Rotkehlchen (eBook)

Harry Holes dritter Fall

(Autor)

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2010 | 1. Auflage
464 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-548-92066-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rotkehlchen -  Jo Nesbø
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Als der norwegische Staatsschutz Hinweise auf ein geplantes Attentat auf den Thronfolger erhält, beginnt für Harry Hole ein Alptraum aus Lügen und Verrat. Die Spur der Verdächtigen führt in das dunkelste Kapitel norwegischer Vergangenheit: Eine Gruppe von Nazikollaborateuren hat im Untergrund ihr verhängnisvolles Netz gewoben und Harry sieht sich mit einem mörderischen Filz von Intrigen und Verblendung konfrontiert. Entdecken Sie auch MESSER, den neuen großen Kriminalroman um Kommissar Harry Hole!

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Jo Nesbø lebt in Oslo.

Jo Nesbø, 1960 geboren, ist Ökonom, Schriftsteller und Musiker. Er gehört zu den renommiertesten und erfolgreichsten Krimiautoren weltweit. Die Hollywood-Verfilmung seines Romans Schneemann wird von Martin Scorsese produziert. Jo Nesbø lebt in Oslo.

 

 

1942

 

9 Feuerschein erleuchtete den grauen Nachthimmel und ließ ihn wie eine schmutzige Zeltplane aussehen, die nach allen Richtungen über die trostlose, nackte Landschaft um sie herum gespannt worden war. Vielleicht hatten die Russen eine Offensive gestartet, vielleicht taten sie aber auch nur so, das wusste man immer erst hinterher. Gudbrand lag am Rand des Schützengrabens, er hatte die Beine unter sich gezogen, hielt das Gewehr mit beiden Händen und lauschte dem fernen, dumpfen Dröhnen, während er auf die herabsinkenden Lichtflecken starrte. Er wusste, dass er nicht ins Feuer schauen sollte, denn dann wurde man nachtblind und konnte die russischen Heckenschützen nicht sehen, die dort vorne im Niemandsland durch den Schnee robbten. Doch er konnte sie ohnehin nicht sehen, hatte nie auch nur einen einzigen gesehen, sondern bloß wie die anderen auf Befehl geschossen. Wie jetzt.

»Da liegt er!«

Das war Daniel Gudeson, der Einzige von ihnen, der in einer Stadt aufgewachsen war. Die anderen kamen aus ländlichen Gegenden, deren Ortsbezeichnungen auf -dal endeten. Es waren breite Täler und tiefe, schattige, menschenleere, so wie Gudbrands Heimat. Anders als bei Daniel. Daniel Gudeson mit der hohen, blanken Stirn, den funkelnden blauen Augen und dem strahlenden Lächeln. Er sah aus wie aus einem Werbeplakat ausgeschnitten. Er entstammte einem Ort mit Aussicht.

»Etwa zwei Meter, rechts vom Gebüsch«, sagte Daniel.

Gebüsch? Es gab hier in der zerbombten Landschaft doch keine Büsche. Oder vielleicht doch, denn die anderen schossen. Jede fünfte Kugel flog wie eine Feuerfliege in einer Parabel. Leuchtspurmunition. Die Kugel schoss ins Dunkel, schien dann aber plötzlich müde zu werden, denn sie wurde langsamer und landete einfach irgendwo dort draußen. So sah es jedenfalls aus. Gudbrand dachte, dass eine derart langsame Kugel unmöglich jemanden töten konnte.

»Er kommt davon!«, rief eine verbitterte, hasserfüllte Stimme. Das war Sindre Fauke. Sein Gesicht war über der Tarnuniform kaum zu erkennen und seine kleinen, eng zusammenstehenden Augen starrten ins Dunkel. Er stammte von einem abgelegenen Hof ganz oben im Gudbrandsdal. So blass wie er war, lag der Hof vermutlich in einem engen Seitental, in dem die Sonne nie den Boden erreichte. Gudbrand wusste nicht, warum sich Sindre als Frontkämpfer gemeldet hatte. Doch er hatte gehört, dass seine Eltern und seine beiden Brüder Anhänger der Nationalen Sammlung waren und dass sie dort zu Hause eine Binde um den Arm trugen und alle im Dorf denunzierten, die sie für Juden hielten. Daniel meinte, sie würden alle irgendwann selbst die Peitsche zu spüren bekommen, diese Denunzianten und Kriegsgewinnler, die nur auf ihren Vorteil bedacht waren.

