Identifikation und Empowerment (eBook)
224 Seiten
Verlag Klaus Wagenbach
978-3-8031-4404-1 (ISBN)
Wolfgang Ullrich, geboren 1967 in München, studierte dort ab 1986 Philosophie, Kunstgeschichte, Logik/Wissenschaftstheorie und Germanistik. 1994 promovierte er mit einer Dissertation über das Spätwerk und Ereignis-Denken Martin Heideggers. Neben Lehraufträgen an verschiedenen Hochschulen war er von 1997-2003 als Assistent am Institut für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in München, 2003/04 war er Gastprofessor für Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Seine Professur für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, die er seit 2006 innehatte, legte er 2015 nieder. Seither lebt er als freier Autor in Leipzig. Zahlreiche Publikationen, insbesondere zur Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, über moderne Bildwelten sowie Wohlstandsphänomene. Er ist Mitherausgeber der Reihe DIGITALE BILDKULTUREN.
Wolfgang Ullrich, geboren 1967 in München, studierte dort ab 1986 Philosophie, Kunstgeschichte, Logik/Wissenschaftstheorie und Germanistik. 1994 promovierte er mit einer Dissertation über das Spätwerk und Ereignis-Denken Martin Heideggers. Neben Lehraufträgen an verschiedenen Hochschulen war er von 1997–2003 als Assistent am Institut für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in München, 2003/04 war er Gastprofessor für Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Seine Professur für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, die er seit 2006 innehatte, legte er 2015 nieder. Seither lebt er als freier Autor in Leipzig. Zahlreiche Publikationen, insbesondere zur Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, über moderne Bildwelten sowie Wohlstandsphänomene. Er ist Mitherausgeber der Reihe DIGITALE BILDKULTUREN.
Wenn wir schon dabei sind, über die Kunst als »Treiber für Adelsstolz und Reproduktionsehrgeiz« zu sprechen, wie Sie das in Ihrem Buch nennen, dann sollten wir aber auch noch andere, gerade in der höfischen Welt beliebte Spielarten identifikatorischer Bezugnahme auf Bilder erwähnen.
Ja, identifikatorische Praktiken gegenüber Bildern konnten etwa aus der Überzeugung erwachsen, dass diese sich einem einprägen und dadurch weiterwirken – sogar über eine bloß psychisch-emotionale Beeinflussung hinaus. Vor allem die weibliche Einbildungskraft hielt man – und das über Jahrhunderte hinweg! – für so empfänglich, dass man glaubte, die Bilder, die eine Frau während ihrer Schwangerschaft intensiv rezipiert, würden sich auf Aussehen und Charakter des Embryos auswirken.159 Das aber hieß, dass adlige Frauen sich in Vorbereitung auf ihren Nachwuchs vermehrt in Ahnengalerien aufhalten und allgemein Bilder von Familienangehörigen sowie von berühmten Menschen oder Heroen betrachten sollten. Durch Identifikation mit dem, was sie auf den Bildern sahen, konnten sie, so die damals übliche medizinische Lehrmeinung, ihren Nachwuchs positiv beeinflussen. Bilder waren daher wesentlicher Teil einer auf Fortpflanzungsoptimierung ausgerichteten Diätetik; mit ihnen betrieb man nicht nur mentales Empowerment, sondern bemühte sich zudem zielgerichtet um eine Steigerung physischer Qualitäten des Nachwuchses – um ›imitatio et aemulatio‹ bei der Fortsetzung der Arbeit am eigenen Stammbaum. Wenn ein Nachkomme seinen Vorfahren besonders ähnlich sah oder sich als überdurchschnittlich begabt erwies, wurde das auch als Verdienst eines Künstlers gewertet, der ein offenbar vorteilhaftes Porträt eines Familienmitglieds gemalt und die Mutter damit vergleichbar stark imprägniert hatte wie der Vater mit seinem Samen.
