pfingsttag auch zu einer Engländerin, die in Hull einen niederländischen Lotsen kennengelernt hatte. Sie war in England mit dem Lotsen getraut worden. Anschließend war sie zu ihm in die Niederlande gekommen. Nach zwei Jahren war ihr Ehemann mit einem niederländischen Mädchen durchgebrannt. Seitdem erwähnte die Engländerin manchmal, daß sie plane, nach Hull zurückzukehren. »Das ist deine Chance«, sagte Minderhout. »Ja«, sagte sie.
Am Dienstag nachmittag, 14. Mai, standen die sieben Flüchtlinge an der Kade, dem Kai des Außenhafens. Sie stellten einander vor und gingen dann an Bord der »Majuba 2«.
»Am Samstag ist das Lotsenboot bei Schiedam auf eine Mine gelaufen«, sagte der Prickenbeißer auf dem Vordeck nervös.
»Ja, und zehn sind dabei ertrunken«, sagte Robbemond ruhig.
»Also, dann…«, fing der Prickenbeißer an.
»Warum gehst du nicht zu Muttern zurück, hier hält dich keiner, wir brauchen dich überhaupt nicht, wir fahren ja nicht auf Kabeljau oder Stockfisch«, sagte Robbemond.
Schiffer Vroombout kam hinzu. Er fragte: »Was ist los?«
»Unser Prickenbeißerchen hat Angst vor Minen«, sagte Robbemond.
»Ja, es scheint voll davon zu liegen«, sagte Vroombout.
»Meinst du, daß du sie umfahren kannst?« fragte Robbemond.
»Ich glaube schon«, sagte Vroombout, »die Minen liegen in der Fahrrinne. Wenn wir nah an Land kreuzen – und das geht, denn wir haben nicht geladen –, kann uns nichts passieren. Um halb fünf ist Flut, wir können also unterhalb von Rozenburg fahren.«
Sie fuhren an der Insel Rozenburg vorbei. Die Flüchtlinge starrten auf die blühenden Heckenrosen an der Deichböschung dieses Erdbeer- und Kartoffelparadieses, das erst später, in Friedenszeiten, vollständig zerstört werden sollte. Sie konnten von diesem Paradies nur den hohen Deich und die niedrigen Dächer der Häuser sehen, die auf der Landseite der Deichböschungen gebaut worden waren. Sie sogen die Luft des salzigen Wassers ein, sahen Schwärme von Uferläufern unter einem hellen, diesigen blauen Himmelsgewölbe. Deutsche Flugzeuge flogen über sie hinweg. Das Brummen der Motoren klang überraschend friedlich unter dem sonnigen, trügerisch sommerlichen Himmel.
Als sie auf offener See waren,...
Erscheint lt. Verlag | 4.10.2010 |
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Übersetzer | Marianne Holberg |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Het woeden der gehele wereld |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Bestseller • Bibel • Buch • Bücher • Dorf • Dorfleben • eBook • Erfahrungen • Fischerdorf • Holland • internationaler Bestseller • Klassische Musik • Krieg • Krimi • Krimihandlung • Lebensgeschichte • Mord • Mulisch • Musik • Mutter • Niederlande • Niederländisch • Nooteboom • Religion • Roman • SPIEGEL-Bestseller • Taschenbuch • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-492-95046-9 / 3492950469 |
ISBN-13 | 978-3-492-95046-6 / 9783492950466 |
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