»Nicht doch«, sagte Daniel leise, er hatte seine Wange an den Gewehrkolben gepresst. »Keiner dieser Scheißbolschewiken kommt davon!«

»Er hat erkannt, dass wir ihn gesehen haben«, knurrte Sindre. »Er zieht sich in die Senke zurück.«

»Nicht doch«, widersprach Daniel und zielte.

Gudbrand starrte in die grauweiße Finsternis. Weißer Schnee, weiße Tarnuniformen, weißer Feuerschein. Der Himmel wurde wieder erleuchtet. Schatten huschten über den verharschten Schnee. Gudbrand starrte wieder nach oben. Gelbe und rote Lichtreflexe am Horizont, gefolgt von entferntem Dröhnen. Das war ebenso unwirklich wie im Kino, nur dass es dreißig Grad unter null waren und es niemanden gab, um den man seinen Arm hätte legen können. Sollte es dieses Mal wirklich eine Offensive sein?

»Du bist zu langsam, Gudeson, der ist weg.« Sindre spuckte in den Schnee.

»Nicht doch«, sagte Daniel noch leiser und zielte und zielte. Dann: Ein hohes, heulendes Pfeifen, ein Warnschrei, und Gudbrand warf sich, die Hände über dem Kopf, auf den eisigen Boden des Schützengrabens. Die Erde erzitterte. Es regnete braune, steif gefrorene Erdklumpen, von denen einer auf Gudbrands Helm knallte, so dass er ihm über die Augen nach unten rutschte. Er wartete, bis er sich sicher war, dass nicht noch mehr vom Himmel kam, und schob seinen Helm zurecht. Es war ruhig geworden und ein feiner weißer Schneefilm klebte auf seinem Gesicht. Es hieß, dass man die Granate, die einen traf, nicht zu hören bekam, doch Gudbrand hatte oft genug gesehen, was pfeifende Granaten anrichten konnten, um zu wissen, dass das nicht stimmte. Ein neuerlicher Feuerschein erhellte den Schützengraben, und er sah die weißen Gesichter der anderen und ihre Schatten, die am Rand des Schützengrabens auf ihn zuzukriechen schienen, als das Licht verlosch. Doch wo war Daniel?

»Daniel!«

»Ich hab ihn erwischt«, sagte Daniel. Er lag noch immer oben auf dem Rand des Schützengrabens. Gudbrand traute seinen Ohren nicht.

»Was sagst du da?«

Daniel ließ sich in den Graben gleiten und schüttelte Schnee und Erdklumpen ab. Er grinste breit.

»Keiner dieser Scheißrussen wird heute Abend einen unserer Kundschafter erschießen. Tormod ist gerächt.« Er drückte seine Hacken in die Wand des Schützengrabens, um nicht auf dem Eis auszurutschen.

»Vergiss es!« Das war Sindre. »Vergiss es, du hast ihn nicht getroffen, Gudeson. Ich hab gesehen, wie der Russe da in der Senke verschwunden ist.«

Seine kleinen Augen huschten vom einen zum anderen, wie um zu fragen, ob wirklich jemand von ihnen Daniels Prahlereien glaubte.

»Stimmt«, sagte Daniel. »Aber in zwei Stunden wird es hell, und der wusste, dass er bis dahin verschwunden sein musste.«

»Exakt, und das hat er ein bisschen zu früh versucht, nicht wahr, Daniel«, beeilte sich Gudbrand zu sagen. »Er ist auf der anderen Seite wieder hochgeklettert, nicht wahr, Daniel?«

»Früh oder nicht früh«, grinste Daniel. »Ich hätte ihn so oder so gekriegt.«

»Jetzt halt aber deine prahlerische Klappe, Gudeson«, fauchte Sindre.

Daniel zuckte mit den Schultern und überprüfte das Magazin. Dann drehte er sich um, hängte sich das Gewehr über die Schulter, trat mit dem Stiefel in die gefrorene Wand des Grabens und schwang sich nach oben.

»Gib mir deinen Spaten, Gudbrand.«

Daniel nahm den Spaten entgegen und stand auf. In der weißen Winteruniform zeichnete sich seine Silhouette vor dem schwarzen Himmel und den Lichtflecken ab, die sich wie ein Heiligenschein um seinen Kopf legten.

Er sieht aus wie ein Engel, dachte Gudbrand.