Der Reproduktionsehrgeiz des Adels und der Glaube an die Rolle der weiblichen Einbildungskraft versetzten Künstler also in die Position der eigentlichen Schöpfer und Garanten des jeweiligen Familien-Designs. Und wenn Rubens am Spanischen Hof Tizian-Porträts von Karl V. und Philipp II. kopierte, dann vielleicht sogar mit dem zusätzlichen Zweck, über die Gemälde umso lebendigere Vorbilder für die Reproduktion der nächsten Generation zur Verfügung zu stellen. Gerade am Spanischen Hof war man in dieser Hinsicht schon früher ambitioniert. Nachdem Philipp II. 1560 die damals 14-jährige Elisabeth von Valois geheiratet hatte, wurde etwa eigens die italienische Malerin Sofonisba Anguissola eingestellt. Sie sollte sich – im Sinne einer solchen fortpflanzungsorientierten Diätetik – um die musische Bildung der jungen Königin kümmern: vor allem darum, dass diese das Porträtieren lernte. Statt Bilder nur zu betrachten, sollte sie sich diese durch das Zeichnen umso mehr einprägen. Und dass sie insbesondere Porträts ihres Gatten anfertigen sollte, dessen Bildnis sie zudem in Form eines Amuletts immer bei sich hatte, verstand sich von selbst. Auf diese Weise wollte man sicherstellen, dass sich typische Eigenschaften der Habsburger, auch deren markante Physiognomie – mit der geradezu als Markenzeichen fungierenden Lippe –, vererbten und verstärkten.
Das klingt geradezu unglaublich …
… entspricht aber den historischen Tatsachen. Hinter Praktiken wie den gerade erwähnten standen ausgefeilte Wahrnehmungstheorien, durch die es etwa plausibel wurde, dass man mit dem, was man sieht, in einen Stoffwechselprozess eintritt, Bilder also wie eine Speise zu sich nehmen und mal besser, mal schlechter vertragen kann. Deshalb war besondere Vorsicht geboten, welchen Sinnesreizen und Bildern man sich aussetzte, und während manche so intensiv wie möglich aufgenommen werden sollten, versuchte man sich von anderen fernzuhalten. Den emphatisch-identifikatorischen Rezeptionsformen standen somit – neben den schon angesprochenen ikonoklastischen Verhaltensweisen – Techniken der Distanznahme gegenüber. Anders als bei autonomer Kunst, in der die Werke ihrerseits Betrachter:innen auf Distanz halten, mussten diejenigen, die sich vor eventuellen Schädigungen durch Bilder schützen wollten, aber selbst darauf achten, diszipliniert mit identifikatorischen Versuchungen umzugehen und ihre Art der Rezeption streng zu regulieren.
Was konnte denn passieren, wenn man beim Umgang mit Bildern nicht vorsichtig genug war?
Schwangeren Frauen prophezeite man Fehlbildungen bei ihrem Embryo, wenn sie über einen Anblick erschraken oder von Hässlichem, Disharmonischem umgeben waren. Jenseits dessen glaubte man etwa daran, dass sich Krankheiten durch Bilder übertragen oder von ihnen ausgelöst werden könnten. Interessant aus heutiger Perspektive ist, dass sich damals bereits die bis heute nachwirkende Hierarchisierung zwischen identifikatorischen und distanzierenden Rezeptionsmodi abzeichnete, es also Tendenzen gab, Letztere als feiner, kultivierter, höherwertig zu deklarieren.
Auch dafür haben Sie in Ihrem Buch ein Beispiel.
Fast zur selben Zeit, als Rubens in Madrid Tizian kopierte, malte Nicolas Poussin in Rom eine Szene aus dem Alten Testament: »Die Pest von Ashdod«, ein Bild, auf dem er eindrücklich vor Augen stellt, wie die Philister, die den Israeliten die Bundeslade gestohlen hatten, zur Strafe von der Seuche heimgesucht werden. [Abb. 29] Auf einem städtischen Platz leiden und sterben sie, ihre Leichen werden abtransportiert. In anderen Teilen Italiens wütete im Jahr 1630 tatsächlich gerade die Pest, und Poussins Themenwahl kann in diesem Kontext nur als verwegen und risikofreudig bezeichnet werden. Denn unter Medizinern der Zeit war weithin unstrittig, dass drastische Darstellungen einer Seuche zu deren weiterer Verbreitung beitragen. Bei denjenigen, die sich entsprechende Bilder zu Gemüte führten, würden Ängste gefördert, was das körperliche Gleichgewicht stören und die Betreffenden anfälliger für die Krankheit machen könne. Manche glaubten sogar, diese könne durch eine stark getriggerte Einbildungskraft überhaupt erst hervorgerufen werden. Ein großes und affizierendes Gemälde von der Pest zu malen, während diese ohnehin grassierte, musste also geradezu als gemeingefährlich gelten.160 War Poussin aber wirklich so leichtsinnig oder gar gewissenlos? Nein, eher ist das Gegenteil zu vermuten, und dem Gemälde dürfte eine moralisierende Haltung zugrunde liegen.
Abb. 29 Nicolas Poussin: Die Pest von Ashdod, Öl auf Leinwand, 148 x 198 cm (1630)
Einerseits verleitete Poussin das Publikum dazu, sich voller Mitleid mit den Pestopfern zu identifizieren, und ließ sich dafür rührselige, geradezu herzzerreißende Szenen einfallen. So sieht man etwa einen Mann, der gerade einen Säugling von der Brust der sterbenden Mutter entfernt, um ihn vor Ansteckung zu schützen. Zudem sparte Poussin nicht mit affizierenden Sujets, lockt also etwa mit den nackten Brüsten der sterbenden Mutter im Vordergrund. Wer sich davon verführen ließ und jegliche Distanz zum Bildgeschehen verlor, identifizierte sich aber nicht nur sträflicherweise mit den verachtenswerten Philistern, sondern lief auch Gefahr, so stark vom gezeigten dramatischen Geschehen erregt zu werden, dass das die eigene Gesundheit gefährdete. Identifikation führt zu Infektion – so könnte man diese Bildlogik aus damaliger Sicht auf eine Formel bringen.
Andererseits jedoch legte Poussin sein Gemälde ziemlich artifiziell an. Die Architektur erinnert an ein Bühnenbild aus dem Theater, und die Komposition ist so verdichtet, dass jede einzelne Szene zwar realistisch sein mag, in der Summe aber zu viel Drama auf einmal gezeigt wird, um vergessen zu können, dass man es mit einem Kunstwerk zu tun hat. Wer zumindest ein wenig Gespür für Kunst hat, wird deshalb darauf achten, wie genau der Künstler sein Werk angelegt und umgesetzt hat. Allein damit aber schafft man Distanz zwischen sich und dem Bildgeschehen. Und ist die erst einmal erreicht, kann man die einzelnen Szenen geradezu genießen; man wird ihre Dramatik zwar immer noch spüren, kann jeden starken Affekt aber auch eigens als solchen erleben, ihn damit gleichsam isoliert wahrnehmen und sich so davon befreien. Und man erlebt, was seit Aristoteles als kathartische Wirkung von Kunst gewürdigt wurde. Vielleicht ging Poussin sogar so weit, eine derart distanzierte Rezeption seines Gemäldes als Übung gegen gefährliche Emotionen und damit als Prophylaxe gegen mögliche Krankheit anzusehen.
Das aber heißt: Poussins Gemälde sollte für verführbare, religiös wankelmütige und gegenüber Kunst unsensible Menschen tatsächlich gefährlich sein, anderen hingegen sogar noch Schutz gegen die drohende Seuche bieten. Und was könnte moralisierender sein als ein solches Bildkonzept, mit dem, plakativ gesprochen, den Guten genützt und den Schlechten geschadet werden soll? Jedenfalls hat Poussin die Kunst wie ein unterschiedlich benutzbares Instrument eingesetzt und mit demselben Werk zwei gegenläufige Wirkabsichten verfolgt.
Das erinnert mich an das, was Sie vorhin über Jeff Koons sagten, der seine Werke auf zumindest zwei unterschiedliche Arten der Rezeption hin angelegt habe.
Gut, dass Sie das noch mal ansprechen. Denn bei Koons zeigte sich ja umgekehrt Sympathie für diejenigen, die Arbeiten wie »Balloon Dog« identifikatorisch aufnehmen, sogar das Bestreben, Motive so zu wählen, dass möglichst viele Menschen sich damit identifizieren können. Da gibt es keinen erhobenen Zeigefinger, es droht kein Schaden, wenn man sich darauf einlässt und etwa anfängt, selbst Hündchen zu malen oder zu basteln. Seinem eigenen Anspruch folgend,...
Erscheint lt. Verlag | 19.9.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Malerei / Plastik |
Schlagworte | Antidiskriminierung • Autonomie • Black Rights Movement • Bürgerrechte • cancel culture • Debatte • Documenta • Empowerment • Feedback • Identifikatorisch • Kulturkampf • Kunst • Kunstautonomie • Kunstsoziologie • Kunstwissenschaft • letzte Generation • Moderne Kunst • Motivation • Neoliberalismus • Post autonom • Rezeption • Sasha Velour • Social Media • Soziale Gerechtigkeit • Soziale Medien • Triggerpunkte • vormoderne Kunst • Wokeness |
ISBN-10 | 3-8031-4404-3 / 3803144043 |
ISBN-13 | 978-3-8031-4404-1 / 9783803144041 |
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