»Was, zum Teufel, hast du vor, Mann?«, rief Edvard Mosken, ihr Unteroffizier. Der besonnene Mjøndaler erhob selten seine Stimme, wenn es um solche alten Hasen wie Daniel, Sindre oder Gudbrand ging. Es waren meistens die Neuankömmlinge, die von ihm zurechtgewiesen wurden, wenn sie Fehler machten. Die Standpauken, die sie erhielten, hatten schon manch einem das Leben gerettet. Jetzt starrte Edvard Mosken mit seinem einen aufgerissenen Auge, das er nie schloss, zu Daniel empor. Nicht einmal im Schlaf schloss er dieses Auge, das hatte Gudbrand selbst gesehen.

»Komm in die Deckung, Gudeson«, rief der Unteroffizier.

Doch Daniel lächelte bloß und war im nächsten Augenblick verschwunden; nur sein weißer Atem blieb noch ein paar Sekunden lang über ihnen hängen. Dann verlosch der Lichtschein am Himmel wieder und es wurde dunkel.

»Gudeson!«, rief Edvard und kletterte auf den Rand. »Verdammt!«

»Kannst du ihn sehen?«, fragte Gudbrand.

»Wie vom Erdboden verschluckt.«

»Was wollte er denn mit dem Spaten?«, fragte Sindre und sah Gudbrand an.

»Keine Ahnung«, erwiderte Gudbrand. »Vielleicht will er den Stacheldraht durchbrechen.«

»Wofür soll das denn gut sein?«

»Was weiß ich.«

Gudbrand mochte Sindres stechenden Blick nicht, da er ihn an einen anderen Bauern in der Kompanie erinnerte, der irgendwann verrückt geworden war und eines Nachts in seine Schuhe gepinkelt hatte, ehe er Wache hatte. Man hatte ihm alle Zehen amputieren müssen. Aber der war jetzt in Norwegen, vielleicht war er doch nicht ganz so verrückt gewesen. Er hatte jedenfalls genauso einen stechenden Blick gehabt.

»Vielleicht macht er einen Spaziergang im Niemandsland«, spottete Gudbrand.

»Ich weiß, was auf der anderen Seite des Stacheldrahtes ist, und frage mich, verdammt noch mal, was er da will.«

»Vielleicht hat ihn die Granate am Kopf getroffen«, meinte Hallgrim Dale. »Vielleicht ist er durchgedreht.«

Hallgrim Dale war der Jüngste von ihnen, er war gerade erst achtzehn Jahre alt. Keiner wusste, warum er sich gemeldet hatte. Abenteuerlust, glaubte Gudbrand. Dale behauptete, er bewundere Hitler, aber er hatte keine Ahnung von Politik. Daniel meinte zu wissen, Dale sei einem geschwängerten Mädchen davongelaufen.

»Wenn der Russe noch lebt, wird Gudeson erschossen, ehe er fünfzig Meter weit gekommen ist«, verkündete Edvard Mosken.

»Daniel hat ihn getroffen«, flüsterte Gudbrand.

»Dann wird er von einem der anderen erschossen«, beharrte Edvard, schob seine Hände in die Tarnjacke und fischte eine dünne Zigarette aus der Brusttasche. »Es wimmelt heute Nacht von denen da draußen.«

Er hielt das Streichholz versteckt in der Hand, als er es gegen die Schachtel schlug. Das Schwefelköpfchen entzündete sich beim zweiten Versuch, und es gelang Edvard, die Zigarette anzuzünden. Wortlos sog er einmal tief den Rauch ein und reichte sie weiter. Alle nahmen schnell einen Zug und gaben sie dann an den Nächsten weiter. Niemand sagte ein Wort, sie schienen in ihre Gedanken versunken zu sein; doch Gudbrand wusste, dass sie lauschten – so wie er.

Es vergingen zehn Minuten, ohne dass sie etwas hörten.

»Wahrscheinlich bombardieren sie den Ladogasee von den Flugzeugen aus«, sagte Hallgrim Dale.

Sie alle hatten die Gerüchte...

Erscheint lt. Verlag 8.9.2010
Reihe/Serie Ein Harry-Hole-Krimi
Ein Harry-Hole-Krimi
Übersetzer Günther Frauenlob
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Adler-Olsen • Drogen • Durst • Harry Hole • Hjorth • Kommissar • Königshaus • Krimi • Kriminalroman • Lisbeth Salander • Mörder • Norwegen • Oslo • Profiler • Profiling • Psychologe • Sebastian Bergman • Serienkiller • Serienmord • Serienmörder • simon beckett • Skandinavien • Spannung • Stieg Larsson • Thriller • Vergewaltigung
ISBN-10 3-548-92066-7 / 3548920667
ISBN-13 978-3-548-92066-5 / 9783548920665
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